Nicht-epische Gattungen der Versdichtung (Bukolik, Elegie, Epithalamium, Epigramm, Lyrik, Lehrgedicht)

Autor(en): Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 26.08.2023.

  1. Bukolische Dichtung
  2. Elegie
  3. Epithalamien
  4. Epigramm
  5. Lyrische Dichtung
  6. Lehrgedichte

 

1. Bukolische Dichtung

«Die Bukolik (Hirtendichtung) ist einer der reizvollsten und geheimnisvollsten Zweige der Poesie, auch einer der widersprüchlichsten.» Im Folgenden sollen dennoch möglichst kurz und präzise die Geschichte und die Merkmale dieser Gattung skizziert werden, deren Gedichte (von den Römern «Eklogen» genannt) sich durch weit mehr Kunstfertigkeit und gedankliche Komplexität auszeichnen als die ihr inhärente poetische Fiktion, es handle sich um Hirtengesänge, vermuten liesse. Die folgende Darstellung beansprucht keine Vollständigkeit, sondern soll Orientierung bieten; weiterführende, zu einem vollständigen Bild hinführende Hinweise finden sich in der Bibliographie. Dieser Hinweis gilt jeweils auch für die anderen Einführungen zu den nicht-epischen Gattungen der Versdichtung.

Die Bukolik ist eine literarische Erfindung des hellenistischen Dichters Theokrit, eines gebürtigen Syrakusaners (ca. 300-260 v. Chr.), der auch schon den in dieser Gattung fortan üblichen Hexameter verwendet. Seine Idyllen spielen im Umfeld des ländlichen Siziliens, dessen Alltagsleben freilich eher idealisiert wiedergegeben wird (dass in ihnen der dorische Dialekt viel Raum erhält, verstärkt ihre rustikale Ausstrahlung). Freilich sind nicht alle unter Theokrits Namen überlieferten 32 Idyllen wirklich von ihm. Es handelt sich um in der Mehrzahl hexametrische, in der Regel dramatisch geformte Gedichte, in denen die Gespräche und Gesänge sizilischer Hirten wiedergegeben werden. Das Singen hat dabei typischerweise den Charakter eines Wettkampfes zwischen den vortragenden Hirten. Erotische Themen (Liebesleid und Liebesfreude) spielen darin eine grosse Rolle, aber es gibt auch die Trauer um einen toten Hirten (1. Idyll) oder den Auftritt einer Frau, die sich an einem Liebeszauber versucht (2. Idyll), Herrscherlob und poetologische Reflexionen. Manche der bei Theokrit auftretenden Hirtennamen sind fortan Teil des Gattungsrepertoires geblieben (Daphnis, Menalkas etc.). Bewahrt Theokrit zu seinen Hirten eine gewisse ironische Distanz, so spricht aus seinen griechischen Nachfolgern – z. B. Moschos (2. Jh. v. Chr.) und Bion – eine sentimentale Verklärung des Landlebens. Der kaiserzeitliche Hirtenroman Daphnis und Chloe des Longus (ca. 2. Jh. n. Chr.) übernahm bukolische Motive in eine Prosagattung.

Der römische Dichter Vergil (70-19 v. Chr.) transferierte mit seinen insgesamt zehn Eklogen bzw. Bucolica die Gattung als erster in die lateinische Sprache und wies ihr zugleich thematisch neue Wege. Er versetzte – eine folgenreiche Entscheidung für die europäische Dichtung – seine Hirten nach Arkadien, eine mythische Landschaft, die sicher von der gleichnamigen griechischen Region inspiriert, aber keineswegs mit ihr gleichzusetzen ist. Thematisch ergänzte er das theokritische Repertoire um prophetische, kosmologische und politische Themen (letztere in allegorischer Umhüllung); so thematisiert er in den Gesprächen seiner Hirten dunkle Ereignisse seiner Gegenwart (Landvertreibung), preist zugleich aber auch den Augustus und schlägt in der vierten Ekloge messianische Töne an – eine Zeitenwende stehe bevor, die mit der Geburt eines Kindes verbunden sei, unter dessen Herrschaft der Frieden auf die Welt wiederkehren werde –, die christliche Leser später in ihrem Sinne als Hinweis auf die Geburt des Erlösers Jesus Christus deuteten. Die bei Theokrit durchaus vorhandenen Derbheiten versagte sich Vergil dafür. Er nimmt selbst gleich zu Beginn seines Werks poetologische Einordnung der bukolischen Gattung vor, indem er einen seiner Hirten einen anderen so anreden lässt (ecl. 1,1-2):

Tityre, tu patulae recubans sub tegmine fagi,
Silvestrem tenui musam meditaris avena.

Tityrus, du liegst zurückgelehnt unter dem Blätterdach der ihr Gezweig ausbreitenden Buche
Und sinnst darüber nach, mit einer zarten Rohrflöte ein ländliches Lied anzustimmen.

Der antike Grammatiker Servius kommentierte dies zu Recht so (ed. Thilo, p. 5):

Dicendo autem «tenuis avena», stili genus humilis latenter ostendit, quo, ut supra dictum est, in bucolicis utitur.

Indem er von einer «zarten Rohrflöte» spricht, weist er indirekt auf den niedrigen Stil hin, dessen er sich, wie oben gesagt in den Bucolica bedient.

Diese für die weitere Gattungsgeschichte bindenden Einschätzungen dürfen freilich nicht dazu verführen, die Eklogen Vergils zu unterschätzen, bei denen es sich um melodische Sprachkunstwerke von höchstem Rang handelt, die man zu den Basisdokumenten der abendländischen Dichtkunst zählen darf. Aus neronischer Zeit sind uns die sieben Eklogen des Calpurnius Siculus und die beiden nach ihrem Auffindungsort benannten, anonym überlieferten Einsiedler Gedichte (Einsiedeln, Stiftsbibliothek, cod. 266 [1296], p. 206-207) erhalten, aus dem 3. Jh. die Eklogen des Nemesian. Unter den spätantiken christlichen Autoren ist als den traditionellen Mustern folgender Eklogendichter Endelechius zu nennen. Bukolische Elemente finden sich im Übrigen auch in Dichtungen, die formal anderen Gattungen zuzuordnen sind (wie den Liebeselegien des Tibull in augusteischer Zeit oder in der christlichen Spätantike in den Natalicia des Paulinus von Nola, einem über mehrere Jahre hinweg entstandenen Gedichtzyklus zum Festtag des heiligen Felix von Nola).

Eine starke Rezeption erfuhr die Gattung in der Karolingerzeit, wobei besonders die beiden Eklogen des Autuner Bischofs Moduin zu nennen sind.

 

Humanismus

Der Beginn der humanistischen Bukolik ist mit dem Namen Dante Alighieris (1263-1321) verknüpft, der 1319 eine Ekloge an Giovanni del Virgilio adressierte, in der er sich in verschlüsselter Form zu literarischen Fragen äussert. Giovanni del Virgilio griff dieses Vorbild auf und verfasste später selbst eine Ekloge in Epistelform. Petrarca (1304-1374) verfasste einen Zyklus von insgesamt zwölf Eklogen, und auch Boccaccio (1313-1375) lieferte einen Gattungsbeitrag; von einer Auflistung aller weiteren italienischen Renaissancedichter, die sich auf dem Feld der Hirtendichtung betätigten (darunter unvermeidbare Namen wie Enea Silvio Piccolomini, Giovanni Pontano und Publius Faustus Andrelinus) können wir uns hier dispensieren.

Im deutschen Sprachraum, der uns auf diesem Portal besonders zu interessieren hat, beginnt die Geschichte der neulateinischen Bukolik mit Bartholomeus Coloniensis (Bartholomäus Zehender, 1460-1516); weitere prominente Namen sind (auch hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit) Helius Eobanus Hessus (1488-1540), Euricius Cordus (1486-1535) und Petrus Lotichius Secundus (1528-1560). Auch der junge Erasmus von Rotterdam (1466-1536) versuchte sich als junger Mann an dieser Gattung.

Einen beispielhaften Überblick über die neulateinische Eklogenproduktion bietet die 1546 bei Johannes Oporin in Basel erschienene Anthologie Bucolicorum autores XXXVIII [...]. Farrago quidem eclogarum CLVI, die auf 799 Seiten neben antiken Texten von Calpurnius, Nemesianus und Ausonius auch zahlreiche Beispiele für humanistische Eklogen bietet; die aufgenommenen neuzeitlichen Autoren stammen aus Italien (18 Autoren), Frankreich (sechs), den Niederlanden (zwei) und Deutschland (acht). Als allgemeine Beobachtung lässt sich festhalten, dass die bereits bei Vergil greifbare Tendenz zur «Schlüsseldichtung» (das heisst die Verkleidung zeitgenössischer Entwicklungen und Personen im Hirtengewande) in der Bukolik der Renaissancezeit fortgesetzt wurde. Es muss abschliessend darauf hingewiesen werden, dass sich über die Gesamtzahl der neulateinischen Eklogendichter im deutschsprachigen Raum mangels entsprechender Forschungen keine genaue Angabe machen lässt; doch auch wenn es sicher eine beträchtliche Dunkelziffer an Gelegenheitswerken gibt, dürften die künstlerisch wertvollen Vertreter dieser Gattung literarhistorisch erfasst sein.

 

Eklogen Schweizer Humanisten

Da die im Folgenden genannten Titel auf diesem Portal präsentiert werden, wird hier ihr Inhalt nur kurz skizziert und für weiterführende Informationen auf die jeweils verlinkte Präsentation verwiesen.

Vadian, Faustus1517 veröffentlichte Vadian in Wien eine Ekloge mit dem Titel Faustus, in der er in allegorischer Kodierung ein wichtiges Ereignis seiner akademischen Karriere darstellt: seine 1516 erfolgte Berufung auf den Poetiklehrstuhl der Universität Wien. Das Gedicht stellt sich auch als Herrscherlob dar, da in einem bewussten Anschluss an die erste Ekloge Vergils mit ihrem verschlüsselten Lobpreis des Augustus die Rolle Kaiser Maximilians I. für Vadians Karriere hervorgehoben wird.

Fabricius Montanus, Trauerekloge Orion. Fabricius Montanus griff auf die bukolische Gattung zurück, um in einer Ekloge mit dem Titel Orion seiner Trauer über den frühen Tod seiner ersten Frau (1548) Ausdruck zu verleihen, die starke Anklänge an Vergil, aber auch an bukolische Autoren der italienischen Renaissance zeigt.

Simon Lemnius, Eklogen. Der Bündner Humanist und poeta Simon Lemnius, in mancherlei Hinsicht ein Sonderfall unter den auf diesem Portal präsentierten Humanisten, ist mit seinen 1550 posthum erschienenen fünf Eklogen der einzige unter den hier vorgestellten Autoren, der eine ganze Sammlung mit bukolischen Gedichten veröffentlicht hat. Die Sammlung zeichnet sich durch Churer Lokalbezüge aus (beeindruckend ist vor allem, wie Lemnius darin die Pestepidemie des Jahres 1550 verarbeitet); daneben gibt es eine unübersehbare Tendenz zur (allegorisch verschlüsselten) Verherrlichung der französischen Monarchie in Gestalt einiger konkreter Repräsentanten wie des verstorbenen Königs Franz I. und der französischen Repräsentanten bei den Eidgenossen und bei den Drei Bünden. Die Hoffnung auf besondere Förderung, die der Dichter mit derlei Huldigungen wohl verband, wurde durch seinen frühen Tod zunichte gemacht. Die Sammlung verrät beste Kenntnis der antiken Tradition und italienischer Autoren der Renaissancezeit.

 

Texte mit bukolischen Anklängen

Der Einfluss der bukolischen Dichtung wird auch in Werken deutlich, die formal anderen Gattungen angehören. Heinrich Glarean kommt in seinem Hodoeporicon, einem autobiographischen Gedicht über eine Reise aus seinem Studienort Köln in seine Heimat Glarus, auch auf die Schönheiten der Alpenwelt zu sprechen, die er während seines Aufenthalts dort geniessen durfte; er bedient sich dabei unverkennbar bei den Ausdrucksmodellen und Formulierungen, die ihm die bukolische Tradition bereitstellte. In Franz Guillimanns Weihnachtsode An die Hirten ist es primär das Sujet, das eine für derartige Weihnachtsdarstellungen bis heute nicht untypische pastorale Atmosphäre erfordert.

Es fällt auf, dass der Beitrag der Schweizer neulateinischen Dichter zur bukolischen Gattung sich insgesamt in Grenzen hält, wenn man ihn mit der entsprechenden poetischen Produktion in Italien, Frankreich oder Deutschland vergleicht. Auch wenn man sich vor Augen stellt, dass der Mythos von den Schweizern als Hirtenvolk im Wesentlichen erst ein Produkt des 18. Jahrhunderts ist, fällt es nicht leicht, für diesen Befund eine Erklärung zu finden. Zumindest ein Grund könnte sein, dass das in dieser Gattung gar nicht so seltene Herrscherlob innerhalb der nicht-monarchischen Eidgenossenschaft (ebenso wie im Wallis, oder im Freistaat der drei Bünde) in der Regel keine bedeutende Rolle spielen konnte; es fällt jedenfalls auf, dass der aus einer der Eidgenossenschaft zugewandten Stadtrepublik stammende Vadian seinen Beitrag zur Gattung leistete, während er sich im Ausland und im unmittelbaren Dunstkreis eines Monarchen befand; und bei Lemnius handelte es sich um einen Mann, der schon vor der Entstehung seiner Bucolica Förderung durch auswärtige Fürsten angestrebt hatte (Kardinal Albrecht und Ercole II. dʼEste) gesucht hatte.

 

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2. Elegie

Unter Elegie ist hier zunächst einmal jede Art von Dichtung in elegischen Distichen (Hexameter plus Pentameter) zu verstehen, die sich nicht dem Bereich des (generell auf Kürze bedachten) Epigramms zuordnen lässt. Die traditionelle, auch in der Frühen Neuzeit herrschende Ansicht war, dass der Begriff der Elegie sich von Trauergesängen ableitet (das griechische ἔλεγος bedeutet ”Klage”; ἒ ἒ λέγειν ist «Wehklagen»; aufgegriffen haben diese Definition etwa auch Hor. ars 75-76 und Ov. am. 3,9,3-4). Es bereitete den humanistischen Theoretikern nicht geringe Schwierigkeiten, dass die ihnen überlieferten römischen Elegien kaum zu dieser Beschreibung passten. Wir gehen im Folgenden besonders auf den Bereich der Liebesdichtung ein, in dem die elegische Form grosse Bedeutung gewann.

 

Liebeselegie

Die ersten Elegiker waren im 7. Jh. v. Chr. die Ionier Kallinos, Archilochos und Mimnermos, von denen besonders der dritte den Eros thematisierte; sein Elegienbuch trug den Namen Nanno (nach der darin genannten Geliebten). Allerdings verzichtete Mimnermos auf subjektive Gefühlsausdrücke. Dem Mythos entnommene erotische Themen spielten auch in der elegischen Dichtung des Hellenismus eine grosse Rolle (Kallimachos, Philetas, Phanokles; ferner die Kleinepiker Eratosthenes und Euphorion), doch auch diese beschreiben kein subjektives erotisches Erleben. Anders verhält sich das mit den Epigrammen des Hellenismus (berühmt z. B. die Sammlung Kranz des Melegros), die in dieser Hinsicht die kommende literarische Entwicklung stark beeinflussen sollten.

Die subjektiv-erotische (Liebes-)Elegie war eine Schöpfung der römischen Literatur, beginnend mit Catull (1. Jh. v. Chr.; carmen 69, 41-148) und Cornelius Gallus (†26 v.Chr.), der ca. 40 v. Chr. ein weitestgehend verlorenes Elegienbuch mit dem Titel Amores vorlegte. Für die Nachwelt wird die römische Liebeselegie in erster Linie repräsentiert durch Tibull (⁕54-50 v. Chr; †19/18 v. Chr.), Properz (⁕ Mitte 1. Jh. v. Chr.; † um Christi Geburt) und Ovid (43 v. Chr.-17 n. Chr.), die man deshalb auch als tresviri amoris, als erotisches Dreigespann, bezeichnet hat). Unter den unter Tibulls Namen überlieferten Gedichten befinden sich dabei auch einige, die nicht von ihm sind: sie stammen von einem Dichter namens Lygdamus und der Patrizierin Sulpicia (eine der seltenen weiblichen Stimmen in der römischen Literatur).

Es handelt sich bei der römischen Liebeselegie, grob gesprochen um eine subjektive Dichtung, in der das lyrische Ich ein junger Mann und poeta amator (dichtender Liebhaber) ist, der seiner (tendenziell unglücklichen) Liebe zu einer puella (Mädchen) Ausdruck verleiht, worunter in der Regel eine Art von Hetäre zu verstehen ist (so im Falle der Cynthia des Properz und der Corinna Ovids); seine Liebe präsentiert er als Sklaven- bzw. Militärdienst (servitium bzw. militia amoris) im Dienste seiner domina (Herrin). Die Gattung gewinnt ihren besonderen Reiz aus ihrem Widerspruch zu traditionellen römischen Werthaltungen (Absage an politisches Engagement und Ruhm etc.) bzw. deren Uminterpretation (der Kriegsdienst wird zur militia amoris) und besitzt einige typische Situationen (besonders erwähnenswert das Paraklausithyron: der exclusus amator, der ausgesperrte Liebhaber, steht vor der Tür der puella und klagt ihr sein Leid). Von der lange Zeit üblichen Praxis, diese Gedichte biographisch zu deuten, aus ihnen also faktisch den Roman einer realen Liebesbeziehung zu destillieren, ist die Forschung heute weitgehend abgekommen und konzentriert sich auf die ihr zugänglichen rein literarischen Fragen; man muss daher aber nicht ausschliessen, dass es solche biographischen Einflüsse gegeben hat, zu denen sich freilich keine seriöse Aussage machen lässt. Aus der Spätantike verdienen Erwähnung die Elegien des Maximianus, in denen das dichterische Ich sich als alternder Mann präsentiert. Auch im Mittelalter wurde die Gattung vereinzelt gepflegt (z. B. Marbod von Rennes, 1035-1123); sorgsam um eine bestimmte Frauenfigur herum komponierte Elegienbücher mit einer klaren erotischen Akzentsetzung brachte das Mittelalter jedoch nicht hervor.

Antonio Beccadelli (Panormita, 1394-1471) legte 1423 mit dem Hermaphroditus eine Epigrammsammlung vor, die aufgrund ihrer erotischen (allerdings durchaus pornographischen) Ausrichtung auch für die Wiederbelebung der Liebeselegie impulsgebend wurde. Die erste am Vorbild der Antike orientierte Elegiensammlung ist das Angelinetum des Giovanni Marrasio (†1452). Was die italienischen Anfänge der neulateinischen Elegie angeht, so lassen sie sich auch als Reaktion auf Petrarcas volkssprachliche Canzoniere-Dichtung verstehen, von der sich ihre Dichter thematisch und gedanklich teilweise auch beeinflussen liessen. Als bemerkenswerte neulateinische Vertreter dieser Gattung lassen sich aufführen Cristoforo Landino (Xandra), Enea Silvio Piccolomini (Cinthia; also schon im Titel an Properz und dessen puella orientiert) Giovanni Pontano (der die Gattung auch der ehelichen Liebe dienstbar machte), Baptista Mantuanus, Angelo Poliziano, Conrad Celtis (der in seinen vier Büchern Amores je eine Geliebte aus einer jeweils anderen Region Deutschlands preist), Petrus Lotichius Secundus, Jakob Micyllus (die beiden letztgenannten ersetzen die traditionelle puella durch das Motiv der ehelichen Liebe), Johannes Secundus, Publius Faustus Andrelinus und Jacopo Sannazaro. Üblicherweise konzentrieren sich die entsprechenden Gedichtsammlungen auf eine (uneheliche) Geliebte, die normalerweise mit einem antikisierenden Namen belegt wird, was einen Anschluss an die antike Gattungstradition schafft, die Geliebte aber zugleich anonymisiert und fiktionalisiert. Wie auch schon bei den antiken Autoren (das vierte Elegienbuch des Properz enthält vornehmlich Gedichte nicht-erotischen, sondern aitiologischen Charakters), umfassen auch viele neulateinische Amores-Sammlungen Gedichte, die eine andere Thematik behandeln. Wie bei der antiken Liebeselegie vermeidet man heute im Allgemeinen grob biographische Interpretationsansätze; als völlig illegitim sollte man derartige Fragen aber nicht abtun.

Die Liebeselegie wird auf diesem Portal einzig durch den in der Konzeption seines Werkes, den Amorum Libri IIII, stark an Properz orientierten Simon Lemnius repräsentiert, der dafür immerhin die der Gattung eigene erotische Offenheit auch nach heutigem Empfinden bemerkenswert weit und teilweise bis an die Grenze zur Pornographie getrieben hat; er gehört wie der bereits erwähnte Celtis zu den Fällen, bei denen die Gedichtsammlung nicht um eine zentrale Frauenfigur kreist; sein lyrisches Ich pflegt die Promiskuität. Die relative Seltenheit derartiger Dichtung auf dem Gebiet der heutigen Schweiz fällt auf und zeugt von einem ihr tendenziell ungünstigen geistigen Klima. Man wird auch ohne grobe Simplifizierung vermuten dürfen, dass die spezifisch schweizerischen Spielarten der Reformation und ihre mannigfaltigen Konsequenzen daran nicht unschuldig waren.

 

Andere Elegien

Wie schon erwähnt, lassen sich die elegischen Gedichte keineswegs exklusiv auf die erotische Thematik festlegen. Schon in der Antike wird das elegische Versmass nicht nur für Liebeselegien gebraucht. Ovid verfasst darin auch seine späte Exildichtung (Tristia, Ex Ponto); seine Fasti (aitiologische Sagen zum römischen Jahreskreis) oder seine Heroides (fiktive Briefe mythologischer Heldinnen). Letztere finden im Schweizer Humanismus mit den Heroides des Gwalther einen unmittelbaren Nachfolger. Im Übrigen weist die neulateinische Elegie auch in der heutigen Schweiz eine enorme thematische Bandbreite auf, die sich manchmal nicht mehr unmittelbar auf antike Vorbilder zurückführen lässt. Wir führen hier die auf die diesem Portal präsentierten Texte auf: Heinrich Glareans Elegie an Erasmus von Rotterdam, seine Elegie an einen Schüler, sein Hodoeporicon Reise in sein Vaterland und sein Panegyrisches Gedicht auf die Montanerburse. Johannes Fabricius Montanus ist vertreten mit seiner Elegie Über das glückliche Leben, seiner Elegie über Wilhelm Tell und seinen Trauergedichten, von denen zumindest eines der hier präsentierten (das Epitaph für Ulrich von Hutten) sich aufgrund seiner Form (elegisches Distichon) und seiner über den Bereich des Epigrammatischen hinausgreifenden Länge als Elegie im ursprünglichsten Sinne, als Klagelied, ansprechen lässt; Ähnliches lässt sich vielleicht auch vom Epitaph für Leo Jud von Jodocus Molitor sagen.

 

Bibliographie

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3. Epithalamien

Unter Epithalamien sind Gedichte zu verstehen, die anlässlich einer Hochzeit verfasst werden; in der Regel handelt es sich um Gelegenheitsgedichte anlässlich einer realen Hochzeit, zu denen der Autor sich aufgrund seiner freundschaftlichen oder verwandtschaftlichen Beziehungen oder aufgrund eines Abhängigkeitsverhältnisses verpflichtet fühlt. Überlappungen mit anderen Gattungen möglich: so ist das 18. Idyll des antiken Bukolikers Theokrit ein Epithalamium (über eine mythologische Hochzeit). In der hellenistischen Epoche bezeichnete ἐπιθαλάμιος ursprünglich ein Hochzeitslied, das in der Hochzeitsnacht vor dem Brautgemach vorgetragen wird (der griechische Oberbegriff für Hochzeitslieder war ὑμέναιος). Wichtige antike Vertreter dieser Gattung sind Sappho, der schon erwähnte Theokrit, bei den Römern Catull (c. 61, 62 und 64), Statius (silv. 1,2) und in der Spätantike Ausonius (dessen aus Vergilversen zusammengebauter Cento nuptialis freilich ein besonderer Fall ist), Claudian (Epithalamien für Kaiser Honorius und Maria bzw. Palladius und Celerina) und der in Nordafrika wirkende Dracontius. Mit Blick auf die christliche Tradition verdient Erwähnung, dass auch das biblische Hohelied der Liebe (das Canticum Canticorum) und der 45. Psalm (Ps. 44 Vulgata) sich als Hochzeitsdichtung auffassen lassen.

Unter den prominenten neulateinischen Dichtern haben unter anderem folgende Dichter Epithalamien vorgelegt: Giovanni Pontano (für seine eigenen Töchter), Jacopo Sannazaro, Erasmus von Rotterdam (für seinen Freund Petrus Aegidius; das Gedicht ist Teil des Dialogs Epithalamium in den Colloquia familiaria), Johannes Secundus und George Buchanan. Auch neben herausragenden Namen wie diesen ist mit einer zahlenmässig beträchtlichen dichterischen Produktion (von freilich insgesamt stark variiender poetischer Qualität) zu rechnen. Hochzeitsgedichte sind typische Kasualdichtung (Gebrauchsdichtung), so dass wir heute vermutlich nur einen Bruchteil der tatsächlichen Produktion noch vorliegen bzw. schon wissenschaftlich erfasst haben. Nicht wenige Gedichte dürften unwiederbringlich verloren sein, da man nach der anlassgebenden Hochzeit jedes Interesse an ihnen verlor. Im sozialen und religiösen Kontext der Frühen Neuzeit gerade nördlich der Alpen ist bedenkenswert, dass das Epithalamium eine Möglichkeit bot, auf eine (anders als im Fall der Liebeselegie) moralisch durchaus unangreifbare Weise erotische Themen anklingen zu lassen.

Auf diesem Portal präsentieren wir zwei jeweils in elegischen Distichen verfasste Texte, die die soziale Bedeutung und Spannweite dieser Gattung deutlich machen; der eine führt ins Zürcher Theologen- und Gelehrtenmilieu, der andere zu einer Fürstenhochzeit.

Johannes Altus, Epithalamium für Johannes Fabricius Montanus und Katharina Stutz. Das Epithalamium des Deutschen Johannes Altus entstand 1548 für die Hochzeit des Johannes Fabricius Montanus in Zürich. Der Text ist eigentümlich durch eine Vermischung antik-paganer und christlicher Elemente: einerseits spielen Götter eine gattungsgemässe Rolle, andererseits wird ausführlich der Zürcher Heiligen Felix und Regula gedacht.

Marcus Tatius, Epithalamion für Oswald von Eck und Anna von Pienzenau. Das Epithalamion des Marcus Tatius Alpinus entstand für eine bayerische Adelshochzeit des Jahres 1544, auf der Oswald von Eck, Sohn des mächtigen herzoglich-bayerischen Kanzlers Leonhard von Eck, mit Anna von Pienzenau, der Vertreterin einer altadeligen Familie, vermählt wurde. Es ist wohl der Prominenz dieses Anlasses zu verdanken, dass Tatius aus diesem Fall ein Gedicht geschaffen hat, das sowohl durch seinen Umgang (mehr als 1000 Verse) sowie durch eine Reihe origineller Einfälle (besonders was die Rolle der olympischen Götter angeht) und allgemein durch die Reichhaltigkeit seines Inhalts auffällt. Dass sich für diesen in mancherlei Hinsicht bemerkenswerten Text keine Rezeptionsgeschichte nachweisen lässt, macht deutlich, wie kurzlebig das Interesse an Hochzeitsgedichten in der Regel war.

 

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4. Epigramm

Eine allgemeingültige Definition des Epigramms zu finden, die nicht dem ahistorischen Schematismus verfällt und dem gesamten überlieferten Gattungsbestand gerecht wird, ist schwierig, vielleicht ist es gar nicht möglich. Wir beschränken uns hier im Sinne einer Minimaldefinition auf die kurze Feststellung, dass es sich bei Epigrammen um in der Regel eher kurze Gedichte handelt, die meistens in elegischen Distichen verfasst sind (mit Ausnahmen in beiderlei Hinsicht) und thematisch sehr vielfältig sein können. Im Laufe der Gattungsgeschichte hat sich dabei eine gewisse Affinität zu geistreicher, witziger und/oder satirischer Ausdrucksweise herausgebildet, ohne dass sich die Gattung exklusiv dadurch definieren liesse.

Das Epigramm der Antike war, wie sein griechischer Name es in deutscher Übersetzung sagt, ursprünglich eine metrische «Aufschrift», etwa auf einem Grab oder einer Weihegabe (z. B. Simonides von Keos, †468/7 v. Chr.); andererseits auch die griechische Sitte der poetischen Improvisation bei Trinkgelagen und ähnlichen Anlässen zur Entstehung dieser Gattung beigetragen. Das hellenistische Zeitalter verstärkte den Hang der Epigrammatiker zur Pointe, das heisst dazu, das Gedicht mit einem überraschenden, geistreichen Schluss enden zu lassen; wichtige Vertreter des griechischen Epigramms sind zum Beispiel Kallimachos (3. Jh. v. Chr.), Poseidippos (3. Jh. V. Chr.) und Meleagros (1. Jh. v. Chr.). Im Mittelalter wurden viele griechische Epigramme (sowohl aus der Antike wie aus der byzantinischen Zeit in zwei Anthologien gesammelt: der Anthologia Palatina (10. Jh.) und der weniger umfangreichen Anthologia Planudea (ca. 1300), die teilweise auch Gedichte enthält, die in der ersdtgenannten nicht stehen; man bezeichnet den Inhalt der beiden heute zusammenfassend als Griechische Anthologie (Anthologia Graeca). Den Humanisten des 16. Jahrhunderts war nur die erstmals 1494 in Florenz gedruckte Anthologia Planudea bekannt. Auch das römische Epigramm besitzt zunächst einen ausgeprägten Inschriftencharakter. Die literarische Epigrammatik nach hellenistischem Vorbild beginnt in der späten Republik. Erwähnung verdient auch der spätantike Ausonius (310-393/4); zahlreiche Beispiele kleinerer Dichter bietet die von modernen Philologen zusammengestellte sogenannte Anthologia Latina.

Das bevorzugte Metrum für Epigramme ist in der Antike wie auch späterhin das elegische Distichon, daneben ist auch der phaläkische Hendekasyllabus (Elfsilbler) beliebt; andere Metren sind selten. Mit der Gattungsherkunft als Aufschrift lässt sich erklären, dass viele Epigramme einen deiktischen Charakter haben, der bei (fiktiven oder echten) Grabaufschriften oder Beschreibungen von (echten oder fiktiven) Gegenständen und Kunstwerken besonders deutlich zur Geltung kommt. Das Mittelalter kennt die Gattung; das zentrale Vorbild ist auch in jener Zeit Martial.

In der neulateinischen Literatur repräsentiert das Epigramm einen hohen Anteil der poetischen Gesamtproduktion. Man darf davon ausgehen, dass die überwiegende Mehrheit aller neulateinischen Dichter auch Epigramme verfasst hat. Karl A. E. Enenkel geht (mit einem unverkennbaren Augenzwinkern) sogar so weit, das Verfassen von Epigrammen zu einem der beiden definierenden Merkmalen eines Humanisten zu machen (das andere sei das Briefeschreiben gewesen). Jede Auflistung bedeutender Epigrammatiker des 16. Jahrhunderts muss daher – noch mehr als im Falle anderer Gattungen – arbiträr bleiben. Beispielshalber erwähnt seien Giovanni Pontano (1428/29-1503), Michele Marullo (1453-1500), Thomas Morus (1478-1535), dessen epigrammatisches Werk zu zwei Dritteln aus Übersetzungen aus der Anthologia Planudea besteht, und Helius Eobanus Hesse (1488-1540). Die neulateinischen Dichter orientierten sich in erster Linie an Martial, daneben (mit einigem Abstand) auch an dem seit dem Frühhumanismus langsam wieder bekannter werdenden und 1472 zum ersten Mal gedruckten Catull; ihr Blick auf letzteren wurde wiederum stark durch Martial beeinflusst und die Art und Weise, wie er Catull in seiner Dichtung teilweise nachgeeifert hatte. Von der Wichtigkeit Martials, aber ebenso von den Bedenken, die man in manchen Gelehrtenkreisen gegenüber den obszönen Aspekten seiner Dichtung hatte, zeugen auf diesem Portal die Paratexte zu der von derlei Anstössigkeiten gereinigten Martialausgabe von Conrad Gessner. Das Vorbild der griechischen Epigramme war nur einer Minderheit der Humanisten sprachlich direkt zugänglich, ist aber deshalb durchaus nicht zu unterschätzen. Epigramme kamen im 16. Jahrhundert oft auch auf Titelblättern von Drucken zum Einsatz (quasi als Werbemittel für das betreffende Buch); hierher gehören auch die an befreundete und/oder hochrangige Personen gerichteten Widmungsgedichte, die viele Autoren ihren Werke voranstellten, ebenso wie die Geleitgedichte befreundeter Autoren, die das betreffende Buch und seinen Verfasser preisen.

Den bedeutendsten Gattungsbeitrag leistete von den auf diesem Portal präsentierten Autoren sicher Simon Lemnius mit seinen unverkennbar in der Martialnachfolge verfassten (erst zwei, später drei) Epigrammaton Libri, die ihn erst in Konflikt mit Luther brachten und in ihrer letzten Fassung den wechselseitigen Hass der beiden Männer reflektieren. Auch wenn es sich bei der gegen Luther gerichteten Monachopornomachie desselben Autors sicher nicht um epigramatische Dichtung handelt, verdient dieses dramatische Gattungsexperiment hier Erwähnung, da er es in elegischen Distichen verfasste und dabei exzessiv die Epigramme des Martial zitiert bzw. adapitiert. Polemisch und sexuell aufgeladen wie die Lutherkritik des Lemnius ist auch Rudolf Gwalthers Spottgedicht auf die Mönche von Einsiedeln; die von uns unter der Überschrift Epigramme und vermischte Gedichte zusammengestellte Epigramme enthalten gutmütigen Spott, aber auch ein Trauergedicht und einen patriotischen Lobpreis. Seine als Bildaufschriften für Porträts gedachten und ganz und gar nicht satirischen Gedichte über die Zürcher Reformatoren erinnern an die Ursprünge der Gattung. Auch Gwalthers Inhaltsangaben zu den biblischen Büchern darf man als Epigramme auffassen. Eine solche Einordnung bietet sich auch bei den meisten Trauergedichten des Fabricius Montanus aufgrund zu ihrer Kürze an, wobei hier sicher einer der nicht seltenen Grenzfälle zwischen der epigrammatischen und der metrisch verwandten elegischen Dichtung vorliegt (dass der Dichter sie als Epitaphe bezeichnet, verweist freilich unzweideutig auf den ursprünglichen Aufschriftcharakter der Gattung). Einen derartigen Epitaph (in diesem Fall auf den Drucker Hieronymus Froben) präsentieren wir auch von Sebastian Castellio. Als patriotisches Epigramm lässt sich Heinrich Glareans kurzes Gedicht über die Ruinen von Avenches einordnen; in dieser Sparte darf man auch die Gedichte des Jodocus Molitor Über Zug, Zürich und Luzern einordnen; sein Epitaph für Leo Jud stellt wiederum einen Grenzfall zur Trauerelegie dar. Auch unter von uns aus den Eidyllia mellica des Franz Guillimann ausgewählten Gedichten befindet sich ein Epigramm, in dem er die Dillinger Akademie lobt, an der er studiert hatte. Kaspar Ambühl elegische Distichen Über das richtige Verhalten in einem Thermalbad kann man gleichfalls als Epigramm bezeichnen, wenngleich ihr didaktischer Charakter sie auch als kleines Lehrgedicht erscheinen lässt. Stark didaktischen Charakter hat auch Rudolf Ambühls d. J. als Bildbeschreibung gestaltetes Gedicht gegen die Trunksucht In imaginem ebrietatis; sein unverkennbar deiktischer Charakter, seine Verwandtschaft mit der Emblematik und seine satirische Ausrichtung machen eine Zuordnung zur epigrammatischen Gattung trotz des relativ hohen Umfangs von 250 Versen nicht völlig abwegig.

 

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5. Lyrische Dichtung

Unter diesem Begriff sind hier jene Gedichte zu verstehen, die auf die lyrischen Versmasse der Antike zurückgreifen. Die hauptsächlichen antiken Vorbilder boten die Oden des Horaz, die Gedichte des Catull sowie nach der Belebung der Griechischstudien auch Pindar, die frühgriechischen Lyriker, die Homer zugeschriebenen Hymnen sowie die des Kallimachos. Die Geschichte der neulateinischen lyrischen Poesie beginnt mit Giovanni Pontano (1429-1503), Michele Marullo (1453-1500) und Jacopo Sannazaro (1458-1530). Im deutschen Sprachraum tritt als erster Conrad Celtis (1459-1508) mit seinen an besonders Horaz orientierten Oden hervor.

Die heutige Schweiz nimmt in der Geschichte dieser Gattung sicher eher einen Randplatz ein; dennoch sollte man ihre Autoren nicht übersehen, wie dies leider bisweilen geschieht. Stark ausgeprägt sind bei den in dieser Gattung tätigen schweizerischen Autoren die Oden und Hymnen mit christlichem Gehalt, die etwa an Christus oder (im katholischen Kontext) an die Heiligen oder Maria adressiert sind. Wir präsentieren auf diesem Portal Heinrich Glareans sehr horazisch anmutende Ode auf den heiligen Theodul sowie Franz Guillimanns Eidyllia melica und Oden/Hymnen; mit seiner hier ausgewählten Weihnachtsode greift er ein besonders im nördlichen Europa gerne in dieser Form aufgegriffenes Thema auf. Handelt es sich hierbei um katholische Autoren, so repräsentiert Rudolf Gwalther mit seiner im hier Rahmen seiner Epigramme und vermischten Gedichte präsentierten Vaterunserparaphrase Oratio Dominica in Odenform den protestantischen Bereich. Dies gilt auch für Johannes Fabricius Montanus mit seiner Ode An Jesus Christus. In seine Ode An Petrus Lotichius bringt derselbe Dichter seine Dankbarkeit gegenüber diesem deutschen Humanistenpoeten Petrus Lotichius Secundus zum Ausdruck, der ihn in die Dichtkunst eingeweiht hatte. Man darf in diesem Zusammenhang auch erwähnen, dass Ulrich Zwingli zu der von Jacob Ceporin besorgten Pindaredition (der dritten gedruckten Ausgabe überhaupt), die 1526 in Basel erschien, ein begeistertes Vorwort besteuerte, in dem er den griechischen Dichter rühmt.

Die von uns obenstehend faktisch vorgenommene Unterscheidung zwischen epigrammatischer und lyrischer Dichtung kann von sich beanspruchen, auf die Antike zurückzugehen.

 

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6. Lehrgedichte

Der Terminus «Lehrgedicht» begegnet im Deutschen erstmals im Jahre 1646; eine unumstrittene Definition existiert bis heute nicht; umstritten ist auch, ob man das Lehrgedicht mit der didaktischen Poesie im Allgemeinen identifizieren oder es von «Dichtung mit nur impliziten didaktischen Intentionen» streng separieren soll. Eine andere, seit der Antike bestehende Frage, ist die, ob es sich beim Lehrgedicht um eine poetische Gattung handelt; Aristoteles (poet. 1) hatte dies negiert, spätere Theoretiker wiesen dem Lehrgedicht aber doch einen Platz innerhalb der Dichtkunst zu (so etwa Diomedes); in der Neuzeit nahm besonders J. C. Scaliger das Lehrgedicht gegen Aristoteles in Schutz. Ob sich das Lehrgedicht der epischen Gattung zuordnen lässt, war gleichfalls umstritten (Aristoteles war dagegen, Dionysios von Halikarnass oder Quintilian nahmen dagegen diese Zuweisung vor); diese Klassifizierung lag umso näher, wenn man (wie die Stoiker) die grossen epischen Texte der Antike wie Homer auch als Sachquellen auffasste. Innerhalb der verschiedenen Texte, die sich der Gattung der Lehrdichtung zuordnen lassen, bestehen Unterschiede darin, ob die sachliche Informationsvermittlung oder die kunstvolle literarische Ausgestaltung im Vordergrund stehen; doch im Einzelfall ein Urteil zu fällen, ist mitunter nicht einfach, und deshalb sollte man sich vor allzu starren Systematisierungen hüten. Da sich Lehrdichtung im Grunde nur über ihre didaktische Funktion definieren lässt, ist die Abgrenzung zu anderen Gattungen, die didaktische Momente aufweisen können, fliessend (man denke hier zum Beispiel an das Epigramm).

Als Begründer der antiken Lehrdichtung lässt sich Hesiod (8.-7. Jh. V. Chr.) betrachten (die Theogonie, über die Entstehung der Welt und der Götter, und Werke und Tage, ein landwirtschaftliches Lehrgedicht). Unter den frühen Griechen verdienen ausserdem Erwähnung Parmenides und Empedokles, die ihre philosophischen Lehrmeinungen in Lehrgedichten verkündetem. Die hellenistische Epoche brachte Lehrgedichte über zahlreiche Gegenstände hervor; erwähnenswert sind hier Arat (Phainomena) und Nikander; letzterer ist ein Musterbeispiel für einen Dichter, bei dem die kunstvolle literarische Ausgestaltung weit vor dem eher abwegigen Stoff rangiert (in den Theriaka und den Alexipharmaka geht es jeweils um Gifte und Gegengifte). Für die neulateinische Dichtung als unmittelbare Vorbilder wichtiger sind die bedeutendsten römischen Gattungsvertreter in der späten Republik und frühen Kaiserzeit: Lukrez mit seinem philosophischen (epikureischen) Gedicht De rerum natura; Vergil mit seinem vordergründig landwirtschaftlichen, darüber hinaus aber auch Grundfragen von Kultur und Zivilisation behandelnden Lehrgedicht Georgica; Ovid mit seiner Liebeslehre Ars amatoria und deren Gegenstück, den auf Entlieben zielenden Remedia amoris sowie den Medicamina facies feminei über weibliche Kosmetik; Horaz mit seiner dichtungstheoretischen Ars poetica; Manilius mit seinen sternenkundlichen Astronomica. Die meisten der hier genannten Werke sind in Hexametern verfasst, Ovid bediente sich entsprechend seines erotischen Stoffes indes des elegischen Distichons. Aus der christlichen Spätantike lassen sich die Dichter Commodian (Carmen apologeticum; Instructionum libri) und Prudentius (z. B. Contra Symmachum oder die Psychomachia) aufführen. Terentianus Maurus behandelte in seinem nicht vollständig erhaltenen Gedicht De litteris, de syllabis, de metris metrische Fragen.

Im mittelalterlichen Lehrgedicht steht die Stoffvermittlung im Vordergrund; es handelt sich also gewissermassen um Handbücher in Versform. Das schloss allerdings die Entstehung auch literarisch kunstvoller Texte wie das hortologische Lehrgedicht De cultura hortorum von Walahfrid Strabo (ca. 808-849) nicht aus. In der Renaissance verlagerte sich das Interesse tendenziell deutlich auf die anspruchsvolle literarische Ausgestaltung; wichtige Protagonisten sind hier Giovanni Pontano (1429-1503) mit seiner Urania (über Astronomie/Astrologie), Marco Girolamo Vida (1485-1566) mit dem Scacchia, ludus (über das Schachspiel) und Girolamo Fracastoro (1478-1553) mit seiner Syphilis (über die gleichnamige Geschlechtskrankheit, die eine der grössten medizinischen Herausforderungen der Frühen Neuzeit und bis in die Moderne hinein darstellte). Im niederländischen bzw. deutschen Humanismus lässt sich stofflich und in der Art der Darstellung ein Fortwirken mittelalterlicher Gattungstraditionen beobachten, zum Beispiel bei Dietrich Ulsen (1460-1508; De pharmacandi comprobata ratione, medicinarum rectificatione symptomatumque purgationis hora supervenientium emendatione), Helius Eobanus Hesse (1488-1540; De tuenda bona valetudine) und Ulrich von Hutten (1488-1523; Ars versificatoria).

Die Gattung war im schweizerischen Humanismus offensichtlich eher schwach ausgeprägt. Ihr lässt sich mit gebotener Vorsicht ein Gedicht Rudolf Ambühls d. J. (In imaginem ebrietatis) in elegischen Distichen zuordnen, in dem er seinen Lesern die Schrecknisse der Trunksucht plastisch vor Augen stellt; aufgrund seines satirischen Charakters, seiner inhaltlichen Gestalt als Bildbeschreibung und seines damit verbundenen Nahverhältnisses zur Emblematik liegt aber auch eine Gattungszuordnung zur epigrammatischen Dichtung nahe. Auch einige ebenfalls in elegischen Distichen gehaltene Verse des (nicht mit Rudolf verwandten) Kaspar Ambühl Über das richtige Verhalten in einem Thermalbad liegen – hier vor allem aufgrund der relativen Kürze dieses Gedichts – in einem Grenzbereich zur Epigrammatik. Vom Hexametergedicht des Joachim Vadian Über den Bodensee, das man wohl als einziges von den hier aufgeführten Werken wirklich als ernsthaften Gattungsbeitrag mit dem Ziel einer literarisch kunstvollen Informationsvermittlung bezeichnen kann, ist leider nur ein Fragment erhalten. Man darf hier auch daran erinnern, dass Vadian 1510 die editio princeps des bereits erwähnten mittelalterlichen Lehrgedichts des Walahfrid Strabo über die Gartenkunst besorgt hat.

 

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