Schweizer Heldenbriefe
Johannes Barzaeus
Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 06.01.2025.
Entstehungszeitraum: vermutlich ab 1651 (nach Publikation der überarbeiteten Version des Omni die dic Mariae) und naturgemäss bis vor der Drucklegung im Jahr 1657 (der Widmungsbrief datiert vom 9. Mai 1656).
Ausgaben: Ioannis Barzaei Heroum Helvetiorum Epistolae, Freiburg i. Ü., David Irrbisch, 1657 [=hier verwendete Ausgabe], hier: Widmungsepistel und p. 166-174 (im gleichen Jahr erschien das Werk auch weitgehend identisch in Luzern, ohne Druckerangabe).
Teiledition und -übersetzung: Brief 2,2 ist abgedruckt und ins Deutsche übersetzt in Egger (1947), 72-95.
Metrum: die für die Präsentation auf Humanistica Helvetica ausgewählte Epistel 3,3 gehört zu den in elegischen Distichen verfassten; daneben gibt es auch Hexameterepisteln (vgl. die untenstehende Einleitung).
Der Autor
Johannes Bärtschi, dessen Nachname latinisiert zu Barzaeus wurde, wurde gegen 1592 oder nach 1595 in Sursee (Kanton Luzern) geboren. Sein gelegentlich auch als neulateinischer Dichter tätiger Vater Johannes Sebastian Bärtschi (Bargtius) arbeitete als Schulmeister (Lateinlehrer) in der Zisterzienserabtei St. Urban (Gemeinde Pfafnau, Kanton Luzern). Die Familie Bärtschi stammte ursprünglich aus Nyon am Genfersee, das sie nach der Eroberung der Waadt durch Bern und der daraus resultierenden Durchsetzung der Reformation verlassen musste, um ihren katholischen Glauben weiter praktizieren zu können. Bärtschi absolvierte seine Schulzeit vermutlich in Solothurn und studierte anschliessend 1623-1625 an der Jesuitenhochschule in Dillingen nahe Augsburg, die zahlreiche (in erster Linie katholische) Schweizer anlockte (wir erinnern daran, dass bereits der Freiburger Dichter Franz Guillimann knapp 40 Jahre zuvor dort studiert hatte); Scripta mathematica et ethica betitelte Vorlesungsmitschriften des Barzaeus sind aus dieser Zeit erhalten. Barzaeus erwarb in Dillingen den Magistergrad und wirkte darauf kurze Zeit an der Stiftsschule St. Ursus in Solothurn als provisor (Unterlehrer), bevor er 1627-1628 mit Einwilligung seiner Schuloberen in Freiburg i. Br. Theologie studierte. Am 21. Mai 1628 wurde er in der Solothurner St. Ursuskirche (der heutigen Kathedrale) zum Priester geweiht. Seine erste Pfarrpfründe erhielt er in Bärschwil im Birstal, 1629 dann die von St. Niklausen, 1630-1634 wirkte er im Luzerner Ort Luthern, bevor er als Schulmeister an die Stiftsschule in Solothurn zurückkehrte, weil man ihm versprochen hatte, ihn bei der nächsten Vakanz im Chorherrenstift Schönenwerd zum Zuge kommen zu lassen, dessen Chorherren seit 1519 vom Solothurner Rat berufen wurden. 1639 wählte man ihn tatsächlich zum Stiftsherrn aus, und er füllte diese Position in Verbindung mit verschiedenen Funktionen (Kantor, Bauherr, Sekretär, Dekan) bis zu seinem Tod am 6. Juli 1670 zur Zufriedenheit seiner Umwelt aus.
Neben seiner kirchlichen Karriere bewies Barzaeus zeitlebens auch poetischen Ehrgeiz. Sein erstes bekanntes Werk ist ein 1628 als Einblattdruck erschienenes Epithalamium (Hochzeitsgedicht) für seinen Solothurner Gönner Hans Jakob von Staal und dessen Braut Helene Schenk von Castell; 1635 verfasste er wiederum ein Epithalamium anlässlich der Hochzeit des Arztes Christoph zur Matten und dessen Braut Maria Glutz. 1648 und in erweiterter Form 1651 veröffentlichte Barzaeus seine stilistisch ambitionierte poetische Bearbeitung des mittelalterlichen Marienhymnus Omni die dic Mariae, die wir auf diesem Portal bald an anderer Stelle präsentieren werden. Kein eigenständiges Werk, aber aufschlussreich für seinen geistigen Horizont, ist seine umfangreiche handschriftliche Exzerptensammlung Loci Communes sive Adversaria von 1645, die seine weitgespannten Lektüreinteressen bezeugt, die von klassischen über spätantike und mittellateinische Autoren bis in seine Gegenwart reichen, wobei ein grosses Interesse an Geschichtswerken deutlich wird, auf die er auch für sein hier vorzustellendes Werk zu rekurrieren hatte.
Die Heroum Helvetiorum Epistolae
Zwischen 1651 und 1657 schuf er sein Hauptwerk, die hier vorzustellenden Heroum Helvetiorum Epistolae. Die Sammlung umfasst 25 Briefe in drei Büchern (neun Briefe im ersten, sieben im zweiten und neun im dritten Buch), wobei innerhalb jeden Buches jeweils im Wechsel auf einen Brief in elegischen Distichen einer in Hexametern folgt (insgesamt ergeben sich daraus vierzehn Episteln in elegischen Distichen und elf in Hexametern). Der Gesamtumfang des Werkes beträgt 8482 Verse. Schon der Titel macht deutlich, dass Barzaeus formal an die (in Mittelalter und Neuzeit viel rezipierte und imitierte) Heroides-Sammlung des Ovid anknüpft, inhaltlich gibt es aber keinerlei Berührungspunkte zu dieser Sammlung fiktiver poetischer Briefe, die meist von mythischen Frauen an abwesende Männer adressiert sind. Barzaeus verfasst dagegen fiktive Briefe grosser Schweizer an andere grosse Schweizer, in seltenen Fällen auch an Nichtschweizer, über markante Ereignisse und Gestalten der Schweizergeschichte; die Ereignisschilderung hat dabei absolute Priorität vor der Charakterisierung von Adressat und Empfänger. Das erste Buch widmet Barzaeus der Befreiungstradition, den Gestalten und Ereignissen, die zur Gründung der Eidgenossenschaft führten und deren Abschüttelung fremder Herrschaft führten (Wilhelm Tell etc.). Das zweite Buch thematisiert die grossen Schlachten, in denen die Eidgenossen ihre Freiheit gegen Angriffe von aussen verteidigten (Sempach, Murten, Dornach etc.). Das dritte ist Miscellanea betitelt und dementsprechend thematisch vielgestaltiger: In ihm geht es z. B. um Verträge und Bündnisse mit auswärtigen Mächten oder (in zwei Gedichten) um das Leben des Bruder Klaus bzw. dessen Ermahnungen an die Eidgenossen. Eine gewisse Anregung haben Barzaeus zu seinem Werk vielleicht die beiden jeweils ebenfalls drei Bücher umfassenden Heroum Epistolae (1630) und Heroidum Epistolae (1642) des Jesuiten Jakob Bidermann geboten: Bei den ersteren handelt es sich um Briefe von Männern der Profan- und Kirchengeschichte (bzw. auch des Neuen Testaments), bei den letzteren vornehmlich um Briefe biblischer Frauengestalten bzw. der Kirche selbst in ihren verschiedenen Erscheinungsformen (kämpfend, triumphierend...). Gerade die Heroum Epistolae Bidermanns sind als mögliche Inspirationsquelle interessant, da in ihnen wie bei Barzaeus ausschliesslich männliche Briefschreiber zu Wort kommen und die Sammlung sich Themen der Profangeschichte öffnet. Barzaeus erreicht durch seine thematische Eingrenzung auf die Schweizergeschichte und das über weite Strecken massgebende Motiv der libertas, dass sein Werk im Vergleich zu Bidermann weniger den Eindruck einer losen Sammlung, sondern eines durchkomponierten Gesamtwerks macht. Quellenangaben am Ende der einzelnen Episteln geben Auskunft darüber, wo Barzaeus sich seine Informationen besorgte.
In seiner Vorrede an den Leser (fol. 5vo-6ro: Lector ingenue) grenzt Barzaeus sein Werk zeitlich ein: Es gehe in seinen Gedichten nicht um die Taten der antiken Helvetier und auch nicht um Geschehnisse der Gegenwart, sondern um Ereignisse aus der Zeit des Freiheitskampfes, um die Schlachten zur Verteidigung dieser Freiheit und um bedeutsame Bündnisschlüsse. In seiner an die Führer der dreizehn Orte adressierten Epistola Dedicatoria (fol. 2ro-3vo), die wir in unsere Textauswahl aufgenommen haben, erklärt Barzaeus unter Berufung auf Aristoteles und den Ahnenkult der Römer, dass es ihm darum gehe, die grossen Schweizerhelden künstlerisch zu verherrlichen, deren Leistungen ja sogar im Ausland Anerkennung gefunden hätten. Es geht ihm dabei nach eigener Aussage auch darum, die Reputation des Schweizervolkes vor falschen Anschuldigungen zu schützen und seine innere Einheit zu fördern.
Man wird in der Tatsache, dass Barzaeus sein Werk in zwei Zentren der katholischen Schweiz (Freiburg und Luzern) zeitgleich erscheinen liess, seinen Willen zur grösstmöglichen Verbreitung ablesen können. Seine Wirkungsabsicht beschränkte sich aber nicht auf die katholische Sphäre, sondern erstreckte sich auf die gesamte Eidgenossenschaft (seine Widmung umschliesst ja auch die Führer der reformierten Orte). Er schweigt daher in seinem Werk auch weitgehend über die Glaubensspaltung, was ihm umso leichter fällt, als die meisten Briefe Ereignisse der vorreformatorischen Epoche behandeln (eine Ausnahme ist etwa der Brief 3,7 über die Schlacht von Ivry im Jahre 1590, in der Heinrich IV. von Frankreich mit eidgenössischer Hilfe siegte). Die Tendenz des Autors, die innere Einigkeit der Eidgenossen auf Kosten der historischen Fakten zu betonen, wird auch in den von ihm behandelten früheren Epochen deutlich, indem er innereidgenössische Auseinandersetzungen (wie etwa den Alten Zürichkrieg, 1436-1450) schlicht nicht behandelt.
Wir präsentieren auf diesem Portal, wie bereits erwähnt, die an die politischen Führer der Dreizehn Orte adressierte Vorrede des Barzaeus zu den Heroum Helveticorum Epistolae, und ausserdem den in elegischen Distichen abgefassten Brief 3,3, ein fiktives Schreiben des Freiburger Patriziers Petermann (bei ihm: Franz Peter) von Praroman an den Glarner Politiker und Historiker Aegidius Tschudi. In diesem Schreiben geht es inhaltlich um die in Luzern geschlossene, dreizehn Artikel umfassende Soldallianz mit Frankreich vom 5. Mai 1521. Ausserdem wird an einige Bestimmungen des ihr vorausgehenden Ewigen Friedens zwischen Frankreich und den Eidgenossen vom 29. November 1519 erinnert, der in Freiburg i. Ü. unterzeichnet worden war. Es geht dem fiktiven Briefschreiber Praroman darum, die Vorteilhaftigkeit dieser Vereinbarungen für beide Parteien, besonders aber für die Eidgenossen, darzustellen. Die profranzösische Einstellung dieses Gedichts ist unverkennbar. Zu ihr passt es, dass Barzaeus seiner Epistelsammlung neben den bereits oben erwähnten Vorreden auch ein an den französischen Gesandten bei den Eidgenossen, Jean de La Barde, Baron von Marolles (1602-1692), adressiertes Anagramma Helveticum vorangestellt hat, in dem er ihm für die in Angriff genommene Erneuerung des Bündnisses zwischen Frankreich (unter Ludwig XIV.) und den Eidgenossen dankt. Das ist sogleich ein politisches Statement, denn diese Bündniserneuerung war zum Veröffentlichungszeitpunkt der Heroum Helvetiorum Epistolae noch nicht abgeschlossen: Zunächst hatten Solothurn (1653) und die anderen katholischen Orte (bis 1655) die 1651 ausgelaufene Allianz mit Frankreich erneuert, während die reformierten Stände, die der katholischen Grossmacht misstrauisch gegenüberstanden, unter französischem Druck erst bis 1658 nachzogen. Die feierliche Beschwörung der Allianz erfolgte 1663 in Paris. Die feierliche Zeremonie vom 18. November 1663 in der Kathedrale Notre-Dame wurde von der Pariser Gobelin-Manufaktur auf einem in sieben Exemplaren gefertigten Wandteppich verherrlicht (Teil der Tapisseriefolge L’histoire du Roy), von dem heute noch vier Stück erhalten sind, eines davon im Schweizerischen Landesmuseum. Gerade im Jahr 1657 hatte La Barde eine schwierige Aufgabe, da er nicht nur mit dem Widerstand der reformierten Orte konfrontiert war, sondern auch Solothurn, dessen Rat aus verschiedenen Gründen die frühe Erneuerung bereute, sowie andere von Solothurn angeschriebene katholische Orte, die das Bündnis noch nicht besiegelt hatte, mit diesem Schritt zögerten. Wie detailliert Barzaeus mit solchen aktuellen Entwicklungen vertraut war und inwiefern er vielleicht auf sie reagieren wollte, muss hier offen bleiben.
Das für diese Epistel charakteristische Vorgehen des Barzaeus, teilweise recht prosaische Vertragsbestimmungen in kunstvoll mit zahlreichen Stilmitteln und rhetorischen Figuren herausgeputzte lateinische Hexameter und Pentameter zu giessen und mit zahlreichen Anspielungen auf die antike Mythologie und Geschichte auszuschmücken, wirkt auf einen modernen Leser ohne Zweifel befremdend. In diesem Zusammenhang ist es Barzaeus jedoch immerhin positiv anzumerken, dass er in seiner poetischen Paraphrase keinen Wert auf absolute Vollständigkeit gelegt hat. Seine Auslassungen wird man zum einen mit poetischer Ökonomie begründen können, ideologische Gründe lassen sich allerdings vermuten, wenn Barzaeus verschweigt, dass die Eidgenossen dem französischen König laut Soldvertrag nicht nur im Verteidigungsfall, sondern auch bei einem Angriffskrieg seinerseits das Recht zusprach, Truppen in der Schweiz zu rekrutieren (Artikel 3). Ausserdem ist zu bedenken, dass er ausweislich seiner Quellenangaben am Ende des Gedichts sich offensichtlich nicht bemüht hat, die Verträge direkt einzusehen (Abschriften sollten doch in Solothurner Archiven wohl vorhanden gewesen sein), sondern sich mit deren inhaltlicher Paraphrase in Josias Simlers (1530-1576) Regiment gemeiner loblicher Eydtgnoschafft (Zürich, Froschauer, 1576) zufriedengegeben hat. Es verdient Hervorhebung und unterstreicht die überkonfessionelle, gesamteidgenössische Stossrichtung der Heldenbriefe, dass Barzaeus sich damit zu einem dezidiert reformierten Historiker als Quelle bekennt. Eine katholische Färbung seines Werkes bleibt insgesamt dennoch erkennbar, etwa in Brief 3,4 (Johann Jakob von Staal an Papst Clemens VIII.) der inhaltlich die Verdienste behandelt, die sich Schweizer und Franzosen um die römische Kirche erworben haben.
Von den Vertragsbestimmungen leitet der fiktive Briefschreiber Franz Peter von Praroman über zu einem Lobpreis Frankreichs, besonders seines milden Klimas und seiner Fruchtbarkeit, aber auch seiner militärischen Leistungen, wobei er in die Antike (konkret: zu den Keltenzügen) zurückgreift und das moderne Frankreich somit umstandslos mit dem antiken Gallien gleichsetzt. In diesen panegyrischen Passagen wird die profranzösische Einstellung des Barzaeus noch einmal in ganz besonderer Weise deutlich. Er stand damit in vollem Einklang mit den Prinzipien der Solothurner Eliten, die es sich stets als grosse Ehre anrechneten, dass der französische Ambassador bei den Eidgenossen seit 1530 in ihrer Stadt residierte.
Eine kritische Edition sämtlicher Heroum Helveticorum Epistolae mit Anmerkungen und deutscher Übersetzung ist ein dringendes Forschungsdesiderat. Hier liegt eine Aufgabe vor, mit der die Schweizer Latinistik eine Reihe von Masterstudierenden und/oder Doktoranden sinnvoll beschäftigen könnte, die in diesem Rahmen echte Primärforschung leisten könnten, was ihnen in der Beschäftigung mit antiken Autoren nur noch selten vergönnt ist. Das Werk des Barzaeus sei daher allen Schweizer Latinisten dringend ans Herz gelegt.
Rezeption und allgemeine Bedeutung
Die Heroum Helvetiorum Epistolae erschienen wenige Jahre, nachdem die Eidgenossen im Westfälischen Frieden von 1648 ihre Exemption vom Reich erhalten hatten, die formale Entlassung aus dem Reichsverband, die aber in der Praxis nicht viel änderte, da die Eidgenossen an der Reichspolitik schon seit längerem kaum noch aktiv teilgenommen hatten. Für Solothurn ist nachgewiesen, dass man das historische Ereignis 1648 kaum zur Kenntnis nahm; erst 1681 entfernte man die Erwähnung des Reichs aus dem Bürgereid, behielt aber den Reichsadler im Wappen. Auch das Werk des Barzaeus wird man daher wohl unabhängig von der Reichsexemption betrachten dürfen. Dessen ungeachtet sind sie ein beeindruckendes Zeugnis für ein helvetisch-eidgenössisches Identitäts- und Geschichtsbewusstsein, analog zu patriotischen Grosstaten des 16. Jahrhunderts wie Glareans Helvetiae descriptio. Das Werk des Barzaeus sticht freilich schon durch seinen schieren Umfang und die Vielzahl der darin behandelten Ereignisse und Personen hervor. Gerade deshalb ist es bedauerlich, dass wir – abgesehen von einigen lobenden Versen, die sein Neffe Michael Furrer zur Druckausgabe beisteuerte – keine Nachrichten haben, wie es seinen Zeitgenossen gefiel, besonders den politischen Führern der Dreizehn Orte, denen er es ja zugeeignet hatte.
Im Jahr 1821 erfahren wir im Solothurnischen Wochenblatt von einem zeitgenössischen Plan, die Heldenepisteln des Barzaeus ins Deutsche zu übertragen. Auch wenn daraus nichts geworden zu scheint (erschienen ist eine solche Übersetzung jedenfalls nie), ist immerhin bemerkenswert, dass die Heroum Helvetiorum Epistolae zu einem Zeitpunkt wahrgenommen wurden, in dem die Bewohner der modernen Schweiz, die aus den Nachwirkungen der französischen Besatzungszeit hervorging und ausser den Orten der alten Eidgenossenschaft auch aus deren ehemaligen Untertanengebieten und angrenzenden Regionen bestand, vor der Aufgabe standen, zu einer gemeinsamen nationalen Identität zu finden. Der aus Magdeburg stammende Wahlschweizer Heinrich Zschokke (1771-1848), der als liberaler Publizist mit volkspädagogischem Talent diesen Prozess entscheidend beeinflusste, hat die Schwierigkeit dieser Aufgabe betont: «Eine in Paris geschaffene Staatsverfassung, mit gänzlicher Unkunde des Landes entworfen, dann mit blutiger Gewalt eingeführt, sollte Völkerschaften mit einander verschmelzen, die sich nur dem Namen nicht bekannt, nicht geschichtliche Erinnerungen und Sitten, nicht Geistesbildung und bürgerliches Bedürfnis gemein hatten.» Die nationalen Identifikationsfiguren und -ereignisse, auf die man sich schliesslich kollektiv einigte, findet man auch bei Barzaeus: Man denke an Wilhelm Tell oder die grossen Schlachten von Grandson, Nancy und Murten. Militärische Soldbündnisse mit auswärtigen Mächten, wie das von ihm in Epistel 3,3 verherrlichte mit Frankreich, fanden dagegen in dem nun zu Vorherrschaft gelangenden Geschichtsbild keine grosse Zustimmung mehr. Ungeachtet solcher Differenzen, und ganz gleich, ob Zschokke und die anderen, die die moderne, auf Neutralität und Frieden getrimmte Schweiz schufen, das Werk des Barzaeus kannten oder nicht: Dieses stellt unbestreitbar eine jener vorbereitenden Stufen dar, die es Männern wie Zschokke möglich machten, im 19. Jahrhundert der modernen Schweiz eine Identität zu modellieren.
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