Epigramme
Simon Lemnius
Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 23.06.2023.
Entstehungszeitraum: Die Epigramme der Bücher I und II entstanden vermutlich alle erst während des Wittenbergaufenthalts (1534-1538) des Lemnius und eher zu dessen Ende hin (terminus ante quem ist natürlich die Drucklegung vor Pfingsten bzw. Anfang Juni 1538); Buch III wurde zwischen Juni (Flucht des Lemnius aus Wittenberg) und Oktober 1538 (Erscheinen der vermehrten Ausgabe der Epigramme) geschrieben.
Ausgaben: Simonis Lemnii Epigrammaton Libri Duo, Wittenberg, Nikolaus Schirlenz, 1538, fol. A2vo-A3ro, B4ro, [B7]vo-[B8]ro, D2vo-D3ro, D5vo, [D8]ro, E2vo; M. Simonis Lemnii Epigrammaton Libri III. Adiecta est quoque eiusdem Querela ad Principem, o. O. 1538, fol. A2vo-A3ro, Bro, [B8]ro-Cro, D4vo, [D7]vo, E2ro, E5ro, G2vo, G3ro-vo, [G7]ro-vo, [H6]ro, [H8]vo; L. Mundt, Lemnius und Luther. Studien und Texte zur Geschichte und Nachwirkung ihres Konflikts (1538/39), Teil 2: Texte, Bern, Lang, 1983, 10, 26, 66, 74, 80, 86, 118, 126, 142 et 146 (mit deutscher Übersetzung).
Metrum: elegisches Distichon (ausser 1,37: phaläkäischer Hendekasyllabus).
Die Epigramme des Lemnius gehören zu den Werken, deren literaturgeschichtliche Bedeutung weniger auf ihnen selbst beruht als auf den durch sie ausgelösten Reaktionen.
1538 veröffentlichte der damals in Wittenberg studierende Simon Lemnius seine Epigrammaton libri duo bei dem Drucker Schirlenz. Am 8. Juni, dem Samstag vor Pfingsten, erhielt Philipp Melanchthon (damals Rektor der Universität und ein besonders grosser Gönner des jungen Lemnius) zwei Exemplare des Buches, in denen er nichts Störendes feststellen konnte. Am Pfingstsonntag wurde das Buch dann zunächst den Kirchgängern öffentlich zum Kauf angeboten; wenige Stunden später schon beschlagnahmte der Rat der Stadt sämtliche noch unverkauften Exemplare, da darin angesehene Bürger der Stadt beleidigt würden (die Bücher wurden später verbrannt). Lemnius rechtfertigte sich in einem persönlichen Gespräch mit Melanchthon gegen die von ihm als lächerlich empfundenen Vorwürfe; noch am selben Tag wurde ihm im aber von einem Universitätsdiener im Namen des Rektors befohlen, Wittenberg nicht zu verlassen und am nächsten Tag vor dem Senat der Universität zu erscheinen. Freunde (vielleicht auch Melanchthon selbst, gleichsam als Privatmann und unter Hintansetzung seiner dienstlichen Pflichten) rieten Lemnius zur Flucht; tatsächlich folgte er ihrem Rat unter Zurücklassung seiner persönlichen Besitztümer schon am 10. Juni. Von Ratsknechten verfolgt und in Jüterbog von dem zur Reformation neigenden Abt von Zinna fast verhaftet, gelang Lemnius die Flucht in die von der lutherischen Bewegung noch nicht erfasste Mark Brandenburg. Hier erfuhr er unter anderem, dass Luther am 16. Juni in einer als Einblattdruck erschienenen Erklärung, die er in der Wittenberger Pfarrkirche verlas, die Todesstrafe für Lemnius gefordert hatte; eine Intervention, die, wie sein ganzes Verhalten in der Angelegenheit völlig ausserhalb seiner Zuständigkeitsbereiche lag. Was Luther mehr als alles andere entrüstete, war, dass Lemnius sein Buch dem (katholischen) Erzbischof von Mainz und Magdeburg Albrecht Kardinal von Brandenburg gewidmet hatte, der Luther seit dem Beginn des Ablassstreites besonders verhasst war. Luther sah in dieser Widmung einen Verrat an der Reformation und wollte an Lemnius ein grausames Exempel statuieren. Unter Wittenbergs Literaten ging damals Angst um, die auch Melanchthon erfasste, dem man Sympathien für Lemnius vorwarf. Am 4. Juli wurde Lemnius aufgrund der angeblich in seinen Gedichten enthaltenen Beleidigungen und seiner Flucht von der Wittenberger Universität relegiert. Diese Relegationsverfügung erging im Namen des Rektors der Universität Wittenberg, d. h. Melanchthons, wie auch schon zwei vorausgegangene Zitationen (Gerichtsvorladungen) vom 11. und 23. Juni. Alle diese Schreiben zeichnen sich durch einen äusserst strengen und harten Tonfall aus. Schon Lemnius selbst (in seiner Apologia, 180, Z. 14-18 im Textband der Edition von Mundt) sah in der Relegation keine authentische Meinungsäusserung Melanchthons, sondern ging davon aus, dass Melanchthon die Verfügung nur unter dem Druck Martin Luthers und des Justus Jonas in dieser Form veröffentlicht hatte; er hielt Justus Jonas für ihren eigentlichen Autor.
Lemnius verbrachte das nächste Jahr mit einer intensiven Reisetätigkeit. Im Juli 1538 dürfte er in Mainz Erzbischof Albrecht getroffen haben; andere belegte Stationen sind Worms und Frankfurt am Main. Im Oktober 1538 veröffentlichte er eine zweite Auflage seiner nun um ein drittes Buch erweiterten Epigramme, die vermutlich in Leipzig gedruckt wurde; dieses dritte Buch enthält direkte Angriffe auf Luther. Zudem passte Lemnius ein Epigramm im ersten Buch (1,7) den veränderten Umständen an. Im März 1539 publizierte er eine Apologia wider die ihm in Wittenberg gemachten Vorwürfe, nachdem ihm erstmals der Wortlaut der Relegation zugänglich geworden war. Im April folgte seine berühmt-berüchtigte Monachopornomachia (Mönchshurenkrieg), eine Zusammenstellung satirischer Dialoge, die das Intimleben Luthers und der Wittenberger Reformatoren Justus Jonas und Georg Spalatins bzw. ihrer Ehefrauen blossstellen. Die weitere Lebensgeschichte des Lemnius sowie die literaturgeschichtlichen Nachwirkungen seines Aufeinanderprallens mit Luther können nicht Teil dieser Einführung sein.
Das erste Buch der Epigramme umfasst 76, das zweite 97, das dritte 67 Epigramme; der Umfang der einzelnen Gedichte variiert zwischen 2 und 56 Versen. Das dritte Buch behandelt thematisch grösstenteils die Wittenberger Affäre; in den beiden ersten ist die Bandbreite wesentlich grösser. Lothar Mundt unterscheidet in Lemnius’ Werk sechs verschiedene Typen: 1. satirische Epigramme; 2. panegyrische Epigramme; 3. spielerische Epigramme; 4. «Freundschaftsgedichte»; 5. «Epigramme mit reflektierend-lehrhaftem Charakter» und 6. «Selbstdarstellungen». Mehrere davon wird man in den hier aufgenommenen Beispieltexten leicht identifizieren können. Unter den antiken Einflüssen ist naturgemäss das Vorbild Martials am meisten hervorzuheben (vgl. den Apparatus fontium). Unter den Renaissanceautoren identifizierte Georg Ellinger als wesentliche Einflüsse die «italienischen Neulateiner», namentlich Giovanni Pontano.
Bibliographie
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