Amores
Simon Lemnius
Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 10.02.2023.
Ausgaben: S. Lemnii Poetae Amorum Libri IIII, [Basel] 1542, hier: Aro (Ad Lectorem) und Bvvo-Bviiro (Ad Flaviam); Simon Lemnius, Amorum Libri IV. Liebeselegien in vier Büchern, herausgegeben und übersetzt von L. Mundt, Bern, Peter Lang, 1988, hier: 22-23 (Ad Lectorem) und 64-71 (Ad Flaviam).
Deutsche Übersetzungen: freie Nachdichtung der Elegie 2,2: Meisterstücke neulateinischer Liebesdichtung, Deutsch von G. Vorberg und W. Bähr, München, Georg Müller, 1920, hier: 19-23; eine andere Elegie aus der Sammlung (4,2) wurde übersetzt von G. Sieveking, «Die Beichte des Simon Lemnius an Gian Travers», Rätia 6 (1944), 179-190.
Metrum: elegisches Distichon.
1542 verlor Lemnius seine Anstellung an der städtischen Nikolaischule in Chur im heimatlichen Graubünden, die er seit 1539 innegehabt hatte. Es wurde früher in der Forschung vermutet, dies habe mit der Veröffentlichung seiner im gleichen Jahr erschienenen, recht freizügigen Amorum Libri IIII zu tun gehabt; da diese aber nachweislich erst nach seiner Entlassung erschienen, wird der Grund eher in einer Antipathie der Churer Reformatoren Comander und Blasius gegen den in Religionsfragen «offenkundig indifferenten» Dichter zu suchen sein, der zudem enge Beziehungen zu der französischen Partei in Graubünden und den französischen Botschaftern unterhielt, zu der die Reformatoren ein schlechtes Verhältnis hatten.
Das erste Buch der Amores umfasst drei Elegien (1. Elegia I. De Ledeide [Über die Ledeis]; 2. Elegia II; 3. Elegia III), das zweite Buch zwei (1. De Sardoa [Über die Sardinierin]; 2. Ad Flaviam [An Flavia]), das dritte Buch ebenfalls zwei (1. ohne Titel; 2. Ad Illyrida [An die Illyrerin]), das vierte fünf (1. Ad Volphgangum Saletium [An Wolfgang Salet]; 2. Ad Iacobum Traversium [An Jakob Travers]; 3. Ad Castillioneum Legatum [An den Legaten de Castion]; 4. Ad Marullam [An Marulla]; 5. Ad Philippum Gallitium [An Philipp Gallicius]). Das kürzeste Gedicht (4,1) umfasst 74 Verse, das längste (3,2) 440 Verse. Auf die einzelnen Elegien und ihren Inhalt kann hier nicht genauer eingegangen werden. Angemerkt sei aber, dass ein in mehreren Elegien wiederkehrendes Motiv die Ansprache einer abwesenden Geliebten ist, deren Fernsein der Dichter schmerzlich bedauert bzw. die er zum Kommen auffordert; dies verbindet sich nicht nur in Elegie 2,2 mit plastisch ausgeführten Erinnerungen an gemeinsam genossene Liebesfreuden. Es verdient auch Erwähnung, dass es in dieser Sammlung keine dominante Frauengestalt gibt, was in einer Sammlung lateinischer Liebeselegien nicht ungewöhnlich wäre (man denke etwa an die Cynthia des Properz oder die Corinna des Ovid etc.). Die Vierzahl der Bücher dürfte vermutlich dem Vorbild des Properz geschuldet sein (unter den augusteischen Liebeselegikern hat nur er genau vier Bücher hinterlassen); wie bei dem römischen Dichter tritt auch bei Lemnius im letzten Buch die erotische Thematik erkennbar zurück, ohne ganz zu verschwinden.
Als repräsentatives Beispiel – dem wir ausserdem noch das an den Leser gerichtete Gedicht der Titelseite voranstellen – wählen wir die bereits erwähnte Elegie 2,2, die sich als Brief an die Geliebte Flavia präsentiert (1-16). Der Dichter (bzw. seine persona im Gedicht) bekennt sich zu Flavia (und auch der Liebesgöttin Venus) als Inspirationsquelle seiner Dichtung (17-30). In einem längeren Rückblick (31-102) erzählt er begeistert von ihren gemeinsamen erotischen Erlebnissen. Die sich dabei aussprechende ungehemmte Sinnlichkeit und die nichts verhüllende, tabufreie Offenheit bei der Schilderung der Liebesvereinigung sind generell ein Charakteristikum dieser Amores-Sammlung und weist ihr in der neulateinischen Literatur ausserhalb Italiens eine Sonderrolle zu. Trotz gelegentlicher obszöner Akzente (V. 73: cunnus; V. 77-80) wird die Grenze zur Pornographie insgesamt nicht oder höchstens gelegentlich überschritten (dies gilt übrigens auch für die Elegiensammlung im Ganzen). Das Gedicht mündet in einen mythologischen Vergleich (103-122), der zugleich eine der poetisch am meisten gelungenen Passagen innerhalb der Amores ist: der Erschöpfungsschlaf der beiden Liebenden nach dem intensiven Liebesgenuss wird verglichen mit dem Schlaf, in den Hera und Zeus nach ihrer von Homer im 14. Buche der Ilias geschilderten Liebesvereinigung im Idagebirge verfallen waren. Durch dieses Gleichnis, das aufgrund der darin geschilderten Anteilnahme der Natur am Beisammensein der beiden Götter ins Kosmische ausgreift, wird das subjektive Liebeserlebnis des Lemnius (bzw. seines poetischen Ichs) in grösseren poetischen und natürlichen Zusammenhängen verankert.
Einer der grössten Kenner der neulateinischen Literatur, Georg Ellinger, bezeichnete die Amores des Lemnius – die er aufgrund ihrer unverhüllten Sinnlichkeit, ihrer Motivwiederholungen und ihrer mythologischen Einkleidungen im Übrigen durchaus auch kritisierte – aufgrund deren starken individuellen Färbung als den «Höhepunkt dieses Dichterlebens». In der Tat wird man mit Fug und Recht sagen können, dass sie ein modernes Publikum unmittelbarer ansprechen können als die meisten übrigen Werke des Lemnius.
Als literarische Haupteinflüsse auf Lemnius’ Liebesdichtung identifizierte Ellinger unter den antiken Autoren Ovid und Properz, und unter den Dichtern der Renaissance Titus Vespasianus Strozza (1425-1505) und Publius Faustus Andrelinus (1462-1518). Allerdings wirken die Hinweise Ellingers auf die genannten humanistischen Poeten bei näherer Betrachtung rein assoziativ. Auch wenn sich besonders bei Andrelinus unbestreitbar eine gewisse Freizügigkeit in der Darstellung finden lässt, legt bei näherer Betrachtung nichts mit Sicherheit nahe, dass Lemnius ihn gekannt und benutzt hat. Auch mit Blick auf andere einschlägige Autoren (Beccadelli, Pontano, Johannes Secundus etc.) ist es bisher nicht möglich gewesen, humanistische Vorbilder für die lemnianische Liebesdichtung eindeutig namhaft zu machen. Dies bedeutet freilich nicht zwingend, dass es sie nicht gegeben hat, und so ruht hier eine Aufgabe für weitere Forschung.
Bibliographie
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Hofmeister des Bischofs von Chur; vgl. Mundt (1988a), 160 (zum Titel). Sein Vater war der Johannes Travers, eine der wichtigsten Gestalten im Graubünden jener Zeit (zu ihm s. C. Wieser, «Travers, Johann», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 07.01.2014, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010878/2014-01-07/.