Elegie über Wilhelm Tell

Johannes Fabricius Montanus

Einführung: David Amherdt (traduction allemande: Clemens Schlip). Version: 10.02.2023.


Entstehungszeitraum: zwischen 1547 und 1550.

Ausgaben: Ad D. Conradum Pellicanum De Vuilhelmo Thellio elegia, Zürich, Gessner, 1550 (erste Fassung); Ioannis Fabricii Montani ad D. Conradum Pellicanum de Wilhelmo Thellio Elegia, hg. von L. Sieber, Basel, Schweighauserische Buchdruckerei, 1886, 70-76 (erste Fassung); Poemata. Sylvarum liber unus […], Zürich, Gessner, 1556, 70-76 (zweite Fassung); H. C. Schnur, Lateinische Gedichte deutscher Humanisten. Lateinisch und deutsch. Ausgewählt, übersetzt und erläutert von H. C. Schnur, Stuttgart, Reclam, 1966, 130-138 (zweite Fassung); Amherdt (2006; mit französischer Übersetzung); Amherdt (2018), 244-257 (mit französischer Übersetzung).

Metrum: elegische Distichen.

 

Die De Vuilhelmo Thellio elegia ist eine der ältesten poetischen Versionen der Tell-Legende. Eine erste Fassung (ohne Widmungsbrief), erblickte höchstwahrscheinlich 1550 das Licht der Welt. Eine zweite, durchgesehene und korrigierte Fassung erschien 1556 in den Poemata; diese Fassung präsentieren wir hier. Der ihr vorangehende Brief an Konrad Pellikan informiert uns darüber, dass die erste Fassung diesem zu Ehren geschrieben worden war.

Wie dieser Brief angibt, verfolgt Montanus ein patriotisches Ziel: der Jugend ein anregendes Beispiel zu liefern und ihr die Geschichte des Befreiers der Schweiz, Wilhelm Tells, zu erzählen, die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts begonnen hatte, das schwärmerische Interesse seiner Landsleute zu erregen, zu einer Zeit, als die Eidgenossenschaft für ihre Einheit und ihre Freiheit kämpfen musste. Montanus bringt auch einen Gedanken zum Ausdruck, der dem nordeuropäischen, besonders dem erasmischen, Humanismus lieb und teuer ist: Ein Machthaber darf sein Volk nicht unterdrücken, sondern soll ihm zu Diensten sein. So ist Tells Handeln legitim, weil es sich gegen Unterdrückung richtet – und daher ist auch die Tötung des Landvogtes Gessler gerechtfertigt; Montanus vermeidet es dennoch, sie ausdrücklich zu erwähnen.

Das Gedicht ist eines der ersten poetischen Werke des Montanus und gewiss keines seiner besten: Man muss in dieser Hinsicht dem negativen Eigenurteil des Autors beipflichten, das er in seinem Widmungsbrief fällt. Das Poem zeichnet sich durch seine (manchmal sklavische) Nachahmung der Klassiker aus: besonders des Ovid, aber auch des Vergil, des Tibull und des Properz. Als historische Quelle diente Montanus wahrscheinlich die Chronik des Petermann Etterlin, ein im Humanistenmilieu sehr bekanntes Werk, das stark dazu beigetragen hat, die Gründungsmythen der schweizerischen Eidgenossenschaft zu verbreiten. Was die grossen Linien angeht, so ist Montanus der Tradition treu, auch wenn er sich in den Einzelheiten einige Freiheiten herausnimmt. Er vermeidet eine trockene Nacherzählung der Tat Tells, indem er erbauliche oder sentimentale Details hinzufügt (zum Beispiel Gott als Beistand der Unterdrückten bzw. die Tränen, die Tell und sein Sohn vor dem Apfelschuss vergiessen); er verleiht dem Gedicht so einen eigenen Tonfall, der gerade den Geschmack junger Leute ansprechen kann. Sie sind die primären Adressaten dieses Gedichts, das sich in folgender Weise gliedern lässt:

1-18:  Die Herrschaft des guten Königs Rudolf

19-42: Der Machtmissbrauch der Vögte

43-124: Tells Heldentat

43-124: Die Apfelepisode

99-120: Die Schiffsepisode

121-124: Tells Treffen mit seinen Freunden

125-132: Gesslers Tod und die Wiedergewinnung der Freiheit

 

Bibliographie

Amherdt, D., Johannes Fabricius Montanus. Poèmes latins. Introduction, édition, traduction et commentaire, Bern, Schwabe, 2018.

Amherdt, D., «Le De Vuilhelmo Thellio elegia de l’humaniste Johannes Fabricius Montanus», Latomus 65 (2006), 986-1007.

Morerod, J.-D./Näf, A. (Hgg.), Guillaume Tell et la libération des Suisses, Lausanne, Société d’Histoire de la Suisse romande, 2010.