Epigramme und vermischte Gedichte
Rudolf Gwalther
Einführung: Kevin Bovier (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 10.02.2023.
Entstehungszeitraum: das Titelblatt, das den Gedichten vorangeht, trägt die Jahresangabe 1541 (fol. 29ro), einige Gedichte wurden aber schon in den 1540ern verfasst (z. B. auf fol. 62vo-64vo). Das späteste Datum in der Handschrift ist 1582 (fol. 126ro), aber es ist möglich, dass bestimmte Gedichte noch später entstanden sind (Gwalther verstarb 1586).
Handschrift (Autograph): R. Gwalther, [Lateinische Gedichte] [Zürich], 1540-1580, Zentralbibliothek Zürich, Ms D 152, fol. 49ro-vo, 90vo-91ro, 111ro.
Metren: elegische Distichen, sapphische Strophe.
Das Manuskript von Gwalthers Gedichten enthält mehr als vierhundert Epigramme und kurze Gedichte zu sehr verschiedenen Themen, wie schon ihr Titel klar macht: Sylva variorum et diversorum carminum et epigrammatum (fol. 29ro). Die Gedichte, deren Länge variiert, sind weder chronologisch noch thematisch geordnet. Man bemerkt, dass der Dichter sich sehr häufig an Personen richtet, mag es sich dabei um Fürsten, Diplomaten, örtliche Magistrate oder auch um Freunde handeln. Der Tonfall variiert sehr stark zwischen den Gedichten und wechselt von Lob zu Tadel, von Leichtigkeit zu Feierlichkeit. Trauer und Trost sind angemessen in den zahlreichen Epitaphen, die an verstorbene Freunde oder ihre Angehörigen gerichtet sind. Es gibt auch Gedichte über die Stadt Zürich und ihre Kirche, über Reformatorenporträts oder über Kunstwerke (wie die Werke des Goldschmieds Stampfer). Einige Gedichte wurden anlässlich des Erscheinens des Werkes eines Kollegen verfasst. Auch religiöse Polemik ist in einigen Gedichten sehr stark vertreten. Themen mit Bezug zur Antike sind eher selten. Manchmal gefällt sich Gwalther darin, mehrere Gedichte über ein und dasselbe Thema zu verfassen.
Um eine Idee von der Mannigfaltigkeit Gwalthers zu vermitteln, präsentieren wir hier fünf Texte. Der erste ist ein Trostgedicht an den Reformator Heinrich Bullinger und seine Gattin Anna (geborene Adlischwiler) nach dem Tod ihres Sohnes Felix. In diesem bewegenden Gedicht leiht der Dichter seine Stimme dem jungen Felix, der seinen Eltern erklärt, dass er nicht tot ist, sondern nun das ewige Leben geniesst. Man kann in diesem Zusammenhang ein Wortspiel mit dem Namen des Knaben festhalten (Motiv des nomen est omen); dies gestattet es dem Dichter, den Eltern Trost zu spenden, indem er die Glückseligkeit des Jungen (Felix, «der Glückliche») im Jenseits beschwört. Wenn das Gedicht seinem Wesen nach auch christlich ist, so wird ihm doch durch die Erwähnung der Ambrosia eine kleine «heidnische» Anmutung verliehen (V. 4, aetherea… fruor ambrosia).
Einen ganz anderen Ton schlagen die beiden folgenden Gedichte ein, in denen es um Johannes Fries oder Frisius geht, den Schwager und Freund Gwalthers, der eine der am häufigsten erwähnten Persönlichkeiten in der Sammlung ist (knapp dreissig Gedichte sind an ihn adressiert). Der Dichter stellt Fries in zwei komischen Situationen dar: Zuerst steigt er auf ein Pferd, dass ein feines Sensorium für den Seelenzustand seines Herren hat; dann verrichtet er seinen Stuhlgang unter einer Eiche. Im ersten erwähnten Gedicht ist der Ton ab dem erste Vers durch die Erwähnung einer Geliebten (amica) vorgegeben, die Verwirrung stiftet und die komische Situation auslöst. Man denkt automatisch an die römischen Elegien: der limen (die Türschwelle) im ersten Vers erinnert an das antike Motiv des paraclausithyron (die Klagen des Liebhabers, der die Tür seiner Geliebten für sich verschlossen findet), und der folgende Vers spielt auf eine Elegie Tibulls an, in der dasselbe Motiv begegnet. Der Rest des Gedichts vermischt die Satire mit der Erotik. Im achten Vers nimmt man wahr, wie der Dichter einen Vers Ovids (epist. 4,80) abwandelt, in dem Phädra die Füsse des Hippolytos bewundert; Gwalther spricht dagegen von den Hufen des Pferdes, wobei er sich vielleicht von der Erwähnung von Pferden in der bei Ovid unmittelbar vorangehenden Passage inspirieren lässt (epist. 4,79, ferocis equi). Der Schluss evoziert den vergeblichen Versuch des Fries, seine Liebesempfindung zu verheimlichen, die doch selbst das Pferd wahrnehmen kann! Auch hier ist möglich, dass Gwalther sich von einer anderen Heroïde Ovids inspirieren liess, in der Medea bemerkt, dass sie ihre Empfindungen für Jason nicht verbergen kann. Was das zweite Gedicht angeht, den Frisius defecans, so ist es kürzer und gehört durch seinen ungeschminkten Inhalt und seine Schlusspointe eher zur epigrammatischen Gattung. Indem er das Ende eines Verses des Vergil aufgreift, schafft Gwalther einen Kontrast zwischen der trivialen Tätigkeit des Fries und ihrem bukolischen Dekor.
Das vierte Gedicht ist eine Vaterunser-Paraphrase (das Vaterunser wird auch Herrengebet genannt); jede Strophe entspricht einem Vers des Gebets. Dieses Gedicht steht im Unterschied zu den anderen in der sapphischen Strophe. Hier ist der Ton fromm und feierlich. Die Erwähnung des Olymps gleich im ersten Vers mag auf den ersten Blick verwundern, dieser Begriff wird aber auch von christlichen Autoren nicht selten zur Bezeichnung des Himmels herangezogen. Eine solche Anleihe kann überraschend erscheinen in einem Text, in dem es um den christlichen Glauben und besonders um das Heil geht; doch das beweist, dass der Dichter, der auch ein Humanist ist, sich nicht davor fürchtet, Elemente der antiken Dichtung zu verwenden, um seinen auf Christianisierung zielenden Entwurf umzusetzen. In diesem Gedicht wird die Beunruhigung Gwalthers über die zeitgenössischen Ereignisse deutlich, die er für hart und bedrohlich hält (V. 9, mundi rigidum minaxque), was so weit führt, dass ihm die Tränen kommen (V. 10, lachrymas rigamus). Sein beständiger Appel an das göttliche Wohlwollen dient gewissermassen dazu, diese Bedrohungen zu bannen. Das Gedicht endet mit der angsterregenden Erwähnung der Hölle (V. 32, carceris aestu), die von der Heilshoffnung kaum aufgewogen werden kann.
Das letzte Gedicht, das wir hier präsentieren, besitzt einen patriotischen Charakter, ein Aspekt, der in der restlichen Sammlung kaum eine Rolle spielt. Diese zwei Distichen vermitteln ein gewisses Bild von der Schweizer Eidgenossenschaft, die durch ihre Freiheitsliebe charakterisiert ist (V. 1, libertatis amor); dies ist ein patriotischer Topos, den die Schweizer Humanisten gerne verwenden. Ein anderes wichtiges Ziel besteht für den Dichter darin, die Unverbrüchlichkeit der Beziehungen zwischen den Eidgenossen zu demonstrieren (V. 2, foedere perpetuo), auch wenn die Realität komplexer ist. Das letzte Distichon appelliert an Gottes Schutz (V. 3, gentem defende) und ruft mittels der zuvor erwähnten, idealisiert vorgestellten Vergangenheit zu Respekt gegen die Tradition der Vorfahren auf (V. 3-4, virtutibus auge patriis).