Elegie an einen Schüler
Heinrich Glarean
Einführung: David Amherdt (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 10.02.2023.
Entstehungszeitraum: terminus ad quem: 1512 (Veröffentlichung von In divi Maximiliani… carmen).
Veröffentlichungen: In divi Maximiliani Romanorum Imperatoris… laudem et praeconium Henrici Glareani Helvetii… carmen panegyricum, [Köln], [von Neuss], [1512], fol. 5vo-6ro; Duo elegiarum libri, Basel, Froben, 1516, hier: fol. I2r°; J. Gruterus, Delitiae poetarum Germanorum huius superiorisque aevi illustrium, Bd. 3, Frankfurt, J. Fischer, 1612, hier:1293-1294.
Metrum: elegische Disticha.
Im Jahr 1516 veröffentlichte Heinrich Glareanus in Basel bei Froben zwei Bücher Elegien. Die Sammlung ist Ulrich Zwingli gewidmet. Der Dichter ist damals 28 Jahre alt und wohnt seit zwei Jahren in der Rheinstadt, in der er ein Pensionat für Studenten eröffnet hat. Das kleine Buch beginnt mit einem auf «Basel, den 13. Dezember 1516» datierten Brief, der an Ulrich Zwingli adressiert ist. Glarean erläutert darin seine Absichten. Er habe sich, so bekräftigt er zu Beginn, jeder Obszönität enthalten, ganz im Gegensatz zu den meisten seiner Vorgänger, da er mehr zu nützen als zu gefallen wünsche!
Das erste Buch, das er als «panegyrisch» (πανηγυρικός) klassifiziert, enthalte Elegien, die bemerkenswerte Persönlichkeiten lobend hervorheben sollen; das zweite sei «didaktisch» (διδασκαλικός) und ziele darauf ab, junge Leute «zur Tugend und zur Zurückhaltung» aufzufordern, in welchen, wie Glarean fortfährt, «die erste Pflicht eines Christen besteht». Und der junge Professor bekräftigt in der Nachfolge des heiligen Hieronymus, dass bestimmte Autoren «sich darin gefallen, mehr catullisch und properzisch als paulinisch und christlich zu sein»! Abschliessend, und nicht ohne sein Werk als «Pfusch» abgetan zu haben, bekräftigt er seine Anhänglichkeit an seinen gelehrten und tugendsamen Widmungsträger.
Das erste Buch besteht aus neun Elegien, die Elogen für folgende Männer darstellen: Erasmus von Rotterdam (1,1), Renée de Savoie (1,2), den Basler Theologen Ludwig Bär (1,3), die Kölner Hermann Rinck (1,4) und Mathias Cremer (1,5), den Graubündners Hieronymus Artolf (1,6), den Baslers Agabert Salzmann (1,7), den Luzerner Oswald Myconius (1,8) und schliesslich einen gewissen Jakob von Rottweil (1,9).
Das zweite Buch besteht aus zehn moralischen Ermahnungen, alle in elegischen Distichen, die an Jugendliche oder junge Erwachsene adressiert sind, von denen einige nicht mit Sicherheit identifiziert werden können. Es handelt sich entweder um Studienkollegen oder Schüler des Dichters: den Kölner Wilhelm Gallinarius (2,1 und 2,10), den Glarner Peter Tschudi (2,2), den Luzerner Ludwig Carinus (2,3), Daniel Ifflinger (2,4) und seinen Bruder Johannes (2,5), alle beide aus Rottweil, den Sachsen Heinrich Trevanus (2,6), den Kölner Antonius Selidanus (2,7), den Franken Karl Caritnius (2,8) und Nikolaus Cunelius aus Stuttgart (2,9).
Die zehn Elegien des zweiten Buches haben eine identische Struktur: eine Einführung (Gruss, Vorstellung des Empfängers), eine lange Ermahnung (zur Tugend, im Besonderen zur Tugend der Keuschheit, und zum Gebet zu Christus, zu Maria und zu den Heiligen, wobei das Ziel darin besteht, das Himmelreich zu erlangen). Glarean geht allgemein von einer pessimistischen Sicht auf die irdische Situation des Menschen aus, der, in seinem Körper gefangen, unentwegt gegen seine bösen Neigungen kämpfen muss (Glareans Ansicht über das Verhältnis zwischen Seele und Körper ist im Grunde platonisch), um sicher sein zu können, dass er die Prüfung des Gerichts bestehen und zur himmlischen Ruhe gelangen kann.
Nicht zufrieden damit, jungen Leute zum häufigen Gebet zu Christus und den Heiligen zu raten, stellt Glarean ihnen exempla und Vergleichsmassstäbe aus der Antike und dem Mythos vor Augen, die diesen Studenten dank ihrer humanistischen Erziehung bekannt waren; die tugendhaften römischen Helden sind besonders nachahmenswerte Vorbilder.
Das Altertum beeinflusst die Elegien noch in anderer Hinsicht: Reminiszenzen an, Nachahmungen von und Zitate aus antiken Autoren, die Gegenwart der Musen und ihrer Wohnstätten, die Anwesenheit Apollos, Homers, des Plektrums und der Lyra des Dichters etc.
Alle diese Themen treten zusammen auf in der Elegie 2,4, die wir hier präsentieren. Anders als die übrigen Gedichte aus der Sammlung von 1516 war sie bereits früher schon einmal veröffentlicht worden, nämlich in der ersten Ausgabe des Panegyrikus auf Maximilian I. von 1512. Sie ist an Daniel Ifflinger aus Rottweil (Erythropolis) adressiert. Mit seinem Bruder Johannes, dem Widmungsträger der Elegie 2,5, immatrikulierte er sich 1510 an der Kölner Universität, zu der Zeit also, als Glarean magister wurde; er war also höchstwahrscheinlich, ganz wie sein Bruder, ein Schüler des jungen Glarean. Im Mai 1514 finden sich die beiden Brüder in den Einschreibungsregistern der Universität Freiburg im Breisgau.
Gliederung des Gedichtes
1-10 (Einführung): Glarean fordert Daniel auf, sein Gedicht und die darin enthaltenen Ratschläge anzuhören. Er muss sich seiner Eltern würdig erweisen und darf seine Jugend nicht mit Lastern beschmutzen.
11-49 (Ermunterung):
11-20: Daniel muss Christus ehren, der ihm alles geschenkt hat, und Maria, die ihn beschützt
21-24: Die Tugend macht es möglich, in den Himmel zu kommen.
25-28: Das Tugendvorbild der Helden oder grossen Männer des alten Roms.
29-32: Er soll sich seine Eltern zum Vorbild nehmen.
33-36: Er soll seine Freunde sorgfältig auswählen und Fresssäcke und Trinker meiden.
37-46: Lob der Keuschheit, mit dem bemerkenswerten Beispiel des Herkules, der von Frauen verführt wurde.
47-50 (Schluss): Glarean ist bereit, Daniel noch andere Ratschläge zu geben; er wünscht ihm alles Gute.
Bibliographie
Amherdt, D., «Les élégies de Glareanus aux jeunes étudiants: des conseils pour la vie (éternelle)», in: A. Neumann-Hartmann/Th. Schmidt (Hgg.), Munera Friburgensia. Festschrift zu Ehren von Margarethe Billerbeck, Bern, Lang, 2015, 263-277.
Bietenholz, P. G. u. a. (Hgg.), Contemporaries of Erasmus. A biographical register of the Renaissance and Reformation, Bd. 1, Toronto, University of Toronto Press, 1985.
Bietenholz, P. G. u. a. (Hgg.), Contemporaries of Erasmus. A biographical register of the Renaissance and Reformation, Bd. 2, Toronto, University of Toronto Press, 1986.
Franken, R., «Die Kölner Studienstiftungen in der Frühen Neuzeit», in: J. Flöter/Ch. Ritzi (Hgg.), Bildungsmäzenatentum: privates Handeln, Bürgersinn, kulturelle Kompetenz seit der Frühen Neuzeit, Köln, Böhlau, 2007, 73-84.
Hecht, W., «Rottweil zur Zeit Glareans», in: N. Schwindt (Hgg.), Heinrich Glarean oder: Die Rettung der Musik aus dem Geist der Antike?, Kassel, Bärenreiter, 2006, 93-102.
Keussen H., Die Matrikel der Universität Köln, Bd. 2 (1476-1559), Bonn, Behrendt, 1919, ND Düsseldorf, Droste, 1979.
Mahlmann-Bauer, B., «Frömmigkeit zwischen Reformation und Gegenreformation im antiken Gewand. Das Beispiel der Gedichte Heinrich Glareans. Mit einem Exkurs zu einer Vertonung Glareans von Melanie Wald», in: U. Heinen (Hg.), Welche Antike? Konkurrierende Rezeptionen des Altertums im Barock, Bd. 2, Wiesbaden, Harrassowitz, 2011, 667-721.
Sauerborn, F.-D., «Michael Rubellus von Rottweil als Lehrer von Glarean und anderen Humanisten: zur Entstehungsgeschichte von Glareans Dodekachordon», Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 54 (1995), 61-75.
Wackernagel, H. G., Die Matrikel der Universität Basel, Bd. 1 (1460-1529), Basel, Verlag der Universitätsbibliothek Basel, 1951.
Eine detailliertere Besprechung dieser Elegien findet sich bei Amherdt (2015), dem wir hier sehr eng folgen.
… in quo [libro] optimae indolis iuvenes ad virtutes et praecipue ad pudicitiam adhortatus sum, id quod potissimum hominis Christiani puto («...in diesem Buch habe ich hochbegabte junge Leute zu einem tugendhaften und besonders einem keuschen Leben ermutigt, weil ich das für eine ganz besondere Christenpflicht halte»).
Siehe die detaillierte Beschreibung dieses Bandes auf der Homepage der Opera poetica Basiliensia (http://www.ub.unibas.ch/cmsdata/spezialkataloge/poeba/poeba-003233131.html; letztmals aufgerufen im April 2020). Die Elegien des ersten Buches bestehen aus elegischen Distichen, abgesehen von den Elegien 2 und 3, die nach dem Vorbild von Hor. carm. 4,7 im Versmass der ersten archilochischen Strophe verfasst sind. Kurz vorgestellt wird die Sammlung auch bei Mahlmann-Bauer (2011), 672.
Zu dieser Person (1475/1480-1548), die damals Notar an der bischöflichen Kurie von Basel war, siehe S. Hess, «Salzmann, Adalbert», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 10.01.2011, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/014759/2011-01-10/
Wir haben keine andere genaue Angabe zu dieser Person, die bei Sauerborn (1995), 66 und Hecht (2006), 94 und 99 ohne Identifikation genannt wird. Die Elegia pentacontosticha in Jacobum Argentinensem aus dem Codex Monacensis Clm 28325, fol. 53ro-vo (dieses Manuskript, das in Abschrift praktisch das gesamte dichterische Werk Glareans enthält, wird präsentiert in Mahlmann-Bauer (2011), 682-684), ist offensichtlich an dieselbe Person adressiert, weil die vier ersten Verse der beiden Gedichte identisch sind und die Verse 7-8 unserer Elegie 1,9 auch in der handschriftlichen Elegie auftreten; in dieser letzteren kommt Jakob aus Strassburg und nicht aus Rottweil, und darüber hinaus wird er nicht als mathematicus, sondern als physicus bezeichnet.
Der Ton und der Inhalt der Elegien gestatten den Schluss, dass Glarean sich an Jugendliche wendete, die sich in ihren ersten Studienjahren an der Universität befanden. Wir wissen beispielshalber, dass Ludwig Carnus (von dem weiter unten noch die Rede sein wird) 15 Jahre alt war, als er sich an der Basler Universität einschrieb.
Von ihm und seinem Bruder wird noch die Rede sein.
Nicht identifizierbar. Trevanus: der einzige Ort in Sachsen, der zu diesem Namen passen könnte, ist der kleine Ort Treuen.
[1] Nicht identifizierbar. Selidanus: von Schleiden? Wenn die Person in Basel studierte (dies wird noch thematisiert werden) und nicht in Köln, könnte es sich um «Anthonius Colonus de Núrmberg Babenberg. dyoc.» handeln, den Wackernagel (1951), 318, Nr. 10 angibt (im Jahr 1513)? Aber in diesem Fall weiss man nicht, was man mit Sleidanus machen soll.
Siehe besonders unser Gedicht, und auch 2,6,15-16 und 20: der junge Mann soll sich vor schmeichlerischer Liebe schützen, vor unwürdigen Frauen oder sogar vor der «Frauenarmee» (2,6,20: Foemineamque aciem).
Siehe H. Keussen, Die Matrikel der Universität Köln, Bd. 2 (1476-1559), Bonn, P. Hansteins Verlag, 1919, 669, Nr. 88 (Daniel) und 670, Nr. 95 (Johannes). Ihre Einschreibungen legen nahe, dass sie tatsächlich aus Villingen kamen, etwa zehn Kilometer südwestlich von Rottweil gelegen.