Autobiographische Ekloge Faustus
Joachim Vadian
Einführung: Kevin Bovier (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip)
Entstehungszeitraum: zwischen dem 2. November 1516 (Tod des Angelo Cospi, dessen Lehrstuhl Vadian übernahm) und dem 1. Januar 1517 (Datum des Widmungsbriefes).
Ausgabe: Aegloga, cui titulus Faustus. De insignibus familiae Vadianorum, ad Melchiorem fratrem elegia exegitica, Wien, Singrenius, 1517, fol. Biir°-Biiir°.
Metrum: Hexameter.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Gedichts ist Vadian Professor für Poetik am Collegium poetarum und Rektor der Universität Wien. In dem Widmungsbrief an den kaiserlichen Rat Johann Krachenberger kommt er auf seine kürzlich (1516) erfolgte Berufung auf die Professur für Poetik als Nachfolger des Angelo Cospi zurück und erinnert daran, dass er schon zuvor zwei Jahre lang (1512-1514) Johannes Cuspinianus ersetzt hatte, der von seiner diplomatischen Tätigkeit in kaiserlichen Diensten in Beschlag genommen gewesen war. Diese Vertretungstätigkeit hatte laut Vadian eifersüchtige Reaktionen hervorgerufen. Um seine Professur unter besseren Auspizien anzutreten, möchte er von seiner Laufbahn in Wien mit ihren Höhen und Tiefen berichten, und er möchte dies in Form einer Ekloge und auf allegorische Weise tun. Damit alle den Sinn des Gedichts verstehen können, erklärt er sodann, welche wirklichen Personen den Gestalten seiner Ekloge entsprechen: Phronimus (der «Kluge») ist Kaiser Maximilian, Alcon ist Cuspinianus, die schöne Lycoris ist die Stadt Wien, Anolbus ist ein (anonym bleibender) neidischer Gegner, Lycidas (eine Gestalt aus der siebten und achten Ekloge Vergils) ist Krachenberger und Faustus («der glückliche, erfolgreiche Mann») steht für Vadian selbst.
Diese 306 Hexameter umfassende Ekloge gründet auf dem vergilianischen Modell, und das ist kein Zufall; zum einen hatte Vadian nach seinem Amtsantritt eine Veranstaltung zu den Georgica gehalten, zum anderen passt das Sujet gut zu der Gattung der Bukolik, wie Vergil sie praktiziert hatte. Vadians Ekloge ist ein Dialog zwischen den zwei Hirten Lycidas und Faustus. Die Handlung spielt auf dem Lande, inmitten ihrer Herden und im Schatten der Bäume. Lycidas trifft Faustus, der nicht, wie es sonst seine Gewohnheit ist, auf der Flöte spielt, die Phronimus ihm geschenkt hatte; er hat sie einem Zornanfall zerbrochen. Faustus erklärt Lycidas, was passiert ist. Er hatte fette Weidegründe von Alcon gepachtet, der sich im Auftrag seines Herrn Phronimus um andere Geschäfte kümmern musste. Doch dann musste er einen schrecklichen Sturm hinnehmen, der das Haus, den Stall und die Herde vernichtet hat; sintflutartiger Regen ist auf das Land niedergeprasselt und hat die Ernte zunichte gemacht; Hagel hat die Bäume zerschlagen. Nach diesem Desaster hat er jede Hoffnung verloren und seine Flöte zerschlagen. Doch da ist Phronimus wie ein wohlwollender Gott auf der Bildfläche erschienen und hat ihm das das Land geschenkt, so dass der Mut des Faustus zurückkehrt und er fortan eine grenzenlose Dankbarkeit gegenüber seinem Wohltäter empfindet; das ist der in dem von uns ausgewählten Auszug geschilderte Moment (V. 222-259).
Der Landverpachtung durch Alcon-Cuspinianus steht für den Vertretungsdienst Vadians. Die zerbrochene Flöte ist der Lehrstuhl, den Vadian seit 1512 innehatte, der ihm aber 1514 zugunsten Cospis verlorengegangen war. Die Musik, die dieses Instrument hervorbringt, ist der humanistische Unterricht, der die scholastische Ausbildung des Neiders Anolbus ersetzen sollte. Die Intervention des Phronimus am Ende steht für Vadians Ernennung durch Kaiser Maximilian. Doch die Beziehung zu den bukolischen Gedichten Vergils beschränkt sich nicht auf die Form: wie Gaier in Erinnerung ruft, erlangte Vergil durch eine Intervention des Konsuls Asinius Pollion und des Octavian (des künftigen Augustus) seine Güter wieder, die während des Bürgerkriegs enteignet worden waren; Asinius Pollio und Ocavian sind also die Modelle für Cuspinianus und Maximilian. Der Zusammenhang zwischen den beiden Kaisern wird in V. 237 deutlich, wo die Replik ille mihi… deus extat («jener ist mir...ein Gott», womit Phronimus-Maximilian gemeint ist) den siebten Vers der ersten Ekloge Vergils in Erinnerung ruft, der seinerseits auf Octavian anspielt: namque erit ille mihi semper deus («denn dieser wird immer ein Gott für mich sein»).
Bibliographie
Biehl, H., Die Faustusekloge und die Wappenelegie des Joachim von Watt, Diss. (masch.), Wien, 1948.
Gaier, U., «Vadian und die Literatur des 16. Jahrhunderts», in: W. Wunderlich/R. Kalkofen (Hgg.), St. Gallen. Geschichte einer literarischen Kultur. Kloster, Stadt, Kanton, Region, Bd. 1: Darstellung, St. Gallen, UVK Verlag, 1999, 249-298.
Gamper, R., Joachim Vadian, 1483/84-1551. Humanist, Arzt, Reformator, Politiker, Zürich, Chronos Verlag, 2017.
Näf, W., Vadian und seine Stadt St. Gallen, vol. 1: Humanist in Wien, St. Gallen, Fehr’sche, 1944.
Schirrmeister, A., «Vadian, Joachim», Deutscher Humanismus 1480-1520. Verfasserlexikon 2 (2013), 1177-1237.