Einführung:Kevin Bovier (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 10.02.2023.
Entstehungszeitraum: zwischen dem 2. November 1516 (Tod des Angelo Cospi, dessen Lehrstuhl Vadian übernahm) und dem 1. Januar 1517 (Datum des Widmungsbriefes).
Ausgabe: Aegloga, cui titulus Faustus. De insignibus familiae Vadianorum, ad Melchiorem fratrem elegia exegitica, Wien, Singrenius, 1517, fol. Biir°-Biiir°.
Metrum: Hexameter.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Gedichts ist Vadian Professor für Poetik am Collegium poetarum und Rektor der Universität Wien. In dem Widmungsbrief an den kaiserlichen Rat Johann Krachenberger kommt er auf seine kürzlich (1516) erfolgte Berufung auf die Professur für Poetik als Nachfolger des Angelo Cospi zurück und erinnert daran, dass er schon zuvor zwei Jahre lang (1512-1514) Johannes Cuspinianus ersetzt hatte, der von seiner diplomatischen Tätigkeit in kaiserlichen Diensten in Beschlag genommen gewesen war. Diese Vertretungstätigkeit hatte laut Vadian eifersüchtige Reaktionen hervorgerufen. Um seine Professur unter besseren Auspizien anzutreten, möchte er von seiner Laufbahn in Wien mit ihren Höhen und Tiefen berichten, und er möchte dies in Form einer Ekloge und auf allegorische Weise tun. Damit alle den Sinn des Gedichts verstehen können, erklärt er sodann, welche wirklichen Personen den Gestalten seiner Ekloge entsprechen: Phronimus (der «Kluge») ist Kaiser Maximilian, Alcon ist Cuspinianus, die schöne Lycoris ist die Stadt Wien, Anolbus ist ein (anonym bleibender) neidischer Gegner, Lycidas (eine Gestalt aus der siebten und achten Ekloge Vergils) ist Krachenberger und Faustus («der glückliche, erfolgreiche Mann») steht für Vadian selbst.
Diese 306 Hexameter umfassende Ekloge gründet auf dem vergilianischen Modell, und das ist kein Zufall; zum einen hatte Vadian nach seinem Amtsantritt eine Veranstaltung zu den Georgica gehalten, zum anderen passt das Sujet gut zu der Gattung der Bukolik, wie Vergil sie praktiziert hatte. Vadians Ekloge ist ein Dialog zwischen den zwei Hirten Lycidas und Faustus. Die Handlung spielt auf dem Lande, inmitten ihrer Herden und im Schatten der Bäume. Lycidas trifft Faustus, der nicht, wie es sonst seine Gewohnheit ist, auf der Flöte spielt, die Phronimus ihm geschenkt hatte; er hat sie einem Zornanfall zerbrochen. Faustus erklärt Lycidas, was passiert ist. Er hatte fette Weidegründe von Alcon gepachtet, der sich im Auftrag seines Herrn Phronimus um andere Geschäfte kümmern musste. Doch dann musste er einen schrecklichen Sturm hinnehmen, der das Haus, den Stall und die Herde vernichtet hat; sintflutartiger Regen ist auf das Land niedergeprasselt und hat die Ernte zunichte gemacht; Hagel hat die Bäume zerschlagen. Nach diesem Desaster hat er jede Hoffnung verloren und seine Flöte zerschlagen. Doch da ist Phronimus wie ein wohlwollender Gott auf der Bildfläche erschienen und hat ihm das das Land geschenkt, so dass der Mut des Faustus zurückkehrt und er fortan eine grenzenlose Dankbarkeit gegenüber seinem Wohltäter empfindet; das ist der in dem von uns ausgewählten Auszug geschilderte Moment (V. 222-259).
Der Landverpachtung durch Alcon-Cuspinianus steht für den Vertretungsdienst Vadians. Die zerbrochene Flöte ist der Lehrstuhl, den Vadian seit 1512 innehatte, der ihm aber 1514 zugunsten Cospis verlorengegangen war. Die Musik, die dieses Instrument hervorbringt, ist der humanistische Unterricht, der die scholastische Ausbildung des Neiders Anolbus ersetzen sollte. Die Intervention des Phronimus am Ende steht für Vadians Ernennung durch Kaiser Maximilian. Doch die Beziehung zu den bukolischen Gedichten Vergils beschränkt sich nicht auf die Form: wie Gaier in Erinnerung ruft, erlangte Vergil durch eine Intervention des Konsuls Asinius Pollion und des Octavian (des künftigen Augustus) seine Güter wieder, die während des Bürgerkriegs enteignet worden waren; Asinius Pollio und Ocavian sind also die Modelle für Cuspinianus und Maximilian. Der Zusammenhang zwischen den beiden Kaisern wird in V. 237 deutlich, wo die Replik ille mihi… deus extat («jener ist mir...ein Gott», womit Phronimus-Maximilian gemeint ist) den siebten Vers der ersten Ekloge Vergils in Erinnerung ruft, der seinerseits auf Octavian anspielt: namque erit ille mihi semper deus («denn dieser wird immer ein Gott für mich sein»).
Bibliographie
Biehl, H., Die Faustusekloge und die Wappenelegie des Joachim von Watt, Diss. (masch.), Wien, 1948.
Gaier, U., «Vadian und die Literatur des 16. Jahrhunderts», in: W. Wunderlich/R. Kalkofen (Hgg.), St. Gallen. Geschichte einer literarischen Kultur. Kloster, Stadt, Kanton, Region, Bd. 1: Darstellung, St. Gallen, UVK Verlag, 1999, 249-298.
Gamper, R., Joachim Vadian, 1483/84-1551. Humanist, Arzt, Reformator, Politiker, Zürich, Chronos Verlag, 2017.
Näf, W., Vadian und seine Stadt St. Gallen, vol. 1: Humanist in Wien, St. Gallen, Fehr’sche, 1944.
Schirrmeister, A., «Vadian, Joachim», Deutscher Humanismus 1480-1520. Verfasserlexikon 2 (2013), 1177-1237.
Vadian (1517), fol. Aiiro. Dieser Brief ist auch veröffentlicht in Die Vadianische Briefsammlung der Stadtbibliothek St. Gallen, Bd. 1, 1508-1518, hg. von E. Arbenz, St. Gallen, Fehr, 1889, 245, Anhang Nr. 16.
3
Johann Krachenberger, alias Pierius Graccus (um 1460-1518) ist 1475 als Student in Wien belegt und hielt sich 1488 in Ingolstadt auf; wenig später wurde er Sekretär in der kaiserlichen Kanzlei in Linz. 1497 wurde er Protonotar in Österreich, kaiserlicher Rat, Mitglied des Regiments der Territorien von Niederösterreich und kaiserlicher Gesandter in Ungarn. Er war ein Promotor des Humanismus und Mitglied der sodalitas literaria Danubiana (H. Rupprich, «Krachenberger, Johann», Neue Deutsche Biographie 12 (1980), 631, Onlineversion, https://www.deutsche-biographie.de/pnd129038563.html#ndbcontent).
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Angelo Bartolomeo Cospi (1430-1516) erlangte sein Diplom an der Universität von Bologna, wo er zwischen 1505 und 1507 Professor für Rhetorik war. 1513 nahm er den Platz seines Vaters im Senat von Bologna ein und war Mitglied der Gesandtschaft seiner Stadt an Papst Leo X. In Wien übernahm er 1514 die Professur des Cuspinianus. Im gleichen Jahr veröffentlichte er eine lateinische Übersetzung der Unglaubliche Geschichten des Palaiphatos. Kurz vor seinem Tod erschien eine lateinische Übersetzung Diodorus Siculus, der er noch die von ihm so genannte Vita Alexandri des Joannes Monachus hinzugefügt hatte, bei der es sich in Wahrheit um einen Auszug aus der Epitome historiarum des Johannes Zonaras handelte (vgl. J. Monfasani, «Diodorus Siculus», in: Catalogus translationum et commentariorum, hg. von G. Dinkova-Bruun u. a., Bd. 11, Toronto, Pontifical Institute of Mediaeval Studies, 2016, 128 und 135).
5
Johannes Cuspinianus (1473-1529) studierte ab 1490 Leipzig. Er wurde 1493 von Kaiser Maximilian I. zum poeta laureatus gekrönt. 1493-1494 studierte er in Wien. 1499 wurde er zum Doktor der Medizin promoviert und im Folgejahr zum Rektor der Universität ernannt. 1508 folgte er Conrad Celtis auf dem Lehrstuhl für Poetik und Rhetorik nach, doch seine Mission als kaiserlicher Orator in Ungarn (1510) hinderte ihn daran, als Arzt zu praktizieren und seinen Verpflichtungen als Professor nachzukommen. Der Kaiser dankte ihm für seine diplomatischen Dienste durch eine Ernennung zum kaiserlichen Rat (1512) und später noch durch die Berufung zum Stadtadvokaten von Wien (1515). Cuspinianus diente später auch noch Ferdinand I. und Karl V. S. dazu H. A. von Kleehoven, «Cuspinianus, Johannes» Neue Deutsche Biographie 3 (1957), 450-452, Onlineversion, https://www.deutsche-biographie.de/pnd11867756X.html#ndbcontent.
6
Vadian (1517), fol. A ii ro: Cum nuper Angelus Cospus Bononiensis […] vita defunctus esset et ego in bonarum literarum professione, quae Viennae Caesareo stipendio multis iam annis durat, successor factus fuissem, perbelle illud prope omnibus placuit, hisque maxime quorum fuit in ea re statuendi autoritas; nam quanta fide ante diligentiaque annis plus minus duobus, loco Ioannis Cuspiniani oratoris Caesarei, dum creberrimis legationibus premeretur, legerim, recenter meminerant («Als neulich Angelo Cospi aus Bologna verstarb und ich sein Nachfolger in der Professur für die schönen Wissenschaften wurde, die in Wien aufgrund eines kaiserlichen Stipendiums schon viele Jahre lang dauerhaft existiert, da gefiel das fast allen sehr gut, besonders denen, die in dieser Angelegenheit autoritativ entscheiden konnten; denn sie erinnerten sich noch lebendig daran, wie zuverlässig und sorgfältig ich vor ungefähr zwei Jahren in Vertretung des Johannes Cuspinianus Vorlesungen gehalten hatte, als dieser von seinen häufigen Gesandtschaftsreisen in Beschlag genommen worden war.»).
7
Ebd.: Multi vero aemulationis et invidiae suae non obscura de se indicia praebuerunt, quos eo admisi libentius, quod rem tam utilem, quam honorificam contigisse mihi suo dolore faterentur («Viele aber haben ihre Eifersucht und ihren Neid deutlich zum Ausdruck gebracht; was ich ihnen deshalb sehr gerne gestatte, weil durch ihren Schmerz ein Bekenntnis ablegen, das mir ein Amt zuteilgeworden ist, das seinem Inhaber sowohl Nutzen als auch Ehre einträgt»).
8
Ebd.: Interim, ut auspicaciori passu destinatum munus obirem, totam seriem obtentae lecturae, qua proximo biennio libenter carui, pigmento Buccolico allegoricos subtexui, stilo minime affectato, sensuque perquam aperto, ne quid decoro carminis deforet («Inzwischen habe ich, um das mir zugdachte Amt unter besseren Auspizien antreten zu können, habe ich mit bukolischer Farbe und in allegorischer Weise die ganze Kette der Ereignisse bedichtet, die in Beziehung zu dem von mir innegehabten Lehrstuhl stehen, auf den ich in den letzten zwei Jahren gerne verzichtet habe, in einem nur ganz einfachen Stil und mit einer offen zu Tage liegenden Bedeutung, damit mein Gedicht keiner Zierde entbehrt»).
9
Dieser Name ist abgeleitet vom griechischen φρόνιμος («klug»). Die Tugend der «Klugheit» (im Griechischen φρόνησις, im Lateinischen prudentia) wurde häufig mit guten Staatsführern verbunden.
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Vielleicht vom griechischen Verb ἀλκάζω oder άλκάθω (helfen, assistieren).
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Vom griechischen ἄνολβος (unglücklich, aber auch unvernünftig): er ist das negative Pendant zu Faustus und in gewisser Weise auch zu Phronimus.
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Ebd.: Quod ad personas attinet, per Phronimum Caesarem intelligo Maximilianum, Alcon Dominum Cuspinianum est, Lycoris vero ipsa Vienna, per Anolbum invidum notavi, quicunque ille esse velit, talem enim graeci ἄνολβον dicunt, hoc est infoelicem. Per Lycidam intelligi volo te Graccum, amicum unicum et optimum philosophum. Faustus, ego ipse sum […].
13
Die Ekloge beginnt im Übrigen mit dieser Frage des Lycidas: Fauste, quid insolita modularis arundine carmen?(«Faustus, warum spielst du dein Lied auf einer anderen Schilfflöte als gewöhnlich?»).