Gedicht über das Erdbeben vom 8. [18.] September 1601

Gabriel Gerber

Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 01.04.2024.


Entstehungszeit: 1601/1602 (nach dem Erdbeben vom 17./18. September 1601).

Ausgabe: Terrae motus anni M.DCI. Septemb. VIII. a Gabriel Gerbero, pastore Bulacensi, carmina descriptus. Ad cl. v. dn. Io. Iacobum Frisium SS. theologiae in Schola Tigurina professorem ..., Zürich, unbekannter Verlag, 1602.

Metrum: sapphische Strophe.

 

Die Literatur einer Epoche besteht nicht nur aus den grossen Autoren, den Zentralgestirnen am Dichtungshimmel. Auch kleine und kleinste Sterne verleihen ihr ihren spezifischen Glanz. Ein solcher kleiner Stern war Gabriel Gerber, dem weder im Historischen Lexikon der Schweiz noch im Verfasserlexikon die Ehre eines Artikels zuteilgeworden ist. Wenig ist über ihn bekannt: Gerber stammte ursprünglich aus Beromünster (Kanton Luzern), das er nach seiner Wendung zum reformierten Bekenntnis verlassen musste. 1595 kam Gerber, der einen philosophischen Magistergrad erlangt hatte, als reformierter Pfarrer nach Bülach (Kanton Zürich), wo er 1610 verstarb. Entgegen dem damaligen Brauch der Zürcher reformierten Kirche setzte er sich für den Kirchengesang ein, wofür er vom Rat getadelt wurde, doch 1598 erlaubte die reformierte Synode das Singen in den Stadtkirchen für bestimmte Gruppen (Schüler, Studenten, Lehrer). Gerber war verheiratet und hatte Kinder; ansonsten weiss man, dass er und seine Frau viel Wein konsumierten. Auf e-rara findet man unter seinem Namen zehn Kasualgedichte (Epithalamien, ein Trauergedicht, eine Ode über militärische Disziplin, …), die zwischen 1592 und 1602 in Zürich als Einzeldrucke erschienen; derartige Gelegenheitsschriften machten damals den Hauptteil der Zürcher (wie auch der Basler) Buchproduktion aus. Daneben hat er wohl noch eine Anzahl kleinerer Geleitgedichte etc. geschrieben.

Sicher: Abseits gelehrter Dokumentationspflichten kann keines dieser Gedichte bei einer modernen Leserschaft auf grosses Interesse rechnen (was Gerbers Zeitgenossen darüber dachten, wissen wir nicht). Eines unter ihnen sticht indes in puncto poetischer Qualität positiv heraus, und auch das Ereignis, dem es sich widmet, ist ein besonderes: Es handelt sich um das Unterwaldener Erdbeben in der Nacht vom 17. auf den 18. September, das über sein Epizentrum in Unterwalden hinaus auch weit über die Schweiz hinaus in Städten wie Frankfurt oder Strassburg zu spüren war. Schäden entstanden vor allem in der Umgebung des Vierwaldstättersees, aber das Beben blieb, wie nicht nur Gerbers Gedicht belegt, auch in Zürich nicht folgenlos. Für genauere historische Informationen sowie damalige Augenzeugenberichte und Reaktionen können wir hier auf die entsprechende Forschung verweisen. Gerber datiert das Beben in seinem Gedicht gemäss dem julianischen Kalender auf den 8. September (bekanntlich wurde die nach Papst Gregor XIII. benannte Kalenderverbesserung von 1582 von den protestantischen Regionen Europas lange nicht nachvollzogen).

Zum Text: Gerber widmet sein Gedicht Johann Jakob Fries (1546-1611), einem gebürtigen Zürcher, der nach Studien in Genf, Frankreich und Deutschland seit 1573 als Professor am Carolinum in Zürich (der Hohen Schule des Grossmünsters) tätig war (1573-1576 für Logik, danach für das Alte Testament); daneben war er zeitweise (1576/77-1595) auch Bibliothekar dieser Einrichtung. Das Poem umfasst 26 sapphische Strophen. Sein Gedankengang lässt sich ungefähr folgendermassen zusammenfassen: Strophen 1-5 verleihen dem Schrecken über das erlebte Erdbeben und die dadurch entstandenen Schäden Ausdruck. Strophe 6 lobt den Widmungsempfängers, der sich um die Reparaturen an der ihm als Aedilis (wohl: stellvertretender Propst) anvertrauten beschädigten Zürcher Kirche (wohl das Grossmünster) vorbildlich kümmert. Die Strophen 7-10 führen das Erdbeben auf Gottes Zorn zurück. In den Strophen 11-24 wendet sich der Dichter gleichsam in Form eines Gebetes direkt an Gott; er bittet ihn, sich gnädig zu erweisen und erinnert ihn auch daran, dass sein Sohn Jesus Christus sich in seinen Auftrag für die Sünden der Menschen geopfert hatte (Strophe 14). Man kann vielleicht sagen, dass das eher alttestamentarisch wirkende Bild des strafenden Gottes der vorigen Strophen hier seine aus christlicher Perspektive notwendige neutestamentliche Ergänzung erhält. Der Dichter bittet sodann, Gottvater möge seinen Zorn stattdessen gegen die Osmanen als Feinde Christi lenken (Strophe 15). In den Strophen 16-24 verspricht der Dichter (in Übereinstimmung mit der Politik des Rates; vgl. V. 74), dass die Menschen ihre früheren Sünden nun bereuen und künftig ein religiös und sittlich besseres Leben führen werden: Sie werden fleissiger den Gottesdienst und die Predigt besuchen (Strophe 20), der Trunksucht und unsittlichen Tänzen entsagen und die Feiertage derart besser heilighalten (Strophe 21), ausserdem werden sie künftig erotischen Eskapaden entsagen (Strophe 22) und keine Wuchergeschäfte mehr betreiben (Strophe 23). Abschliessend verleiht der Dichter einen christlichen Siegesbewusstsein Ausdruck, das darauf vertraut, mit Gottes Gnade dem Bösen dauerhaft widerstehen zu können (Strophen 25-26); denn jeder Christ ist, wenn er sich mit Glauben und Gotteswort wappnet, einem Herkules gleichzuachten (Strophe 25). Der hier skizzierte Gedankengang des Textes ist in theologischer Hinsicht nicht originell und entspricht den in der damaligen Christenheit allgemein geteilten Überzeugungen; als reformiertes Spezifikum kann man daran wohl den die besonders hervorgehobene Bedeutung von Glauben und Gotteswort und die reine Christozentrik der Argumentation ansehen (im Sinne der protestantischen Soli-Prinzipien), während ein katholischer Autor jener Zeit in seinem Gedicht mit einiger Wahrscheinlichkeit noch Maria und den Heiligen eine Rolle zugewiesen hätte. Zeittypisch ist auch ein anderes Charakteristikum dieses Gedichts: das antikisierende und in seiner ursprünglichen Herkunft oft nicht originär christliche Vokabular, mit dem Gerber über die christliche Gottheit und ihr Wirken spricht und etwa Strophe 26 Gottvater als Herren des Olymps adressiert (aber man findet durchaus auch rein biblische Bilder wie das vom Lamm Gottes in Strophe 14, oder die Anrede Gottes als Jehovah in den Strophen 5 und 24). Gerbers poetischer Stil ist handwerklich sauber und stilistisch ansprechend. Und so hat auch dieser kleine Stern am Firmament der Schweizer neulateinischen Literatur einen Platz auf diesem Portal verdient.

 

Bibliographie

Dejung, E., Zürcher Pfarrerbuch 1519-1952, Zürich, Schulthess, 1953, hier: 293.

Hildebrandt, W., Bülach. Geschichte einer kleinen Stadt, Bülach, Stadtgemeinde Bülach, 21985, hier: 385-386.

Mayer-Rosa, D., «Erdbeben», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 12.02.2015, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007782/2015-02-12/.

Schwarz-Zanetti, G./Deichmann, N./Fäh, D., «The earthquake in Unterwalden on September 18, 1601: a historico-critical macroseismic Evaluation», Eclogae Geologicae Helvetiae 96 (2003), 441-450.

Schwarz-Zanetti, G./Deichmann, N./Fäh, D., «Das Unterwaldner Erdbeben vom 18. September 1601», Der Geschichtsfreund 159 (2006), 9-28.