Reise in sein Vaterland (Hodoeporicon)
Heinrich Glarean
Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt). Version: 04.07.2023.
Entstehungszeitraum: wahrscheinlich Ende 1511/Anfang 1512.
Kopie: Bayerische Staatsbibliothek Clm 28325, fol. 53vo-58ro, hier: fol. 54vo-55vo.
Ausgabe: H. Keller/K. Müller (Hgg.), Glarean, Das Epos vom Heldenkampf bei Näfels und andere bisher unbekannte Gedichte [Jahrbuch des historischen Vereins des Kantons Glarus 53 (1949)], 120-144, hier: 124-129 (Text und deutsche Übersetzung von J. Müller).
Metrum: elegische Disticha.
Der autobiographische Hintergrund dieses Gedichts ist Glareans Heimaturlaub im Herbst 1510, der in die Zeit seines Kölnaufenthalts fällt (1507-1512). Das Hodoeporicon beschreibt nach einem kurzen Proömium Glareans Reise den Rhein entlang und über Rottweil und Schaffhausen nach Glarus sowie seinen dortigen Aufenthalt, inklusive einer Wallfahrt nach Einsiedeln. Es folgt die Rückkehr nach Köln mit einem unfreiwillig langen Zwischenstopp in Strassburg. Eine peroratio am Schluss ermahnt den Leser im Bewusstsein der Schlechtigkeit und Vergänglichkeit der Welt zu einem christlich-moralischen Lebenswandel. Adressaten des Hodoeporicon sind laut Überschrift seine Kölner Freunde Alexander Morien und Johann Landsberg. Morien (†1587) brachte es bis zum Domscholaster in Osnabrück, während der Kartäuser Landsberg (ca. 1490-1537) für eine spirituelle Erneuerung der katholischen Kirche von innen heraus stand und auf Glareans eigene religiöse Haltung Einfluss gehabt haben dürfte.
Der Gattung nach ist das Hodoeporicon den poetischen Reisebeschreibungen zuzurechnen, die in der Frühen Neuzeit weit verbreitet waren. Glareans Gedicht von 1511/12 gehört dabei zu «den frühesten Beispielen». Antike Vorbilder waren für die in dieser Gattung tätigen humanistischen Dichter die Satire 1,5 des Horaz (das Iter Brundisinum über eine Reise von Rom nach Brundisi), die Mosella des Ausonius oder das Gedicht De reditu suo des Rutilius Namatianus. Die frühneuzeitlichen Dichter entwickelten diese Gattung jedoch quantitativ und qualitativ entschieden weiter. Schon Conrad Celtis hat mehrere seiner 1502 in der Nachfolge Ovids veröffentlichten Elegien (Amores) in ihren Überschriften als Hodoeporica gekennzeichnet. Er verband dabei objektive und patriotisch gefärbte Landes- und Ortsbeschreibungen mit der Darstellung seiner subjektiven Empfindungen. Eine narrative Kombination von Vaterlandsliebe und eigenen Lebensereignissen begegnet auch in Glareans Gedicht, der dabei sicher von Celtis’ Vorbild beeinflusst gewesen sein dürfte.
Insgesamt umfasst das Hodoeporicon 338 Verse. Die hier wiedergegebene Passage (53-116) gliedert sich wie folgt:
53-58: Abschied von den Reisebegleitern in Schaffhausen
59-64: der Dichter betritt Glarus und begrüsst das Land und seinen Patron Fridolin
65-66: Begrüssung durch die Glarner
67-96: Begegnung mit Freunden und Familie
67-71: Grussworte des Dichters
72-96: Gespräch zwischen dem Dichter und seinem Vater
97-116: idyllischer Alpenaufenthalt des Dichters
In den Bericht über den Heimaturlaub ist ein Thema eingebettet, das für den jungen Glarean (der damals am Anfang seiner Zwanziger stand) höchste Priorität besass, und das in der hier aufgenommenen Gedichtpassage zum Ausdruck kommt (V. 72-96): die Berufswahl. Glareans Familie hatte in ihm bisher einen zukünftigen glarnerischen Pfarrherrn im Heimatort Mollis gesehen. Glarean hatte sich jedoch in Köln mittlerweile für eine andere Laufbahn entschieden. Wie er es in dem Gedicht ausdrückt (V. 87): Er wollte der «Sophia» dienen, das heisst der weltlichen (humanistischen) Wissenschaft. Mit dem Lizentiat hatte er 1510 an der Kölner Artistenfakultät die Berechtigung zu eigener Lehrtätigkeit erhalten. In seinem Gedicht schildert er, wie sein Vater diese Berufswahl akzeptierte, als er sie während ihm während des Heimaturlaubs mitteilte, und ihn seiner weiteren Unterstützung versicherte. Es entbehrt nicht eines gewissen Witzes, wie der Dichter dem Vater (und implizit auch dem Leser des Gedichts) seine Wahl bekannt gibt. Über mehrere Verse hinweg kann ein unbefangener Leser den Eindruck haben, der junge Mann habe eine Dame aus Fleisch und Blut gefreit (V. 81-86), bis er schliesslich die Auflösung liefert (V. 87ff.).
Die poetische Beschreibung seiner Alpenwanderungen in der hier aufgenommenen Passage (V. 97-116) ist äusserst gut gelungen. Sie verrät neben Glareans gründlicher Kenntnis der Muster der antiken bukolischen Dichtung (z. B. V. 103) auch wahre Naturliebe (z. B. V. 108) und nicht zuletzt sein ausgeprägtes alpenländisches und schweizerisches Heimatempfinden. Das Alpenland kommt für den Dichter dem Helikon der antiken Literatur nicht nur gleich, es übertrifft ihn vielmehr noch (V. 112). Dies ist um so auffälliger, als die nichtschweizerische neulateinische Reisedichtung der Zeit von einem grossen Widerwillen gegen die Bergwelt und Bergbesteigungen geprägt ist.
Dass Glareans Gedicht keinen Einfluss auf die Weiterentwicklung der schweizerischen neulateinischen Reisedichtung ausübte, dürfte hauptsächlich seiner Nichtpublikation im Druck geschuldet sein. Daneben dürfte vielleicht auch eine Rolle gespielt haben, dass der entschieden katholische Charakter des Gedichts (Begrüssung des Landespatrons; Wallfahrt nach Einsiedeln) bei den späteren, durchwegs protestantischen schweizerischen Reisedichtern keinen Anklang fanden.
Bibliographie
Müller, E.F.J., «Einleitung», in: H. Keller/K. Müller (Hgg.), Glarean: das Epos vom Heldenkampf bei Näfels und andere bisher ungedruckte Gedichte, Glarus, Baeschlin, 5-57.
Sauerborn, F. D., «Zur Biographie Glareans. Die Datierung von drei Briefen an Zwingli – Glareans Heimreise von Köln nach Mollis – Zu seinen Geschwistern und Neffen», Jahrbuch des Historischen Vereins des Kantons Glarus 74 (1993), 123-131.
Wiegand, H., Hodoeporica. Studien zur neulateinischen Reisedichtung des deutschen Kulturraums im 16. Jahrhundert; mit einer Bio-Bibliographie der Autoren und Drucke, Baden-Baden, Koerner, 1984.
Wiegand, H., «Hodoeporica Heinrich Glareans und Balthasar Nussers. Unbeachtetes und Neues zur neulateinischen Reisedichtung des deutschen Kulturraums», in: B. Czapla/R. G. Czapla/R. Seidel (Hgg.), Lateinische Lyrik der Frühen Neuzeit. Poetische Kleinformen und ihre Funktionen zwischen Renaissance und Aufklärung, Tübingen, Niemeyer, 2003, 75-95.