Die Pest in Chur (Ekloge 2,308-356)
Simon Lemnius
Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 10.02.2023.
Entstehungszeit: Sommer/Herbst 1550.
Ausgaben: Bucolicorum aeglogae quinque Simonis Lemnii Emporici Rheti Cani, Basel, J. Oporinus, o. J. [1550], hier: 30-31; Simon Lemnius, Bucolica. Fünf Eklogen, hg. von L. Mundt, Tübingen, Niemeyer, 1996, hier: 98-101 (mit deutscher Übersetzung); deutsche (Jamben-)Übersetzung von Teilen der Pestschilderung des Cirrheus in Ekloge 2 auch in: T. Schiess, «Ein Brief des Simon Lemnius an Vadian», in: T. Schiess, Beiträge zur Geschichte St. Gallens und der Ostschweiz, St. Gallen, Fehrsche Buchhandlung, 1932, 216-228, hier: 225-228; deutsche (Hexameter-)Übersetzung von Teilen dieser Pestschilderung auch in: G. Sieveking, «Die drei Engadiner Humanisten Gian Travers, Marcus Tatius Alpinus und Simon Lemnius. Mit Uebersetzungen aus ihren Dichtungen», Bündnerisches Monatsblatt, Jg. 1946, Nr. 7/8, 193-237, hier: 228-230.
Metrum: daktylischer Hexameter.
Im Juni 1550 brach in Chur eine Pestepidemie aus, die bis zum Winteranfang währte und zwischen 1300 und 1600 Opfer forderte – und das in einer Stadt, die damals nur etwa 500 Häuser zählte. Simon Lemnius suchte im Sommer vor der Seuche Schutz in Basel, wo sein Verleger Johannes Oporinus ihn in seinem Haus aufnahm. Im Spätherbst begab sich Lemnius wieder nach Chur, wo er der Pest am 24. November 1550 zum Opfer fiel.
Lemnius hatte bei seinem Verleger das Manuskript seiner Bucolicorum aeglogae quinque zurückgelassen, die wohl noch 1550 im Druck erschienen (dieser frühe Termin lässt sich daraus erschliessen, dass die Ausgabe keinen Hinweis enthält, dass Oporinus schon von Lemniusʼ Tod Kenntnis gehabt hätte).
Im Folgenden ein kurzer Inhaltsüberblick über die bei Oporinus erschienene Sammlung:
- Ein Lobgedicht von 20 Versen auf Simon Lemnius von Heinrich Pantaleon.
- Eine 190 Verse umfassende Praefatio des Lemnius, adressiert an die französischen Gesandten Morelet du Museau und Jean Jacques de Castion.
- Die erste Ekloge (Parnasus; 223 Verse), in der die Hirten Aegon und Lycidas auftreten: Sie enthält u. a. einen von den Hirten Aegon und Lycidas abwechselnd vorgetragenen Lobpreis der schon erwähnten beiden französischen Gesandten bei den Eidgenossen bzw. im Freistaat der drei Bünde sowie bekannter Graubündner und des Zürcher Gelehrten Johannes Frisius. Sie entstand zwischen 1549 (Bischofswahl des Thomas Planta in Chur, der im Gedicht als Bischof erwähnt wird) und dem Pestausbruch (der verstorbene Rudolf von Salis ist hier noch als Lebender erwähnt).
- Die zweite Ekloge (Cirrheus; 370 Verse), in der die Hirten Meris, Meliseus und Cirrheus auftreten: Sie widmet sich der Pest in Graubünden (beschrieben vom Hirten Cirrheus, hinter dem man Lemnius erkennen kann). Ihr ist unser Textbeispiel entnommen. Die Thematik macht klar, dass sie während des Baselaufenthalts des Lemnius im Sommer/Herbst 1550 entstanden ist, nach seiner Flucht vor der Churer Pest und vor seiner für ihn fatalen Rückkehr dorthin.
- Die dritte Ekloge (Hodoeporicon; 379 Verse), in der die Hirten Meliseus und Cirrheus auftreten: Es handelt sich um «die einzige bisher bekannte neulateinische Reisedichtung in Eklogenform»; im grössten Teil des Gedichts geht es um die Flucht des Hirten Cirrheus (= Lemnius) vor der Pest von Chur nach Basel. Auch dieses Gedicht muss aufgrund seines Inhalts im Sommer/Herbst 1550 in Basel entstanden sein.
- Die vierte Ekloge (Daphnis; 237 Verse), in der die Hirten Alcon, Damon und Damoetas auftreten: Im Zentrum steht hier eine panegyrische (im Wechsel vorgetragene) Totenklage der Hirten Alcon und Damon um den verstorbenen Franz I. von Frankreich (der in dem Gedicht Daphnis genannt wird und der Ekloge somit ihren Namen gibt). Das legt nahe, dass sie in seinem Todesjahr 1547 entstand.
- Die fünfte Ekloge (Hercules Gallicus; 331 Verse), in der die Hirten Melampus, Menalcas und Glaucus auftreten: Im Zentrum steht hier (im Rahmen eines Wettgesangs zwischen Melampus und Menalcas) eine Huldigung an König Heinrich II. von Frankreich (den Sohn und Nachfolger Franz I.), der als Hercules Gallicus bezeichnet wird; dabei handelt es sich um eine von Lukians Schrift Herakles inspirierte Innovation französischer Humanisten, die in der Panegyrik auf die französischen Könige des 16. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle spielte.
- Ein an Oporinus gerichtetes Lobgedicht auf die Druckkunst (Ad Oporinum de laude chalcographiae; 76 Verse).
Mit seiner panegyrischen Stossrichtung (vgl. besonders die vierte und fünfte Ekloge) und seiner rein allegorischen Auffassung der Hirtenwelt weist Lemnius Gemeinsamkeiten mit den entsprechenden Werken der deutschen Dichter Georg Sabinus und Johannes Stigel auf, mit denen er während seiner Wittenberger Zeit in freundschaftlichen Beziehungen gestanden hatte.
Die zweite Ekloge, aus der die von uns ausgewählte Passage stammt, ist sicher vor dem Hintergrund der seit der Antike bestehenden Tradition literarischer Seuchen- bzw. Pestschilderungen zu betrachten: zu erinnern ist an Homer (Il. 1,10ff.), Thukydides (2,46-54), Lukrez (6,1090-1286), Vergil (Aen. 3,135-142; Georg. 3,440-566), Ovid (Met. 7,523-613), Manilius (1,880-895) und Lucan (6,80-105). In Lemnius’ Ekloge finden sich unzweifelhafte Bezugnahmen auf Ovid, Thukydides (auch in unserer Passage), Lukrez und Vergil. In unserer Passage kann man ausserdem auch eine Bezugnahme auf die Seuche zu Beginn der Ilias finden (339ff.). Das sollte aber nicht den Blick darauf verstellen, dass Lemnius hier natürlich auch aus eigener Anschauung gestaltet und eindrucksvoll seine eigenen authentischen Eindrücke verarbeitet.
Die Pest hat nicht nur im Werk und dem Leben des Lemnius ihre Spuren hinterlassen. Dieser Aspekt der Lebensrealität des 16. Jahrhunderts wird genauer dargestellt in der Präsentation entsprechender Ausführungen des Basler Arztes Felix Platter auf diesem Portal.
Bibliographie
Merker, P., Simon Lemnius. Ein Humanistenleben, Strassburg, Trübner, 1908.
Mundt, L., «Von Wittenberg nach Chur: Zu Leben und Werk des Simon Lemnius in den Jahren ab 1539», Daphnis 17 (1988), 163-222.
Mundt, L., «Einleitung», in: Simon Lemnius, Bucolica. Fünf Eklogen, hg. von L. Mundt, Tübingen, Niemeyer, 1996, 1-54; und «Kommentar», ebd., 164-205.
Riatsch, C., «Lemnius, Simon», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 15.03.2017, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009112/2017-03-15.
Ukena, P., «Lemnius, Simon», Neue Deutsche Biographie 14 (1985), 191, Onlineversion, https://www.deutsche-biographie.de/pnd11857146X.html#ndbcontent.
Vetter, F., «Lemnius, Simon», Allgemeine Deutsche Biographie 18 (1883), 236-239, Onlineversion, https://www.deutsche-biographie.de/pnd11857146X.html#adbcontent.
Wiesman, P., «Simon Lemnius 1511-1550», in: Bedeutende Bündner aus fünf Jahrhunderten [Festgabe der Graubündner Kantonalbank zum Anlaß des 100. Jahrestages ihrer Gründung 1870], Chur, Bd. 1, Calven-Verlag, 1970, 109-126.