Simon Lemnius

Werke


Autor(en): Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 10.02.2023.

Vorbemerkung

Nicht zuletzt, da der dramatische Höhepunkt von Lemniusʼ Leben – seine unfreiwillige Auseinandersetzung mit Luther – untrennbar mit seinem literarischen Werk verknüpft ist, ist in dieser Einführung eine strikte Unterscheidung der Rubriken Leben und Werk nicht durchführbar. Stärker als die meisten anderen Autoren auf diesem Portal war Lemnius eine reine Literatenexistenz, ein humanistischer poeta. Er war kein Geistlicher, theologisch und religiös völlig desinteressiert, und er tat sich nicht durch philologische, pädagogische oder andere wissenschaftliche Veröffentlichungen hervor. Da er bereits mit weniger als 40 Jahren starb und zeitlebens ledig blieb, ist in seinem Fall auch über Ehe und Familienleben nichts zu berichten. Von seiner Korrespondenz hat sich nur im Rahmen der Vadianischen Briefsammlung ein Schreiben erhalten (siehe unten). Besondere Beachtung verdient die religiös indifferente Haltung des Lemnius; sie unterscheidet ihn signifikant von den vielen auf diesem Portal präsentierten schweizerischen Humanisten, die in Personalunion reformierte Theologen waren (und sie unterscheidet ihn auch von einem überzeugten Katholiken wie Glarean).

 

Leben und Werk

Simon Lemnius (Geburtsname Simon Margadant) wurde um 1511 in dem von seinen Eltern bewirtschafteten Gehöft Guad (Gemeinde Val Müstair), einem Lehen des Hochstifts Chur, geboren. Nach dem Geburtsnamen seiner Grossmutter nannte sich Simon Lemnius «Lemm Margadant» bzw. latinisiert Lemnius Emporicus, Lemnius Mercator oder Lemnius Pisaeus (eine Hommage an den Wasserfall Pischa nahe seinem Geburtsort). Früh zur Vollwaise geworden, erhielt Lemnius ersten Unterricht im Umfeld des Churer Bischofs Paul Ziegler von Ziegelbert (1471). Weiterführende Studien führten ihn nach Zürich, Basel, Vienne an der Rhone, Augsburg, München (um 1530) und Ingolstadt (1533 taucht sein Name in den dortigen Matrikeln auf). 1534 bis 1538 führte er seine Studien in Wittenberg fort, wo er 1535 den Magistergrad erlangte, zu Melanchthons Lieblingsstudenten gehörte, Griechischunterricht erteilte und offensichtlich eine akademische Karriere anstrebte. 1538 veröffentlichte Lemnius in Wittenberg sein poetisches Erstlingswerk, die Epigrammaton libri duo, mit denen er Luthers Zorn auf sich zog. Dieser war den an religiösen Fragen wenig interessierten Wittenberger Humanisten ohnehin wenig gewogen, besonders aggressiv stimmte ihn aber, dass Lemnius seine Gedichtsammlung dem Erzfeind der Reformation, Kardinal Albrecht von Brandenburg (einem grossen Freund der humanistischen Studien) gewidmet hatte. Luther regte eine Untersuchung gegen den von ihm «Scheißpoetaster» geschimpften Lemnius wegen vermeintlicher Beleidigung wichtiger Persönlichkeiten in den Gedichten an; dies hatte für den jungen Dichter Hausarrest zur Folge und führte zu seiner Relegation von der Universität und, da er sich dem Verfahren durch Flucht entzog, zur Beschlagnahmung seines in Wittenberg zurückgelassenen Besitzes (inklusive seiner Bücher). Luther veröffentlichte kurz darauf noch eine Ernste zornige Schrift D. M. L. wider M. Simon Lemnii Epigrammata. Zwischen 1538 und 1539 reagierte Lemnius auf diese unzweifelhaft masslose Verfolgung mit mehreren Schriften, in denen er sich die Persönlichkeit und das Privatleben Luthers und anderer einflussreicher Wittenberger vornahm: mit einer auf drei Bücher aufgestockten, verbesserten Neuauflage seiner Epigramme, einer an Albrecht adressierten Querela (einer gegen Luther gerichteten poetischen Anklageschrift in elegischen Distichen, die zugleich dem Lobe Albrechts gilt), einer Prosaschrift mit dem Titel Apologia gegen das von der Universität Wittenberg gegen ihn erlassene Dekret und schliesslich mit seiner legendär gewordenen Monachopornomachia (Mönchshurenkrieg), einer äusserlich an ein Theaterstück erinnernden, allerdings durchaus undramatischen Zusammenstellung satirischer Dialogszenen in elegischen Distichen, die besonders den Einfluss des antiken Epigrammatikers Martial (40-103/104 n. Chr.) verraten. Sie verfolgt primär das Ziel, in einer äusserst drastischen und obszönen Weise das Intimleben des mit einer ehemaligen Nonne verheiraten gewesenen Mönches Luther und seiner Wittenberger Reformatorenkollegen Justus Jonas und Georg Spalatins bzw. ihrer Ehefrauen zu verspotten, übt aber auch an anderen Aspekten von Luthers Wirken Kritik. Wenngleich Lemnius den religiösen Aspekt oberflächlich anklingen lässt, indem er Luthers Ehe mit Katharina von Bora als frevelhaft darstellt, so darf man sich erinnern, dass er sich in seiner in Wittenberg verbrachten Zeit daran nicht wahrnehmbar gestört hatte. Man muss sich bei der Betrachtung des Konflikts zwischen Luther und Lemnius stets bewusst halten, dass es hier zumindest von Lemniusʼ Seite aus eindeutig nur um Persönliches und nicht um konfessionelle Differenzen ging.

1539 fand Lemnius eine Anstellung an der städtischen Nikolaischule in Chur im heimatlichen Graubünden, die er 1542 wieder verlor. Es wurde früher in der Forschung vermutet, dies habe mit der Veröffentlichung seiner recht freizügigen Amorum Libri IIII (1542) zu tun gehabt; da diese aber erst nach seiner Entlassung erschienen, wird der Grund eher in einer Antipathie der Churer Reformatoren Johannes Comander und Johannes Blasius gegen den in Religionsfragen «offenkundig indifferenten» Dichter zu suchen sein, der zudem enge Beziehungen zu der französischen Partei in Graubünden und den französischen Botschaftern unterhielt, zu der die Reformatoren ein schlechtes Verhältnis hatten. Diese Beziehungen werden auch in den Amorum Libri deutlich. Enthalten diese in den ersten drei Büchern tatsächlich ausschliesslich Liebeselegien, von denen einige in der Darstellung sexueller Sachverhalte weiter gehen als ihre antiken Vorbilder, so gibt es im vierten Buch auch Gedichte mit konkreten Widmungsträgern, und darunter findet sich auch der französische Gesandte Jean-Jacques de Castion (Amores 4,2). Dass sich Lemnius um Kontakte zu einflussreichen Personen bemühte, belegt auch ein erhaltener Brief an Joachim Vadian vom 26. Juli 1541, in dem er den grossen St. Galler bittet, ihm bei der Drucklegung eines an den einflussreichen Bündner Politikers Johann Travers adressierten Gedichtes (vermutlich das später als Amores 4,2 veröffentlichte Gedicht) zu unterstützen.

Nach dem Verlust des Schulamts begab sich Lemnius begab nach Italien. In Bologna wurde er 1543 zum Dichter gekrönt und in die Accademia Ermatena berufen. Er übersetzte in dieser Zeit die Periegese des Dionysios und widmete seine Übersetzung dem Herzog Ercole II. dʼEste (Ferrara); seine Hoffnung auf Förderung durch diesen erfüllte sich jedoch nicht. Nach seiner Rückkehr nach Chur 1544 erhielt er 1545 erneut einen Posten an der Nikolaischule. In den folgenden Jahren übersetzte er Homers Odyssee in lateinische Hexameter (erschienen 1549) und arbeitete an seinem unvollendet bleibenden Geschichtsepos Raeteis (auf diesem Portal hier und hier) über den Sieg der Bündner und der Eidgenossen gegen die Habsburger und den Schwäbischen Bund im Schwabenkrieg des Jahres 1499. Ausserdem übersetzte er die pseudohomerische Batrachomyomachia (Froschmäusekrieg) ins Lateinische (erschienen 1549 zusammen mit der Odysseeübersetzung). Als in Chur 1550 die Pest ausbrach, begab sich Lemnius für einige Monate ins sichere Basel, wo er der Epidemie eine dem Vorbilde des Lukrez und dessen Darstellung der Pest in Athen verpflichtete ausführliche poetische Schilderung widmete, die Eingang in seine 1550 posthum erschienenen Bucolicorum Aeglogae quinque fand. Als die Lage in Chur wieder sicher erschien, kehrte er dorthin zurück; dort fiel er am 24. November 1550 der wieder aufflackernden Seuche zum Opfer.

Vor seinen Tod verfasste er noch eine Grabschrift für sich selbst:

Conditus hic iaceo praeclarus carmine vates

Lemnius, heu pesti praeda petita fui!

Spiritus in nitido versatur celsus Olympo.

Terra levis busta haec contegit ossa tamen.

 

Hier liege ich, ein Dichter, berühmt durch mein Lied,

Lemnius, ach, die Pest hat mich als Beute gefordert!

Mein Geist wandelt droben im strahlenden Olymp.

Leichte Erde aber bedeckt meine verbrannten Gebeine.

Keine Erwähnung haben in diesem Überblick bisher einige kleinere Gedichte des Lemnius gefunden, die im Zeitraum 1533-1539 in den Werken anderer erschienen. Wir führen sie in der folgenden Anmerkung auf, ohne sie detaillierter zu behandeln; festgehalten sei hier nur, dass einige auch in griechischer Sprache verfasst sind.

Es ist eine interessante Frage, was aus Lemnius hätte werden können, wenn er nicht arglos in eine Konfrontation mit Luther geraten wäre, die seinen weiteren Verbleib in Wittenberg unmöglich machte und ihn zur Abfassung der Monachopornomachia zwang, die zwar als obszöne pornographische Kuriosität den Namen ihres Verfassers dauerhaft am Leben erhielt, ihn aber zugleich verdunkelt hat. Man kann nicht verhehlen, dass Lemnius wohl auch infolge des in Wittenberg erlittenen Karriereknicks in materieller Hinsicht nie eine Position erlangt hat, die seinem geistigen und dichterischen Rang entsprochen hätte. Dabei ist freilich auch sein früher Tod zu bedenken, der den Abschluss seines vermutlich als Hauptwerk geplanten Epos Raeteis verhinderte. Im Rahmen dieses Portal verdient es Hervorhebung, dass Lemnius mit seinen Amorum Libri der einzige Vertreter der erotischen Dichtung ist. Über den Humanismus auf dem Gebiet der heutigen Schweiz im Allgemeinen sagt das mindestens ebenso viel aus wie über den grössten Dichter des Bündnerlands im Speziellen.

 

Bibliographie

Wir danken Herrn Professor Dr. Florian Schaffenrath (Innsbruck) für wichtige bibliographische Informationen, die in die folgende Liste Eingang gefunden haben; für seinen Hinweis auf den Aufsatz von G. L. Luzatto danken wir Didier Guex (Bern).

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