Panegyrisches Gedicht auf die Montaner Burse zu Köln

Heinrich Glarean

Einführung: Clemens Schlip (traduction française: Kevin Bovier). Version: 10.02.2023.


Entstehungszeit: Vermutlich 1511, während und/oder kurz nach dem Heimaturlaub im Sommer 1511.

Kopie: Bayerische Staatsbibliothek, Clm 28325, fol. 60vo-62ro.

Ausgabe: K. Müller/H. Keller (Hgg.), Glarean, Das Epos vom Heldenkampf bei Näfels und andere bisher unbekannte Gedichte [Jahrbuch des historischen Vereins des Kantons Glarus 53 (1949)], hier: 146-153 (mit deutscher Übersetzung von J. Müller).

Metrum: elegische Disticha.

 

Glarean rühmt in diesem als Dialog mit der Muse Kalliope gestalten Gedicht seine Lehrer an der Montaner Burse in Köln (bzw. in deren Umfeld), wo er zwischen 1507 und 1512 studierte; dem Namen der Burse ist es geschuldet, dass er sie unter dem Bilde eines Berges lobpreist. Eine Burse war eine Hausgemeinschaft von Magistern und Scholaren (Studenten); der Begriff leitet sich vom lateinischen bursa (Geldbörse) ab (aus dieser bursa wurde wöchentlich der zur Versorgung der Gemeinschaft nötige Betrag entnommen). Den Studenten wurde die Möglichkeit zum Besuch von vertiefenden Veranstaltungen geboten, die über das Angebot der Universität hinausgingen. Dafür unterlagen sie den disziplinarischen Vorschriften ihrer Burse und konnten bei Zuwiderhandlung ausgeschlossen werden, was eine empfindliche Strafe darstellte, da der Wechsel in eine andere Burse in diesem Fall nicht möglich war. Bursen war ihrem Rechtsstatus nach keine universitären, sondern privat geführte Einrichtungen, die von der Stadt mit Wohlwollen betrachtet wurden, da sie das Problem der Unterbringung und Verpflegung der Studenten lösten.

An der Kölner Artistenfakultät existierten zu Glareans Studienzeit vier institutionalisierte Grossbursen, deren Magisterkollegien ihre Arbeit auf Stiftungsvermögen gründeten (zu einer satzungsmässigen Identifikation der Artistenfakultät mit den Grossbursen kam es erst 1557): Montana, Laurentiana, Corneliana und Cucana (die Corneliana sollte sich bereits 1524 aufgrund niedriger Studentenzahlen auflösen). Die Montana, an der Glarean studierte, war die bedeutendste Grossburse. Die Bursen dienten dem philosophischen Studium und führten zum Bakkalaureat, Lizentiat und schliesslich zum Magistergrad. Im Anschluss konnten die Absolventen entweder eine kirchliche Laufbahn in niederen Positionen einschlagen oder sich weiteren Fachstudien widmen, wobei sie ihre Magister-Stellung an der Artistenfakultät behielten. Die Montaner Burse war unter ihrem damaligen Regens Valentin Engelhardt strikt der Philosophie des Thomas von Aquin verpflichtet. Schon dass Engelhardt in freundschaftlichen Beziehungen zu dem berühmten deutschen Humanisten Conrad Celtis stand, macht deutlich, dass dies nicht notwendigerweise in unüberbrückbaren Gegensatz zu humanistischen Bestrebungen stehen musste.

Glareans Gedicht ist besonders unter einem Aspekt interessant: Er rühmt zum einen Theologen, die als Thomisten eher dem traditionellen mittelalterlichen Denken verpflichtet waren – wobei die oben für Engelhardt gemachte Einschränkung auch hier mitzudenken ist –, zum anderen aber auch entschiedene Vertreter eines neuen, humanistischen Geistes wie den freischaffenden Gräzisten Johannes Caesarius aus Jülich. Bemerkenswert ist, wie auch das Lob der der scholastischen Methode verpflichteten Lehrer von Glarean in einem Gedicht verpackt wird, dessen Orientierung an der klassischen Dichtung und humanistische Atmosphäre ausser Frage steht. Das ist für uns als an diesen Text herantretende nachgeborene Leser um so bemerkenswerter vor dem Hintergrund der sinisteren Rolle, die der Kölner Fakultät in den satirischen, zwischen 1515 und 1517 erschienenen Epistolae Obscurorum Virorum zukommt, satirischen Briefen, die im Kontext des Streites der Kölner Dominikaner mit dem Johannes Reuchlin über jüdische Schriften entstanden. Dort erscheint die Kölner Fakultät als Brutstätte einfältiger klerikaler Kleingeister von teils zweifelhafter Moral, die dem Humanismus grundsätzlich feindlich gegenüberstehen und sich nur in sehr unbeholfenem Latein ausdrücken können. Schon unser Gedicht lädt zu einer Korrektur dieser Perspektive ein. Es macht klar, dass Glarean, als er sein untenstehendes Preisgedicht verfasste, keineswegs eine unüberbrückbare Kluft zwischen seiner Kölner Ausbildungsstätte, der Montaner Burse, und dem Humanismus wahrgenommen haben kann. Dazu passt, dass ein moderner Forscher die Montana unter dem damaligen Rektor Engelhardt «eine Pflanzstätte humanistischer Gelehrter» nennt. In der Reuchlin-Kontroverse wandte Glarean sich freilich entschieden der reuchlinistischen (humanistischen) Partei zu, und er hat sein Urteil in dieser Streitsache auch später nie verändert. Dies muss jedoch nicht als ein Abrücken von seinen Sympathie für die Kölner Universität verstanden werden: denn «Thomismus, Humanismus und Eintreten für die Reuchlin-Sache» schlossen sich wechselseitig nicht aus. Und es muss in diesem Zusammenhang besonders bedacht werden, dass die antireuchlinistischen Positionen in Köln «aus dem Kreis der albertistischen Bursenregenten» (welche die scholastische Philosophie in ihrer Ausprägung durch Albertus Magnus vertraten) heraus verkündet wurden, die Mitglieder der thomistisch geprägten Bursen Montana und Corneliana dagegen sich nicht an der Kontroverse beteiligten, ja sich vielmehr «im Rahmen des Möglichen gegen das Vorgehen der Reuchlin-Gegner gesträubt zu haben» scheinen. Auch unser Gedicht lädt dazu ein, die Kölner Verhältnisse differenzierter zu betrachten. Bemerkenswert im Hinblick auf Glareans spätere Entwicklung ist, dass sich die in seinem Gedicht gerühmten Theologen dem Umfeld der katholischen Reform zuordnen lassen; seine spätere eigene, spezifische Position in den religiösen Streitfragen seiner Zeit – entschieden katholisch, aber mit wachem Blick für innerkirchliche Missstände – deutet sich hier schon an.

 

Gliederung des Gedichts:

1-10: Glarean auf dem Berg; Erscheinung der Kalliope.

11-22: Gesang der Kalliope.

23-30: Sie spricht Glarean an.

31-98: Antwort Glareans

31-42: Er lebt auf dem Berg.

43-98: Nicht nur die Griechen verdienen Lob; er rühmt seine Kölner Lehrer.

99-112: Die Muse verspricht dem Dichter, ihm beim Lob des Berges beizustehen.

 

Exkurs: Glareanus in den Epistolae obscurorum virorum

Verwendete Ausgabe: Epistolae obscurorum virorum. Herausgegeben von Aloys Bömer, Band 2: Text, Heidelberg 1924.

In den Epistolae obscurorum virorum tritt der mittlerweile nach Basel zurückgekehrte Glarean als Feind der «Dunkelmänner» in Erscheinung. Magister Philippus Schlauraff berichtet in einem herrlich misslungenen Carmen rithmicale (auch dies eine Parodie, und zwar auf die rhythmische lateinische Dichtung des Mittelalters), das er einem seiner Briefe einfügt, dem Ortvinus Gratius von einer für ihn unangenehmen Begegnung mit Glarean in Basel (Eov 2,9; in der Ausgabe von Bömer: S. 104-109, hier: S. 108, Zeile 21-29; entspricht V. 142-150 des Gedichts).

[…]

Et veni Basileam,                         ubi vidi quendam
Qui Erasmus dicitur                      et multum honoratur.
Tunc dixi: «Cum licentia,              dicat vestra excellencia
Si estis Magister nostrandus        vel statim qualificandus.»
Respondit ipse «Utique»;             tunc sivi eum stare.
Sed in domo Frobenii                   sunt multi pravi haeretici,
Nec non Glarianus,                      qui imposuit mihi manus
Percutiens in dorsum                   et proiciens deorsum.
Et dixi: «Per tuam lauream,          fac mecum misericordiam.»

[...]

[…]

Und ich kam nach Basel, wo ich einen sah, der Erasmus heisst und hoch geehrt wird. Dann sagte ich: «Mit Verlaub, möge mir Eure Exzellenz sagen, ob ihr ein Magister nostrandus seid oder einer, der auf der Stelle qualifiziert werden muss.» Er antwortete: «Durchaus»; dann liess ich ihn stehen. Aber im Hause des Froben gibt es viele schlimme Häretiker, und Glarean, der Hand an mich legte, indem er mich auf den Rücken schlug und zu Boden streckte. Und ich sagte: «Bei deinem Lorbeer, habe Mitleid mit mir.»

[...]

Auch Demetrius Phalerius erwähnt in diesem Werk in einem Brief an Ortvinus Gratius von dem für die Dunkelmänner unangenehmen Wirken Glareans (EoV 2,38; in der Ausgabe von Bömer: S. 155, Zeile 30-S. 156, Zeile 3); dieser möchte angeblich ein Buch über den für den Orden peinlichen «Jetzerhandel» schreiben:

[…] Et venit huc Glorianus poeta, qui est homo valde audax, ut scitis; ipse mirabilia scandala loquitur de vobis et aliis theologis. Et dicit, quod vult unum librum componere de nequitiis Praedicatorum et vult totaliter describere illa, quae facta sunt in Bern. Ego vellem libenter amicabiliter dicere ad eum, ne faciat. Sed est homo terribilis et iracundiosus semper volens percutere, quapropter habeat sibi diabolum. […]

[…] Und es kam der Dichter Glarean hierher, ein sehr kühner Mann, wie ihr wisst. Er zählt verwunderliche Skandalgeschichten über euch und die anderen Theologen. Und er sagt, dass er ein Buch über die Verfehlungen der Dominikaner verfassen will und in Gänze beschreiben will, was in Bern geschehen ist. Ich wollte ihm gerne freundschaftlich zureden, dass er das nicht tun soll; er ist aber ein furchtbarer Mensch, und er ist jähzornig und möchte immer gleich zuschlagen; deshalb soll er sich zum Teufel scheren. […]

Diese Stellen zeigen, dass die humanistischen Autoren der Epistolae Glarean ihrer eigenen Partei zurechneten und als Feind der Scholastiker betrachteten. Wenngleich aber im Kontext der Reuchlindebatte, aus der die Epistolae resultierten, Glarean tatsächlich eindeutig der humanistischen Partei zuzurechnen ist, so ist die Wahrheit doch ein wenig komplexer; dies beweist nicht zuletzt das oben vorgestellte Gedicht auf die Montanerburse.

     

Bibliographie

Keussen, H., Die Matrikel der Universität Köln, Bd. 1: 1389-1475, Köln, Behrend, 21928.

Keussen, H., Die Matrikel der Universität Köln, Bd. 2: 1476-1559, Köln, Behrend, 1919.

Meuthen, E., Kleine Kölner Universitätsgeschichte, Köln, Rektor der Universität zu Köln, 1998, 10, Onlineversion, http://www.portal.uni-koeln.de/universitaetsgeschichte.htm.

Müller, E. F. J., «Einleitung», in: H. Keller/K. Müller (Hgg.), Glarean, Das Epos vom Heldenkampf bei Näfels und andere bisher unbekannte Gedichte [Jahrbuch des historischen Vereins des Kantons Glarus 53 (1949)], 7-56.

Overfield, J. H., «Scholastic Opposition to Humanism in Pre-Reformation Germany», Viator (1967), 391-420.

Tewes, G.-R., Die Bursen der Kölner Artisten-Fakultät bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien, Böhlau, 1993.

Tewes, G.-R., «Das höhere Bildungswesen im alten Köln. Zu den Bursen und Gymnasien der alten Kölner Universität», in: T. Ahrendt (Hg.), Bildung stiften, Köln, Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds, 2000, 8-33.