Elegie an Erasmus von Rotterdam

Heinrich Glarean

Einführung: David Amherdt/Clemens Schlip. Version: 10.02.2023.


Entstehungszeitraum: nach August 1514 (terminus post quem: Ankunft des Erasmus in Basel bis zur Veröffentlichung 1516 (terminus ante quem)).

Editionen: Duo elegiarum libri, Basel, Froben, 1516, hier: fol. F2ro-F3vo; Aliquot epistolae [...] Erasmi Roterodami, Strassburg, Schurer, 1519, hier: 121-124; Des. Erasmi Roterodami epistolarum opus, Basel, Froben, 1538, hier: 54-56; Delitiae poetarum Germanorum huius superiorisque aevi illustrium, Bd. 3, hg. J. Gruterus, Frankfurt a. M., Fischer, 1612, hier: 1285-1287; Desiderii Erasmi Roterodami Opera omnia, hg. Von J. Clericus (J. Leclerc), Tomus tertius, pars prior, Leiden, 1703 [ND Hildesheim, G. Olms, 1962], hier: Sp. 199-200; und in zahlreichen weiteren Ausgaben von Briefen des Erasmus.

Metrum: elegische Disticha.

 

Glarean veröffentlichte seine Elegien 1516 in zwei Büchern: Laut einem Brief an Zwingli vom 13. Dezember 1516 verfolgte das zweite eine didaktische Zielsetzung; das erste, dem auch unser Gedicht entnommen ist, widmete Glarean dem panegyrischen Lobpreis bedeutender (humanistischer) Persönlichkeiten. Zu ihnen gehörte auch Erasmus von Rotterdam. Das ihm gewidmete Lobgedicht eröffnet die Sammlung; dies alleine belegt schon die enorme Bedeutung, die Glarean dem Niederländer beimass. Mit diesem stand er zwischen 1516 und 1535 nachgewiesenermassen auch in Briefkontakt; sieben Briefe des Erasmus und fünf Glareans liegen uns vor.

Das Gedicht entstand im Kontext des ersten Baselaufenthalts des Erasmus von Rotterdam. Der Niederländer lebte dort von August 1514 bis Mai 1516, mit einer viermonatigen Unterbrechung im Frühsommer 1515 für eine Reise in die Niederlande und nach England. Der Humanist betrachtete die damals in Basel verbrachte Zeit im Nachhinein als die glücklichste in seinem Leben. Zu den Humanistenkreisen, in denen er sich in Basel bewegte, gehörten neben anderen Beatus Rhenanus, Gerard Listrius, Bruno Amerbach, Johannes Froben, Wolfgang Lachner, Wolfgang Capito, Kaspar Hedio und Johannes Oekolampad – und eben auch Heinrich Loriti Glareanus, der vor Pfingsten 1514 an der Universität Basel immatrikuliert wurde und bis 1517 in Basel blieb. Glarean war es auch, der damals den glarnerischen Pfarrer Huldrych Zwingli, den späteren Reformator von Zürich, mit Erasmus bekannt machte. Erasmus bezeichnete Glarean in einem Brief an Zwingli 1514 als princeps der schweizerischen Humanisten und schenkte ihm 1516 beim Abschied aus Basel eine elfenbeinerne Uhr. In Briefen an Bekannte analysierte er präzise die intellektuellen und charakterlichen Stärken und Schwächen der Schweizer. Der noch junge poeta laureatus Glarean aber sah in dem gut 22 Jahre älteren Erasmus seinen parens et praeceptor. Von seiner Dankbarkeit gegen, seiner Bewunderung für, und seiner Anhänglichkeit an den grossen Gelehrten legt die hier wiedergegebene Elegie ein beeindruckendes Zeugnis ab. Der derart Gelobte bat Glarean im September 1516 brieflich, ihm ein Druckexemplar des Gedichts zu schicken. Es verdient Erwähnung, dass Erasmus in den Elegiarum libri von 1516 noch an anderer Stelle gerühmt wird: in der an Myconius gerichteten Elegie 1,8 (V. 9-33 und 43-45).

Die ersten 28 Verse haben eine bemerkenswerte epische Anmutung, die auch in den von uns zur Diskussion gestellten intertextuellen Bezügen deutlich wird (im Übrigen finden sich in dem ganzen Gedicht zahlreiche Anleihen bei der klassischen römischen Dichtung): Da ist der Topos einer göttlichen Epiphanie zu nachtschlafender Zeit, bei der die Gottheit dem Helden eine ermutigende Botschaft überbringt, bevor sie wieder verschwindet; man findet dies in Verg. Aen. 3,147-174 (Erscheinung der Penaten vor Aeneas) und in Aen. 8,26-67 (Erscheinung des Tiberinus vor Aeneas). In V. 29 bis 54 entfaltet Glarean den topos des humilis vates (des demütigen Dichters): Seine Stimme ist rau (vgl. besonders V. 41: raucisono stridenti; V. 47: raucidula stridentem) wie die eines Rabens oder einer Gans inmitten von Schwänen (V. 51-52) und er sieht, dass ihm der Zugang zur Inspiration verwehrt ist, die hier mit aus der Mythologie bekannten Quellen mit verschiedenen Wirkweisen verglichen wird (die Quellen der Dirke, des Parnassos, Klitor und Salmakis; V. 43-46); die Dichtung und die Musen spielen überhaupt, wie hier, so auch in den anderen Elegien der Sammlung eine zentrale Rolle. Der ein wenig konventionelle Rest des Gedichts ist eine Eloge auf die Tugend und die vortrefflichen Kenntnisse des Erasmus, den Glarean hier implizit mit dem Karthager Iopas vergleicht, der in der Aeneis über den Ursprung aller Dinge singt (Verg. Aen. 1,740-746). Er stellt ihn auch auf eine Stufe mit Cicero, Demosthenes, Homer, Sokrates und Caesar, aber auch mit den beiden Senecas und mit Lucan! Schliesslich unterstreicht der schweizerische Dichter –nicht ohne vorher noch die «belgische» Herkunft des Erasmus erwähnt zu haben (V. 86), dieses Sterns der Bataver und Lichtes der Deutschen (V. 99-100) – auch die Ehre, die seine Anwesenheit für Basel bedeutet; für Basel, aber auch für die Schweizer. Und so gibt dieses Gedicht Glareans an seinen Meister und Freund ihm die Gelegenheit, mit unverkennbarem patriotischen Stolz ein Thema anzusprechen, das ihm wichtig ist: die Allianz der Schweizer Kantone (V. 90: Qua sunt Helvetiis foedera prisca viris).

Das Gedicht gliedert sich wie folgt:

1-4: Nachtszene.

5-28: Auftritt der Muse des Erasmus.

5-10: Erscheinen der Muse.

11-12: Schweigendes Staunen des Dichters.

13-24: Rede der Muse.

13-16: Tadel der Begriffsstutzigkeit des Dichters.

17-24: Ankündigung der Freundschaft des Erasmus.

25-28: Verschwinden der Muse.

29-100: Botschaft des Dichters an Erasmus.

29-36: Begründung des gewählten Mitteilungsweges.

37-52: Klage des Dichters über seine bescheidenen Fähigkeiten.

53-56: utopische Absichtserklärung («Wenn ich Dich loben könnte, würde ich...»).

57-86: Lobpreis der Vortrefflichkeit des Erasmus.

57-58: Seine moralische Vortrefflichkeit.

59-80: Seine vortrefflichen Kenntnisse.

81-86: Vergleich mit vortrefflichen Männern des Altertums.

87-90: die glückliche Bedeutung von Erasmus’ Anwesenheit für Basel.

91-94: weitere vortreffliche Eigenschaften des Erasmus.

95-100: Schlussbemerkungen des Dichters.

95-96: Er will Erasmus nicht weiter belästigen.

97-98: Erasmus wird ihn inspirieren.

99-100: Abschied.

 

Bibliographie

Amherdt, D., «Les élégies de Glareanus aux jeunes étudiants: des conseils pour la vie (éternelle)», in: A. Neumann-Hartmann/T. Schmidt (Hgg.), Munera Friburgensia, Bern, Peter Lang, 2015, 263-277.

Augustijn, C., Erasmus von Rotterdam. Leben – Werk – Wirkung, München, Beck, 1986.

Büsser, F., «Henricus Glareanus», in: P. G. Bietenholz (Hg.), Contemporaries of Erasmus, Bd. 2, Toronto, University of Toronto Press, 1986, 105-108.

Fritzsche, O. F., Glarean. Sein Leben und seine Schriften, Frauenfeld, Huber, 1890.

Mahlmann-Bauer, B., «Frömmigkeit zwischen Reformation und Gegenreformation im antiken Gewand. Das Beispiel der Gedichte Glarean», in: U. Heinen (Hg.), Welche Antike? Konkurrierende Rezeptionen des Altertums im Barock, Bd. 2, Wiesbaden, Harrassowitz, 2011, 667-721.