Ode auf den Hl. Theodul, Bischof von Sitten

Heinrich Glarean

Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 10.02.2023.


Entstehungszeitraum: ca. 1510-1514.

Kopie: Bayerische Staatsbibliothek, Clm 28325, fol. 72v°-73r°.

Metrum: Sapphische Strophe (Sapphicum).

 

Das Gedicht wendet sich an den heiligen Theodul/Theodor von Sitten. Der historische Theodor – der auch, wie in diesem Gedicht, Theodul genannt wird – war in der Spätantike Bischof von Octodurum (heute Martigny/Martinach); belegt ist seine Teilnahme an der Synode von Aquileia im Jahre 381. Das Mittelalter nannte ihn «von Sitten», wohin der Diözesansitz mittlerweile verlegt worden war und wo sich auch seine Reliquien befanden. Nach einem um 440 verfassten Bericht des Lyoner Bischofs Eucherius gelang Theodor die Wiederauffindung der Gebeine der Märtyrer der Thebäischen Legion. Mittelalterliche Autoren machten aus propagandistischen Gründen (um die weltliche Herrschaft der Bischöfe von Sitten über das Wallis zu rechtfertigen) Theodul zum Zeitgenossen Karls des Grossen, der ihm die Grafschaft Wallis geschenkt habe. Doch einen «karolingischen» Bischof Theodul von Sitten hat es nie gegeben, wie der Chronist Johannes Stumpf etwa 30 Jahre nach Glareans Gedicht bewies. Erst 1574 entdeckte der Zürcher Josias Simler den Theodor, Bischof von Octodurum, wieder, der an der Synode von Aquleia teilgenommen hatte. Theodor/Theodul ist Patron des Kantons Wallis und des Bistums Sitten; sein Festtag ist am 16. August.

Zum Verständnis von Glareans Gedicht sind die historisch-biographischen Fakten und die sich um Theodul rankenden Legenden weitgehend irrelevant, da in dem Gedicht auf das Leben des Heiligen und seine Legende nicht eingegangen wird. Es ist nur wichtig zu wissen, dass zu Theoduls Funktionen im Volksglauben besonders auch die Rolle des Wetterpatrons gehörte. Weit verbreitet waren etwa die sogenannten Theodulglocken, denen man eine apotropäische Funktion gegen Unwetter zuschrieb. So erhielt etwa auch Glarus 1477 vom Bischof von Sitten entsprechende Reliquien, die beim Neuguss einiger Glocken Verwendung finden sollten. In seiner Funktion als Wetterheiliger wird Theodul in dem vorliegenden Gedicht angerufen. Die Sapphische Ode präsentiert sich als Gebet des Dichters an den Heiligen.

Die metrische Form des Gedichts (Sapphische Strophe) ist beeinflusst durch die entsprechenden Oden des Horaz. Die Diktion ist bewusst klassisch-antikisch stilisiert, was bei einem modernen Leser angesichts des christlichen Inhalts mitunter zu Irritationen führen mag. Die klassischen Mustern folgende Anrufung der Muse und Apolls zu Beginn und die an die christliche Dreifaltigkeit gerichtete Doxologie am Ende des Gedichts sind in dieser Hinsicht paradigmatisch für die Art und Weise, wie der Humanist Glarean in diesem Gedicht klassische Form und christlichen Inhalt miteinander verbindet. Rein logisch betrachtet, würden sie sich ausschliessen; und doch umschliessen sie gemeinsam ein Gedicht, das zu Glareans gelungenen poetischen Leistungen zählt.

Gliederung des Gedichts

1-4: Anrufung der Muse und Apolls

5-16: Lobpreis des Theodul 17-40: Anrufung des Theodul als Nothelfer

       17-24: Sturmbeschreibung

       25-28: Benennung des Theodul als Nothelfer

                   25-26: Vermeintliche Aporie (rhetorische Fragen: «Was wird uns retten?»)

                   27-28: Auflösung der Aporie (Antwort: «Du, Theodul, wirst uns retten!»)

       29-44: Bitten an Theodul

45-48: Trinitarische Doxologie

 

Bibliographie

Chevalley, E., «Les trois vies de Théodule», Passé simple 37 (2018), 3-11 (populärwissenschaftlich).

Dubuis, F.-O., «Saint Théodule, patron du diocèse de Sion et fondateur du premier sanctuaire d’Agaune: les expressions diverses d’une indéfectible vénération», Annales valaisannes, 1981, 123-159.

Grenat, M., Dissertation sur l’existence de Saint Théodule, évêque de Sion, Fribourg, Imprimerie catholique, 1880.

Nachbaur, U., «Der heilige Bischof Theodul. Von der Urkundenfälschung bis zur Käsewerbung», Montfort 66 (2014), 5-81.