Sangallas

David Wetter

Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt). Version: 30.10.2024.


Entstehungszeitraum: vermutlich in den Monaten vor dem öffentlichen Vortrag am 20. September 1628, genauere Aussagen zum Arbeitsbeginn sind nicht möglich.

Ausgaben: Sangallas. Id est: Brevissima delineatio urbis Sangalli, carmine heroico expressa. Cui accesserunt Poemata quaedam ad Sangallenses scripta. Autore Davide Wettero, Gymnasii Sangallensis Rectore, P. L. C., Basel, Johann Jakob Genath, 1629.

Übersetzung: eine überarbeite und erweiterte gereimte Version in neuhochdeutschen Alexandrinern aus der Feder von Josua Wetter (David Wetters Sohn) erschien 1642: Kurtze und einfältige Beschreibung der Statt Sanct-Gallen, Strassburg, Andrea, 1642; Faksimileausgabe hg. von H. Edelmann, St. Gallen, Zollikofer & Co, 1948.

 

Der Autor, das Gedicht und sein Inhalt

Der am 26. September 1594 in St. Gallen geborene David Wetter studierte in Heidelberg an der dortigen reformierten Universität (worauf auch die beiden Anfangsverse des hier präsentierten Gedichts Bezug nehmen) und lehrte ab 1621 an der Lateinschule seiner Heimatstadt; daneben war er 1621-1626 deren Konrektor und anschliessend bis zu seinem Tod am 19. Januar 1630 ihr Rektor. Neben dem hier zu behandelnden Gedicht Sangallas, das ihm 1629 die Krönung zum poeta laureatus durch Kaiser Ferdinand II. eintrug, verfasste er eine ebenfalls 1629 erschienene Abhandlung Tres sermones de comoediis, in der er das Schultheater als wertvolles pädagogisches Instrument gegen Vorwürfe verteidigte, die nicht zuletzt der Zürcher Antistes Johann Jakob Breitinger gegen es erhoben hatte. Wie die Überschriften der beiden Gesänge der Sangallas zeigen, wurden sie am 10. [nach gregorianischem Kalender: am 20.] September 1628 in St. Gallen von jeweils einem Schüler der Lateinschule öffentlich vorgetragen (recitata). Wie man sich diese Veranstaltung konkret vorzustellen hat und vor welchem Publikum sie stattfand, ist leider nicht mehr zu rekonstruieren. Man kann jedoch plausibel davon ausgehen, dass neben dem schulinternen Publikum auch die geistige und politische Führung St. Gallens und die Väter der Schüler anwesend waren (diese beiden Gruppen dürften sich dabei überlappt haben); die namentliche Erwähnung einiger von ihnen im zweiten Gesang spricht sehr für diese These. Halten wir zudem fest, dass die beiden Schüler mit ihrem unzweifelhaft auswendigen Gedichtvortrag ihre nicht gering zu veranschlagenden mnestischen Fähigkeiten unter Beweis stellten. Nicht nur die mit der Rezitation verbundene Schulung des Gedächtnisses, sondern auch der öffentliche Vortrag vor einem Publikum besassen erheblichen pädagogischen Nutzwert. Vielleicht war eine solche öffentlichen Vorführung der in der Schule erworbenen Fertigkeiten der Wetter anvertrauten Jugendlichen eine Spätfolge der Rügen, die er nach einer Visitation im Herbst 1627 für mangelhafte Leistungen seiner Schüler erhalten hatte: Diese seien zu wenig geübt im lateinischen Extemporieren und hätten eine undeutliche lateinische Aussprache. Zumindest für den letzteren Punkt konnte ein öffentlicher Vortrag der Sangallas als Gegenmittel dienen.

In seinem an die politische Führung St. Gallens adressierten Widmungsbrief, der die Druckfassung der Sangallas einleitet, erklärt Wetter ausführlich und mit gebührenden rhetorischen Verneigungen vor den Angesprochenen die patriotischen Beweggründe, die ihn zum Verfassen der Sangallas bewegt hätten. Für ihn zeichnet es «einen guten und dankbaren Bürger aus, nichts für wichtiger, nichts für ehrwürdiger zu halten als diese Republik, in der er geboren und erzogen worden ist, von der er mit so vielen Wohltaten überhäuft worden ist, auf jede Weise zu verherrlichen, mit allen Kräften ihre Reputation zu mehren und ihren Ruhm mit würdigen Lobreden der Nachwelt zu übermitteln.» Auf die Vorrede folgt ein kurzes Lobepigramm von Johannes Guntius aus St. Gallen auf David Wetter. Die Gliederung des in Hexametern verfassten Gedichts selbst ist ungefähr folgende: Im ersten Gesang folgt auf ein kurzes Proöm (1-10), in dem der vortragende Schüler, Georg Spindler, sein Publikum angesichts seiner schwachen Kräfte um Nachsicht bittet, die ausführliche Schilderung (11-81) der Umstände, die den heilige Gallus in die Gegend des heutigen St. Gallens brachten, und seiner Entscheidung, sich an dieser Stelle eine Einsiedlerzelle zu erbauen. Er wird dadurch zum nostrae Pater inclytus Urbis (V. 76: «zum hochberühmten Vater unserer Stadt»). Die Klostersiedlung wächst nach seinem Tod (82-94), Wetter nennt sie Patriae cunabula nostrae (V. 90: «Wiege unserer Heimat). Der Einfall der Ungarn (im Jahr 926) führt zur völligen Verwüstung, doch Abt Anno spricht den Menschen Mut zu, und man geht an den Wiederaufbau (95-121). Dann fasst Wetter die folgenden Jahre bis in seine Gegenwart kurz zusammen (122-130): Eine ummauerte Stadt ist entstanden, die immer wieder unter verschiedenen Schwierigkeiten zu leiden hatte, darunter etwa auch Auseinandersetzungen mit den Äbten und Stadtbrände. Davon ausgehend endet der Gesang in einer geographischen Beschreibung der Stadt und ihrer nächsten Umgebung, deren Annehmlichkeiten er zu rühmen weiss (131-169). Seine mit Lokalitätsnamen gespickte Darstellung dürfte für Leser ohne eine gewisse Ortskenntnis kaum nachzuvollziehen gewesen sein (auch die deutschen Marginalerklärungen zu den genannten Orten sind ohne eine solche nicht hilfreich), aber das primäre Publikum dieses Textes waren ja St. Galler, die sich in ihrer Heimat auskannten. Im letzten Vers (170) reicht Georg Spindler den poetischen Staffelstab an den zweiten Schüler, Leonhard Studer, weiter. Dieser teilt zu Beginn des zweiten Gesangs mit, dass er etwas zu den Sitten St. Gallens und den Beschäftigungen sagen wird, denen die dort lebenden Menschen nachgehen (1-4). Er beschreibt, wie die St. Galler, die keine grossen landwirtschaftlichen Ressourcen besitzen, sich nach einem verheerenden Stadtbrand (vermutlich dem von 1418) dem Handel, genauer: dem Leinwandgewerbe, zuwenden. Sie knüpfen internationale Handelsbande, und die Stadt erfährt eine Bevölkerungszunahme und eine Steigerung ihres Wohlstandes (5-36). Einen kurzen Exkurs widmet Wetter sodann der St. Gallen aufgrund im Jahr 1475 gegen die Burgunder geleisteter militärischer Unterstützung durch Kaiser Friedrich III. gewährten Wappenbesserung (37-41). Logisch darauf aufbauend rühmt Wetter die charakterliche Vortrefflichkeit der St. Galler Männer, die jedoch in der Gegenwart schon bedenklich abgenommen habe (42-57); wohlfeile, toposhafte Gegenwartskritik, für die er Belege schuldig bleibt und die zu vertiefen er sich hütet. Darauf lobt der Dichter uneingeschränkt die fleissigen Frauen St. Gallens und ihre Stickkünste; sie wären würdige Ehefrauen für einige namentlich aufgeführte Helden der Antike (58-70). Anschliessend stellt Wetter mit grosser Sympathie und Begeisterung das politische System St. Gallens und die damit verbundenen Wahlmechanismen dar (71-90a). Von da aus leitet der er über zu einem Lob grosser Männer seiner Stadt: erst mehrerer noch Lebender (90b-112), dann zu dem des Joachim Vadian (113-142), dessen vielseitiges Wirken er in seinen verschiedenen Aspekten entfaltet (etwa die Reformation von St. Gallen: 136-137). Anschliessend rühmt er noch besonders ausführlich Sebastian Schobinger, Vadians Schwiegerurenkel, in dem dieser gleichsam wiederkehre, und dessen Grossvater Bartholome Schobinger (142-153). Am Ende dieses Gesangs steht ein Gebet, in dem der Sprecher die Stadt St. Gallen Gott anempfiehlt (154-165); an dieser Stelle merkt man eine gewisse Besorgnis angesichts des 30-jährigen Krieges, der sich zu diesem Zeitpunkt in einer für das reformierte Lager ungünstigen Phase befand, was unverkennbar auch die nicht unmittelbar involvierten St. Galler bekümmerte.

 

Die Gattung

Gattungsmässig handelt es sich bei der Sangallas um ein Stadtlobgedicht. Diese Gattung war aufgrund der politischen Bedeutung von Städten im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit stark ausgeprägt (daneben gab es auch Stadtlobreden, und auch in anderen literarischen Gattungen finden sich Stadtdarstellungen). Als konkrete antike Vorbilder konnten Texte wie die Mosella und das Hodoeporicon des Ausonius oder die Laus Italiae in den Georgica des Vergil (2,136-176) dienen, während eigentliche Stadtlobe aus dem Altertum nur selten überliefert sind (besondere Erwähnung verdient hier etwa die Romrede des Aelius Aristides). In der rhetorischen Theorie thematisiert das Stadtlob als erster Quintilian (inst. orat. 3,7,26-28), dem die spätantiken Rhetoriklehrbücher (Priscian, Emporius, Menander) folgen. Ab Mitte des 16. Jahrhunderts findet es Eingang in die neuen humanistischen Rhetoriklehrbücher. Im deutschsprachigen Raum erlangte die grösste Bekanntheit wahrscheinlich die 1532 erschienene Urbs Norimberga des Helius Eobanus Hessus. Es ist mit Blick auf die Beliebtheit dieser Gattung nicht zu vergessen, dass die humanistische Bewegung in besonderer Weise in Städten entstand und sich dort verbreitete. Pauschale Aussagen über diese Gattung zu treffen ist aufgrund der enormen Masse erhaltener (und zu einem grossen Teil noch nicht adäquat erforschter) Texte schwierig, zumal sich charakteristische Unterschiede, Auslassungen und Schwerpunktsetzungen natürlicherweise schon aus den lokalen Besonderheiten des jeweils zu lobenden Objektes ergeben mussten.

 

Interpretation ausgewählter Passagen der Sangallas

Im Folgenden werfen wir einige Schlaglichter auf mehrere für den geistigen Hintergrund des Gedichts und die Aussage- und Wirkabsichten seines Autors besonders bezeichnenden Passagen. Im Übrigen verweisen wir zum Verständnis des gesamten Gedichts auf die deutsche und französische Übersetzung, die mit umfangreichen erklärenden und teilweise auch interpretierenden Anmerkungen versehen sind.

1,36: Gallus lehnt die Bischofswürde von Konstanz ab. Wetter merkt dazu ausdrücklich an, dass es sich um die Stadt handelt, in der später Jan Hus als Häretiker hingerichtet werden sollte. Die auf den ersten Blick durchaus unmotiviert wirkende Nennung des böhmischen Predigers, den man als Vorläufer der Reformation betrachten kann, soll an dieser Stelle wohl eine implizite Verbindung zwischen dem den hierarchischen Würden in der katholischen Kirche abholden Gallus und der Reformation schaffen. Wetter stand vor der Aufgabe, das Andenken des Namensgebers von St. Gallen zu rühmen, wobei er nicht völlig an der Tatsache vorbeigehen kann, dass dieser in einer Zeit gelebt hatte, die aus reformierter Perspektive als eine Periode der tiefen Verfinsterung der christlichen Religion erschien. Er löst diese Schwierigkeit auf, indem er geschickt einen Keil zwischen Gallus und die hierarchische katholische Kirche seiner Zeit treibt und die Unvereinbarkeit ihrer Prinzipien inszeniert. Dazu passt, dass Gallus’ Predigttätigkeit hervorgehoben wird (1,57), sein sakramentaler Dienst dagegen keine Erwähnung findet. In dieser Schwerpunktsetzung spiegelt sich die reformierte Betonung des Wortes und die Ablehnung der katholischen Sakramentenlehre wider. Der frühmittelalterliche Gallus, wie Wetter ihn darstellt, ist kompatibel mit den Werten des reformierten St. Gallens im Jahr 1628.

1,128: Hier spricht Wetter von Schwierigkeiten der Bürger von St. Gallen mit den mittelalterlichen Äbten. Damit rechtfertigt er impliziert die historische Emanzipationsbewegung, die St. Gallen aus der Klosterherrschaft führte, beginnend mit einem der Stadt den Kauf wichtiger Rechte vom Kloster ermöglichenden eidgenössischen Abschied von 1457 und gipfelnd mit ihrer im Wiler Vertrag von 1566 festgelegten vollständigen Freiheit.

2,5-36: In dieser panegyrischen Passage über den Gewerbe- und Handelsort St. Gallen spricht sich gleichsam ein protokapitalistischer Leistungs- und Besitzstolz aus. Wetter betätigt sich hier als Lobredner einer wirtschaftlichen Prosperität, an der er als Rektor der städtischen Lateinschule, der nicht zuletzt die Söhne der vom Handel profitierenden Stadtoberen unterrichtete, zumindest indirekt selbst partizipierte. Diese Väter und ihre Söhne dürften das wichtigste Publikum beim öffentlichen Vortrag des Gedichts gebildet haben. Nirgendwo kommt in der Sangallas die die St. Galler Elite jener Tage leitende merkantile Ideologie so deutlich zum Ausdruck wie hier. Sie bildet einen wesentlichen geistigen Baustein dieses Stadtlobs, den an Bedeutung nur die demonstrativ herausgekehrte Gottesfürchtigkeit übertrifft. An späterer Stelle bringt Wetter diese beiden Eigenschaften der St. Galler klar auf den Punkt: sie sind «ein fleissiges Volk, das die Frömmigkeit liebt und mühsame Arbeit geduldig erträgt» (2,52). Es ist zumindest bemerkenswert, dass die von Wetter hervorgehobene prosperierende Wirtschaft nicht lange nach der Publikation der Sangallas in eine temporäre Krise geriet. Im Jahre 1629 wurde St. Gallen vom «Grossen Tod» heimgesucht, einer Pestepidemie, die 1500 Opfer forderte. In den 1630ern geriet schliesslich, durch den 30-jährigen Krieg bedingt, das Leinwandgewerbe in eine Rezession, da der Fernhandel zusammenbrach. Wäre man abergläubisch, müsste man vermuten, dass Wetters forciertes Lob des St. Galler Gewerbefleisses den Neid der Götter herausgefordert hatte. Für das Selbst- und Fremdbild der St. Galler in der Frühen Neuzeit lässt sich «merkantile Tüchtigkeit» im Übrigen nicht nur bei Wetter als wichtiges Charakteristikum nachweisen.

2,37-41: Hier berichtet Wetter mit erkennbarem Stolz von der der Stadt St. Gallen im Jahr 1475 vom Kaiser gewährten Wappenbesserung. Darin kommt die ungebrochene Bindung St. Gallens an das Reich zum Ausdruck. Sein Status als Zugewandter Ort der Eidgenossenschaft dagegen wird eher nebenbei angedeutet: in 2,70 wird die Stadt implizit der Region Helvetia zugerechnet. Zugleich indes wird St. Gallen in 1,98 dem Thuisconis orbis zugerechnet, dem «Land des Tuisco», eines mythischen Urvaters der Germanen. Im Umfeld von Kaiser Ferdinand II., der Wetter zum poeta laureatus machte, scheint man das in dem Gedicht erkennbare Bekenntnis eines St. Galler Reichspatriotismus, mit dem Wetter sicher der Haltung der von ihm in seinem Widmungsbrief adressierten Stadtoberen Ausdruck verlieh, wahrgenommen zu haben. Anders als bei den Eidgenossen, die 1648 ihre Exemption aus dem Reichsverband erhielten, endete die Reichszugehörigkeit der Stadtrepublik St. Gallen erst mit dem Einfall der Franzosen im Jahr 1798 und ihrer daraus resultierenden Auslöschung; der heutige Kanton St. Gallen existiert seit 1803.

2,111-152: Hier rühmt Wetter zunächst ausgiebig Joachim Vadian, die herausragende Gestalt im politischen, religiösen und geistigen Leben St. Gallens im 16. Jahrhundert (111-141) und dann dessen Schwiegerurenkel Sebastian Schobinger (141-152), den er dafür rühmt, dass in ihm sein Schwiegerurgrossvater Vadian wiederkehre. Vadian war also auch noch fast 80 Jahre nach seinem Tod ein wesentlicher Bezugspunkt und ein Massstab, an dem sich die St. Galler Elite des Jahres 1628 messen lassen musste. Wetter datiert seinen Widmungsbrief sogar auf das «78. Jahr nach dem Tode Vadians». Die in der Forschung zur deutschsprachigen Literatur St. Gallens im 17. Jahrhundert formulierte Beobachtung, die Stadt sei damals epigonal auf eine als golden empfundene Vergangenheit fixiert gewesen, findet in Wetters lateinischem Gedicht eine geradezu extreme Bestätigung. Dazu passt letztlich sehr gut, dass es in diesem Gedicht keine echte Zukunftsperspektive gibt, wenn man von der Bitte an Gott absieht, die Stadt vor den Kriegswirren zu verschonen. Es wird jedoch keine Bitte an Gott gerichtet, die Macht und den Reichtum der Stadt weiter zu mehren. Der Dichter ist mit dem erreichten Ist-Zustand, besonders im politischen System und im wirtschaftlichen Leben, offensichtlich zufrieden. Einmal zwar klingt toposhaft und moralisierend die Besorgnis an, die heutigen Männer bliebe an Tapferkeit hinter ihren grossen Vorfahren zurück (2,56-57), doch schon an den Sitten der St. Galler Frauen und Mädchen seiner Zeit hat Wetter (bemerkenswerterweise!) nichts auszusetzen. Und wirklich besorgniserregend kann es auch um die Männer in St. Gallen nicht stehen, schliesslich steht mit Sebastian Schobinger sogar gleichsam ein reinkarnierter Vadian bereit. Wetter dürfte sich bei der Ausgestaltung seines Gedichts an der von ihm vermuteten Zufriedenheit seiner Adressaten aus der Führungsschicht an den bestehenden Verhältnissen orientiert haben. Welche Gunsterweise er von ihnen für sein St.-Gallen-Lob erhoffte – das ja auch ein Lob ihrer politischen Weisheit und Tatkraft enthält –, lässt sich heute nicht mehr feststellen.

Notieren wir zwei weitere Beobachtungen zu diesem Text:

  1. Es gibt in diesem Gedicht eine bemerkenswerte Auslassung, was die St. Galler Gegenwartsverhältnisse des Jahre 1628 angeht. Die von der reformierten Stadt nur durch eine Schiedmauer getrennte Abtei, die die Wirren der Reformation erfolgreich überlebt hatte, wird mit keinem Wort erwähnt, obwohl sie David Wetter und seinen Mitbürgern schon aufgrund ihrer hohen Türme tagtäglich vor Augen stand. Man mag dies mit einem bewussten Verzicht auf eine den Stadtoberen aus diplomatischen Gründen unerwünschte aktuelle konfessionelle Polemik erklären können, die ansonsten unvermeidbar gewesen wäre. Dass Wetter die unter Vadian durchgeführte Reformation in der Stadt rühmt, spricht nicht gegen diese Deutung, da es sich dabei um abgeschlossene historische Vorgänge handelte. Von Wetters Text aus käme man nie auf den Gedanken, dass der Katholizismus vor den Toren St. Gallens immer noch stark und mächtig war und die Stadt sich mit diesem Faktum nolens volens abfinden musste.
  2. An einigen Stellen des Gedichts wird eine reformierte Grundhaltung deutlich, besonders in seiner Solidarität mit Jan Hus in 1,36 und dem Lob von Vadians Engagement bei der Reformation von St. Gallen in 2,134-141. Ungeachtet dessen, dass damals nördlich von St. Gallen der Dreissigjährige Krieg tobte, haben solche Aussagen nicht verhindert, dass der entschieden katholisch gesinnte Kaiser Ferdinand II. den Dichter zum poeta laureatus krönte. Abgesehen von der Frage, ob der Kaiser selbst die Sangallas jemals gelesen hat, könnten bei dieser Dichterkrönung zugunsten der ausserhalb des Kriegsgeschehens verharrenden protestantischen Reichsstadt St. Gallen vielleicht auch politische und diplomatische Erwägungen leitend gewesen sein.

David Wetter veröffentlichte seine Sangallas im Jahr 1629 zusammen mit weiteren Gedichten aus seiner Feder. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Gelegenheitsgedichte mässigen Umfanges, die an prominente St. Galler adressiert sind (mehrfach begegnet hier etwa wieder Sebastian Schobinger); inhaltlich reicht ihr Spektrum von Geburtstags- und Hochzeitsglückwünschen über Lobgedichte anlässlich einer wissenschaftlichen Publikation bis zu Trauergedichten und Epitaphien. Einige wenige Gedichte hat Wetter in Altgriechisch verfasst (besondere Erwähnung verdient dabei ein an Sebastian Schobinger adressiertes Figurengedicht in Kelchform). Das insgesamt 52 Seiten umfassende Büchlein schliesst mit einigen Epigrammen zu diversen Themen (bei erkennbarer geistlicher und moralischer Schwerpunktsetzung). 1642 veröffentlichte David Wetters Sohn, Josua, unter dem Titel Kurtze und einfältige Beschreibung der Statt Sanct-Gallen eine deutsche Bearbeitung der Sangallas. Er begründet diese mit dem geringen Umfang der lateinischen Sangallas – seine Beschreibung ist dementsprechend an einigen Stellen im Vergleich zu Davids Werk inhaltlich erweitert – und mit dem Wunsch, auch lateinunkundige Mitbürger zu erreichen. Dass Josua Wetter noch auf keine vollausgebildete und ästhetisch zufriedenstellende deutsche Literatursprache zurückgreifen konnte, ist nicht sein Verschulden. Es bedingt aber, dass in ästhetischer und qualitativer Hinsicht dem Werk seines Vaters eindeutig der Vorzug zu geben ist. Dessen Sangallas gewährt wichtige Einsichten in das ideologische Selbstverständnis der intellektuellen und politischen Elite der reformierten Reichstadt St. Gallen im 17. Jahrhundert, die David Wetters Publikum bildete. Er und sein Sohn gehören darüber hinaus zu den wenigen St. Gallern des 17. und 18. Jahrhunderts, die mehr als nur lokale Aufmerksamkeit verdienen.

Hinweis: Einen anderen von einem St. Galler Autor (Joachim Vadian) stammenden Text mit lokalpatriotischer Stossrichtung präsentieren wir unter https://humanistica-helvetica.unifr.ch/de/works/80

 

Bibliographie

Vorbemerkung: Mehr oder weniger ausführliche Bibliographien zur Thematik des literarischen Städtelobs findet man in den hier aufgeführten Beiträgen von Arnold, Kugler, Ludwig und Thurn; wir wiederholen diese Auflistungen hier nicht.

Arnet, M., Die Orts- und Flurnamen der Stadt St. Gallen, St. Gallen, Verlag St. Galler Namenbuch, 1990.

Arnold, K., «Städtelob und Stadtbeschreibung im späteren Mittelalter und in der frühen Neuzeit», in: P. Johanek (Hg.), Städtische Geschichtsschreibung im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien, Böhlau, 2000, 247-268.

Bätscher, T. W., Kirchen- und Schulgeschichte der Stadt St. Gallen. Von Vadians Tod bis zur Gegenwart, Bd. 1: 1550-1630, St. Gallen, Tschudy, 1964.

Gamper, R., «Joachim Vadian und die Reformation in der Stadt St. Gallen», Neujahrsblatt des Historischen Vereins des Kantons der Stadt St. Gallen 158 (2018), 33-39.

Kugler, H., «Städtelob», Historisches Wörterbuch der Rhetorik 8 (2007), 1319-1325.

Ludwig, W., «Die Darstellung südwestdeutscher Städte in der lateinischen Literatur des 15. bis 17. Jahrhunderts», in: B. Kirchgässsner/H.-P- Brecht, Stadt und Repräsentation, Sigmaringen, Jan Thorbecke, 1995, 39-76.

Schäfer, W. E., «Deutsche Literatur zur Zeit des Barock», in: W. Wunderlich (Hg.), St. Gallen. Geschichte einer literarischen Kultur. Kloster – Stadt – Kanton – Region, Bd. 1 (Darstellung), St. Gallen, UVK, 1999, 329-370 [=Schäfer (1999a)].

Schäfer, W. E., «Deutsche Literatur zur Zeit des Barock», in: W. Wunderlich (Hg.), St. Gallen. Geschichte einer literarischen Kultur. Kloster – Stadt – Kanton – Region, Bd. 2 (Quellen), St. Gallen, UVK, 1999, 329-369 [=Schäfer (1999b)].

Stückelberger, H. M., Kirchen- und Schulgeschichte der Stadt St. Gallen. Von Vadians Tod bis zur Gegenwart, Bd. 2: 1630-1750, St. Gallen, Tschudy, 1962.

Thomke, H., «Wetter, Josua», Killy Literaturlexikon – Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums 12 (2011), 1279-1280.

Thomke, H., «Wetter, Josua», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 11.01.2015, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/012395/2015-01-11/.

Thurn, N., «Deutsche neulateinische Städtelobgedichte: Ein Vergleich ausgewählter Beispiele des 16. Jahrhunderts, Neulateinisches Jahrbuch 4 (2002), 253-269.

Zeller, R., «Wetter, David», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 28.10.2013, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/044743/2013-10-28/.

Ziegler, E., Sitte und Moral in früheren Zeiten. Zur Rechtsgeschichte der Reichsstadt und Republik St. Gallen, Sigmaringen, Jan Thorbecke, 1991.