ETWAS

Franz Guillimann

Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt). Version: 02.09.2024.


Entstehungszeit: Vermutlich Februar/Frühjahr 1611 (in Freiburg i. Br., nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in Innsbruck).

Ausgaben: [Jean Passerat, Franz Guillimann, Theodor Marcilius], Nihil. Aliquid. Nemo, Freiburg i. Br., Strasser, 1611, hier: 3-4 (Guillimanns Vorrede) und 9-16 (Text des Gedichts); Abdruck des Gedichts ohne Guillimanns Vorrede in: Casper Dornau (Hg.), Amphitheatrum Sapientiae Socraticae Jocoseriae […] congestum tributumque a Caspare Dornavio, Hannover, Aubrii & Schleichius, 1619, Bd. 1, hier: 729-730.

Metrum: daktylischer Hexameter.

 

Vorbemerkung

Auf Leben und Werk Franz Guillimanns gehen wir an anderer Stelle genauer ein; untenstehend nur insofern, als es für das Verständnis des hier präsentierten Textes, des Gedichtes Aliquid, hilfreich ist.

 

Entstehungs- und Publikationsgeschichte von Guillimanns Aliquid-Gedicht

Franz Guillimann adressierte sein 133 Verse umfassendes Gedicht 1611 als Geschenk an den aus Vorderösterreich stammenden promovierten Juristen und Pfalzgrafen Friedrich von Altstetter-Kaltenburg, der 1602 von Erzherzog Maximilian III. zum tirolischen Hofkanzler erhoben worden, was er bis 1620 blieb. Er verstarb am 19. Februar 1625 in Innsbruck. Guillimanns Bestreben dürfte bei der Dedikation seines Gedichts, wie bei solchen Gelegenheiten üblich, dahin gegangen sein, sich des Wohlwollens eines potentiellen Unterstützers zu versichern. Dabei hat sicher eine Rolle gespielt, dass Guillimann als Geschichtsprofessor im vorderösterreichischen Freiburg i. Br. wie der tirolische Hofkanzler Altstetter ein Untertan des Erzherzogs Maximilian III. war. Daneben ist sicher auch die Lust ausschlaggebend gewesen sein, sich einmal als Dichter an der im 17. Jahrhundert sehr lebendigen, besonders durch Jean Passerat (1534-1602) ausgelösten literarischen Mode der Nihil- bzw. auch der Aliquid-Gedichte zu beteiligen (wir gehen weiter unten genauer auf diesen Trend ein). In seiner Vorrede an Altstetter erklärt Guillimann diesem, die Lektüre von Jean Passerats Nihil-Gedicht habe ihn dazu angeregt, sich seinerseits an dem nun vorliegenden Aliquid zu versuchen.

Guillimanns Gedicht an Altstetter wurde 1611 verfasst, und zwar kurz nachdem Guillimann im Februar oder März von einem längeren Aufenthalt in Innsbruck (ab November 1610) nach Freiburg i. Br. zurückgekehrt war. In Innsbruck war er im Dezember 1610 in den Adelsstand erhoben worden und hatte ein Druckprivileg für sein Geschichtswerk Austriaca erhalten. Mitte 1611 vermählte er sich zum zweiten Mal. Es wurde im gleichen Jahr zusammen mit zwei schon älteren und arrivierten Texten anderer Autoren, Jean Passerats Nihil-Gedicht und dem Lusus de nemine (bzw. Nemo) des Theodor Marcilius (1548-1617), veröffentlicht (zu der Gattung, der diese Texte angehören, sagen wir weiter unten mehr). Man muss mit Bedauern konstatieren, dass der mitunter schwerfällige Text Guillimanns an Witz und Erfindungsgeist hinter diesen beiden Vorgängern zurückbleibt.

Guillimann dürfte sich aufgrund seiner erwähnten erfreulichen biographischen Ereignisse der Vormonate in einer einigermassen guten Stimmung befunden haben, als er dieses Gedicht verfasste. Noch im selben Jahr scheiterte allerdings die geplante Drucklegung der Austriaca mit einer eigenen Druckerei an mangelnder finanzieller Unterstützung durch die chronisch klamme erzherzogliche Kasse, die auch mit ihren Gehaltszahlungen an Guillimann in enormem Rückstand war. Das Werk blieb bis zum heutigen Tage ungedruckt.

Der Text des Gedichts (ohne die Widmungsvorrede) erschien 1619 gedruckt auch in dem von Caspar Dornau herausgegebenen Amphitheatrum Sapientiae Socraticae Jocoseriae, einer für das Studium der paradoxalen Dichtung unverzichtbaren Sammlung, die Texte verschiedener Herkunft und Intention umfasst. Über Reaktionen zeitgenössischer oder späterer Leser auf Guillimanns Aliquid-Gedicht ist nichts bekannt. Auch in der Forschung hat der Text kaum Aufmerksamkeit gefunden.

 

Literaturgeschichtliche Einordnung des Aliquid-Gedichts

Guillimann bezeichnet sein Gedicht im Titel als ein ALIQUID – ein ETWAS – für den Adressaten Altstetter (ALIQUID ad … Fredericum Altstetterum), und das Wort ALIQUID kehrt in dem Text immer wieder, in der Regel durch Majuskeln hervorgehoben; daneben taucht gelegentlich in gleicher Hervorhebung auch das Wort NIHIL (NICHTS) auf. Grob gesagt, stellt Guillimann in diesem Gedicht die Eigenschaften und die umfassende Wichtigkeit des ALIQUID (ETWAS) vor Augen, wobei die konkrete Bedeutung des Wortes jedoch entsprechend den unterschiedlichen Kontexten changieren kann. Auf einen heutigen Leser muss dieser Text alleine schon durch sein äusseres Erscheinungsbild seltsam wirken, und er bedarf daher einer literaturgeschichtlichen Einordnung.

Das Aliquid-Gedicht und seine Eigentümlichkeiten lassen sich vor dem Hintergrund der Gattung der paradoxen Lobgedichte verstehen. Ein paradoxes/ironisches Enkomium ist eines, das sich einem allgemein und objektiv als nicht lobwürdig betrachteten, da materiell, moralisch oder in anderer Hinsicht minderwertigem Gegenstand widmet und damit die normalen Wertungsmassstäbe gleichsam auf den Kopf stellt. Die Wirkung eines solchen Textes beruht darauf, dass sich zwischen seinen Aussagen und der Realität ein tiefer Bruch auftut. Die Gattung entstand in der Antike. Als erstes bekanntes Beispiel gilt das Lob der Helena des Sophisten Gorgias (5. Jh. v. Chr.), mit dem er es unternahm, dieses ehebrecherische Flittchen, das mit seiner Untreue den Trojanischen Krieg ausgelöst hatte, zu preisen. Weitere bekannte Beispiele sind das Lob der Fliege von Lukian (2. Jh. n. Chr.) sowie das Lob der Armut des Apuleius (123-nach 170 n. Chr.) in dessen Apologie. Im Humanismus erlebte diese Gattung einen enormen Aufschwung und fand sowohl auf Latein wie in den Volkssprachen zahlreiche Vertreter. Ihr zuzurechnen und zugleich wohl ihr neuzeitlicher Höhepunkt ist das Lob der Torheit des Erasmus von Rotterdam (1466-1536); besondere Erwähnung verdienen auch das Lob Neros des Girolamo Cardano (1501-1576) und das Lob der Gicht von Willibald Pirckheimer (1470-1530). Derartige Texte, die Ernst und Scherz miteinander verbanden (im Sinne des aus der Antike stammenden Konzepts des σπουδογελοῖον) bereiteten den Boden für die «ioco-seriöse Tradition des Späthumanismus», der sich auch Guillimanns Gedicht zurechnen lassen kann.

Innerhalb der Gattung der paradoxen Enkomien gibt es Texte, die sich dem Nichts widmen und aus dessen Rühmung ihren paradoxen bzw. doppeldeutigen Effekt beziehen. Liest man einen Satz wie «NICHTS ist grösser als Gott», so ist es möglich, ihn als Gotteslob zu lesen (im Sinne von «Gott ist grösser als alles andere») oder aber als paradoxe (und in diesem Fall zugleich blasphemische) Verherrlichung des Nichts (im Sinne von «Das Nichts ist grösser als Gott»). Schon die Antike schätzte vergleichbare Paradoxien, in Anlehnung an den neunten Gesang der Odyssee, in dem der listige Odysseus dem Kyklopen Polyphem gegenüber seinen Namen als «Niemand» angibt, und dieser später nach seiner Blendung durch den Griechen von seinen Mitkyklopen keine Hilfe bekommt, als er ihnen zuruft, «Niemand» habe ihm ein Leid zugefügt. Das Mittelalter brachte eine breite Literatur über dieses Nemo-Motiv hervor, die in Ulrich Huttens Nemo von 1518 einen Nachfolger fand; und das Mittelalter begann auch damit, abstrakte Termini der Schulphilosophie spasshaft (bzw. spasshaft und ernsthaft zugleich) zur Kreierung absurder Aussagen zu verwenden. Diese Art von Literatur erfuhr im 16. Jahrhundert noch einmal einen kräftigen Schub durch den bereits oben erwähnten Jean Passerat. Dieser beschenkte am 1. Januar 1582 seinen Mäzen Henri de Mesmes wie an jedem Neujahrstag zwischen 1570 und 1596 (Mesmes Todesjahr) mit einem Gedicht (derartige poetische Neujahrspräsente bezeichnete man als strenae bzw. étrennes). In diesem Jahr trug sein 70 Verse umfassendes Poem den Titel De Nihilo («Über (das) Nichts»). Diesem Gedicht war eine weite Verbreitung und eine grossse Wirkungsgeschichte beschieden; Martin Schook verfasste noch 1661 einen Kommentar dazu, was die langandauernde Popularität des Gedichts belegt. Passerat regte mit seinem Gedicht über Nihil zahlreiche andere Autoren an, in Latein oder auch in den Volkssprachen Poeme über das Nihil/Nichts oder – im Kontrast dazu – über das Aliquid/Etwas oder über Omnis/Alles zu verfassen. Das erste Gedicht über «Etwas» verfasste Philippe Girard auf Französisch (Quelque chose), der damit auch die neulateinische Literatur anregte; der erste entsprechende Text des Autors P. G. P. Molinensis aus dem Jahr 1597 war in Teilen sogar noch eine wörtliche Übersetzung Girards. Dem «Alles» widmete sich 1605 in Altdorf bei Nürnberg der Jurastudent Johann von Blansdorf, der ein strena mit dem Titel Omnia an seinen Lehrer Konrad von Rittershausen adressierte und damit einen bewussten Gegenentwurf zu Passerats De nihilo bot; auch Omnia löste eine Flut weiterer poetischer Publikationen aus. Cornelius Götz hielt 1608 an der Universität Marburg eine Disputatio de nihilo ab, in der er sich intensiv auf Passerats Text bezog; weitere Disputation über Nihil (und auch über Aliquid) sind im 17. Jahrhundert an deutschen Universitäten nachweisbar und erschienen auch in Druckform. Texte über das Nihil boten ihren Autoren die Möglichkeit zu zweideutigen und einer blasphemischen Auslegung zugänglichen Aussagen (etwa nach dem Muster «Wer Gott fürchtet, fürchtet NICHTS»). Diese Sorte libertinistisch eingefärbter Texte war besonders in Italien verbreitet. Dergleichen liegt Guillimann mit seinem Aliquid-Gedicht freilich völlig fern. Zwar arbeitet er in seinem Gedicht mit der Vieldeutigkeit, die der Begriff Aliquid in verschiedenen Kontexten haben kann, doch dabei fehlt eine ironische Absicht. Guillimanns Aliquid ist, ganz gleich was jeweils damit gemeint ist, niemals ein eigentlich minderwertiger Gegenstand im Sinne der paradoxen Enkomienliteratur im engeren Sinne, sondern er besitzt immer Wertigkeit, bedeutet «etwas» mehr oder weniger Ernsthaftes und Wichtiges. Den Höhepunkt erreicht dies in V. 103-124, wo Guillimann sich eindeutig zum christlichen Gott als einem Aliquid bekennt, das älter ist als die Welt, das diese Welt erst geschaffen hat (man merkt dabei Anklänge an den Genesisbericht), das mächtiger ist als alle Könige und nach dem die Weisen der Antike einst gesucht hatten. In V. 50 handelt es sich etwa klar erkennbar um die Seele, die den Tod des Körpers überdauert, in V. 127 und 129 um Guillimanns schriftstellerische Tätigkeit. Auch das Nihil, das Guillimann in diesem Gedicht bei verschiedenen Gelegenheiten benennt, tritt in verschiedenen Bedeutungskontexten auf, teilweise eher neutral, teilweise auch explizit als negatives Gegenstück zum Aliquid (etwa in V. 78, wo es darum geht, dass die Helden der Antike «Etwas», also Leistung, erstrebten, und nicht «Nichts»). Von einer «Vermischung von Raillerie und Metaphysik» zu sprechen (wie Mulsow dies mit Blick auf Passerats De nihilo getan hat), wäre in Guillimanns Fall übertrieben; in seinem Gedicht ist Humor weitgehend abwesend, und wo er doch auftritt, bleibt er verhalten. Und von Paradoxie kann nirgends in seinem Text die Rede sein, was schlicht daran liegt, dass das «Etwas» sich weit weniger eignet, paradoxe oder groteske Wirkungen zu generieren als das «Nichts». Um ein Neujahrsgedicht (strena), wie es bei paradoxen Enkomien nicht selten war (man denke an Passerat), handelt es sich in Guillimanns Fall nicht; doch wie eine strena ist es als Geschenk an einen (tatsächlichen bzw. potentiellen) Mäzen adressiert.

 

Bibliographie (inklusive Literaturhinweise zur Gattung des paradoxen Enkomiums)

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