Alpen

Autor(en): Kevin Bovier (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 14.07.2023.

  1. Allgemeines
  2. Der Beginn des Interesses an den Alpen
  3. Von den Legenden zur Naturwissenschaft: das Beispiel des Pilatus
  4. Die Ästhetik des Gebirges und das Interesse an der Natur
  5. Die Kartographie und die Chorographie
  6. Die erste Gesamtstudie über die Alpen

 

1. Allgemeines

Seit dem 16. Jahrhundert erregte das Gebirge bei der gebildeten Elite ein Interesse ohnegleichen. Seine Vertikalität und seine (sichtbaren oder verborgenen) Ressourcen schienen eine gewissermassen magnetische Wirkung auf die Männer der Wissenschaft, die Reisenden und die Dichter auszuüben, die manchmal bis in sein Herz reisten, um es zu durchqueren, es zu erforschen und es auf sich wirken zu lassen.

Wie neuere Forschungen gezeigt haben, entstand der Enthusiasmus für das Gebirge nicht erst im 18. Jahrhundert, als er zu einer veritablen Modererscheinung wurde, sondern resultierte aus einem kulturgeschichtlichen Prozess, der mehrere Jahrhunderte in Anspruch nahm. In der Antike wurde das Gebirge als ein schreckenerregender Ort angesehen; man kann das an den Passagen in Livius (21,29,7-21,38,9; 21,58,3) und Silius Italicus (3,466-556; 3,630-646) erkennen, in denen der karthagische Feldherr Hannibal die Alpen überquert. Diese Haltung veränderte sich in der Folge kaum. Man sah im Gebirge wenig Schönheit und fand kein Gefallen daran, dort seine Zeit zu verbringen; im Übrigen begab sich niemand dorthin, wenn er nicht dazu gezwungen war. Auch wenn man die Besteigung des Mont Ventoux durch Petrarca (1304-1374) lange für die Geburtsstunde des Alpinismus gehalten hat, so ist seine Haltung gegenüber dem Gebirge keineswegs rein positiv, sondern immer noch charakteristisch für das Mittelalter.

In der Schweiz des 16. Jahrhunderts tritt parallel zum traditionellen Misstrauen gegenüber dem Gebirge eine positivere Sichtweise auf, die vielleicht in der Bibel wurzelt. Dort spielen Berge wie der Sinai eine wichtige Rolle, so dass man durch Weiterspinnen dieses Gedankens zu dem Eiundruck gelangen kann, dass alle Berge sich potentiell des göttlichen Wohlwollens erfreuen. Sowohl bei den Katholiken als auch bei den Protestanten erlaubte der Anblick des Gebirges es Autoren, von dem zu sprechen, der sie erschaffen hatte. Seit Beginn der 1530er, vor allem aber in den Jahren zwischen 1540-1550 und bis in die 1570er hinein, preisen zahlreiche schweizerische Humanisten die Schönheiten des Gebirges und seiner Flora. Abseits von ästhetischen und theologischen Überlegungen zur Präsenz Gottes in der Natur, findet man bei den Humanisten auch eine territorial und politisch motivierte Wertschätzung des Gebirges die militärischen Erfolge der Schweiz, eines tapferen und freiheitsliebenden Gebirgsvolks, werden durch ihren Kampfgeist und die Härte der sie umgebenden Landschaft erklärt.

Man muss dieses Bild jedoch nuancieren und präzisieren, dass die Erfahrung des Gebirges allgemein wenig angenehm blieb, besonders für die Reisenden, die die Alpen überqueren mussten. Wenn man sich auf eine Pilger- oder Studienreise, eine diplomatische Mission oder einen Feldzug aufmachte, wurde das Gebirge häufig als ein Hindernis betrachtet. Die gebildeten Reisenden illustrieren ihre unangenehme Erfahrung manchmal, indem sie sich auf die oben erwähnten Passagen aus antiken Autoren beziehen. Im Gegensatz dazu gewinnen freiwillig unternommene kürzere und lokal beschränkte Exkursionen an Beliebtheit. Deshalb sind es vor allem die stadtnah gelegenen Berge, die Spaziergänger anzogen, wie zum Beispiel der Stockhorn und der Niesen bei Bern, der Pilatus bei Luzern und der Uetliberg bei Zürich. Diejenigen, die sich ins Gebirge begaben, taten dies häufig in Gruppen aus gebildeten, trainierten und gut ausgerüsteten Leuten, die ihre Wanderungen in enthusiastischer ja geradezu festlicher Stimmung unternahmen.

 

2. Der Beginn des Interesses an den Alpen

Wenn auch Albrecht von Bonstetten (ca. 1442/1443-1504) der erste ist, der den Alpen in seiner Beschreibung der Schweiz (1479) eine wichtige Rolle zuweist, so ist es doch das Werk des Heinrich Glarean, das den Beginn des Interesses der schweizerischen Humanisten für dieses Gebirgsmassiv darstellt. Auch wenn er nicht speziell über das Gebirge geschrieben hat, so spricht Glarean in seinen Werken doch mehrfach davon. Er ist vor allem in seiner Helvetiae Descriptio der erste, der die Alpen mit dem Territorium der Eidgenossenschaft identifiziert und die Schweizer als ein tapferes Alpenvolk bezeichnet; er bekräftigt, dass die Alpen, ein irdisches Paradies und eine Wasserreserve, für Europa von vitaler Bedeutung sind, und dass die Freiheitsliebe und der Kampfgeist der Schweizer von ihrer Nachbarschaft zum Gebirge her kommen. Ausserdem spricht Glarean voller Enthusiasmus vom Gebirge in dem Gedicht, in dem er die Reise schildert, die 1511 in seine Heimat unternahm: Nach seiner Ankunft in Glarus kann er sich nicht davon abhalten, ins Gebirge zu steigen und wie ein Hirte (in seinen Worten: wie ein Tityrus), die Landschaft und die Quellen zu bewundern (Quellen, die noch reichlicher sprudeln als die des Helikon) und Milch zu trinken. In seinem Epos über die Schlacht von Näfels zum Ruhme der im Gebirge lebenden rauen Eidgenossen, gefällt er sich in den ersten Versen darin, die hochgelegene Landschaft der Glarner Alpen zu beschreiben, die der Schauplatz des Konflikts sein wird und die mit dem Pindus, dem Kaukasus und dem Olymp wetteifert! Die Idee eines Alpenlandes, die bei Glarean aufkeimt, sollte bis heute ein wesentliches Element der schweizerischen Identitätsbildung sein.

 

3. Von den Legenden zur Naturwissenschaft: das Beispiel des Pilatus

Die Identifikation der Alpen mit der Schweiz war aufgrund des oben erwähnten schlechten Rufes der Gebirgswelt kein Selbstläufer. Im Mittelalter galten manche Orte sogar als Heimstätten für Dämonen. Das war seit dem 14. Jahrhundert der Fall für den Berg Pilatus, genauer gesagt für seinen See, wo, wie man glaubte, die sterblichen Überreste des römischen Statthalters Pontius Pilatus lagen. Also ging sein Geist an diesem Ort um, und wer seine Ruhe störte, der riskierte, einen Sturm zu entfachen, der in das Tal von Luzern hinabfegte. Das hielt den Zürcher Mönch Niklaus Bruder (†1417) und fünf andere Kleriker nicht davon ab, dieses fromme Verbot zu ignorieren und den Pilatus schon im Jahr 1387 zu besteigen. Der Chorherr Felix Hemmerli unternahm das Gleiche im Jahr 1422. Eine ganze Zeit später, im Jahr 1518, begab sich eine Gruppe schweizerischer Humanisten unter Führung des St. Gallers Joachim Vadian gleichfalls auf den Pilatus. Vadian berichtet von dieser Exkursion in seinem Kommentar zu Pomponius Mela. In seinem Bericht stellt Vadian den göttlichen Charakter des Ortes nicht in Frage, doch er offenbart eine gewisse Skepsis angesichts des mit ihm verknüpften Aberglaubens. Die Ortsbeschreibung im eigentlichen Sinne nimmt in seinem Bericht nur einen geringen Raum ein, doch sie scheint den Prinzipien zu entsprechen, die ihr Autor in seiner Vorrede mit dem Titel Rudimentaria in Gaeographiam catechesis verkündet hatte. Vadian unterscheidet darin die Begriffe gaeographia, cosmographia, topographia, topothesia und chorographia, die seiner Ansicht nach von den Autoren zu oft verwechselt werden. Der Geographie, die eine Gesamtschau impliziert, stellt er die Chorographie gegenüber, die er als «die Orte für sich genommen nach Art eines Gemäldes beschreibt, so als ob sie von den übrigen getrennt wären». Dieses Interesse für ein einzelnes Landschaftselement entspricht seinem Vorgehen bei der Beschreibung des Pilatus.

Etwa 30 Jahre später beteiligt sich Conrad Gessner an einer Exkursion auf den Pilatus und lässt die Passage aus Vadian im Anhang seiner Descriptio Montis Fracti abdrucken. Er schenkt den sich um diesen Ort rankenden Legenden kaum Glauben, nennt «sie Aberglauben und falsche Meinungen» (superstitiones ac falsas persuasiones). Gessner folgt der «chorographischen» Methode, die er von Vadian entlehnt, doch er räumt der ästhetischen Betrachtung des Ortes und seinem naturwissenschaftlichen Interesse einen höheren Stellenwert ein. Dies erklärt sich vielleicht aus der Tatsache heraus, dass ihre jeweiligen Schriften einen unterschiedlichen Charakter haben: Vadian verfasst einen Kommentar über einen antiken Autor, so dass die Passage über den Pilatus eine vom antiken Text ausgehende Abschweifung ist; Gessner seinerseits verfasst eine veritable Abhandlung über den Berg (Descriptiochorographica), was vielleicht erklärt, weshalb er mehr auf den naturwissenschaftlichen Aspekten beharrt. Beide interessieren sich für die Naturwissenschaften, doch in den 30 Jahren, die zwischen ihren jeweiligen Veröffentlichungen liegen, haben die Kenntnisse über das alpine Milieu sich durch das Erscheinen mehrerer bedeutender Werke erweitert; zu ihnen gehört auch Gessners eigenes Werk. Nach Vadian und Gessner sollten noch andere Neugierige den Pilatus hinaufklettern, wie Felix Platter im Jahr 1580 und Johannes Müller im Jahr 1585.

 

4. Die Ästhetik des Gebirges und das Interesse an der Natur

Chronologisch zwischen dem Kommentar des Vadian und der Descriptio Gessners liegt die Stockhornias des Johannes Rhellicanus (Johannes Müller aus Rellikon im Kanton Zürich), die zum ersten Mal 1537 erschien; auch sie wurde von Gessner in seinem Werk von 1555 aufs Neue veröffentlicht. Es handelt sich dabei um ein Gedicht von 130 Hexametern Umfang, das über die Besteigung des Stockhorns berichtet, eines Berner Alpengipfels, den Rhellicanus im Jahr 1536 erklommen hatte, um dort zu botanisieren. Eines der auffallendsten Merkmale des Gedichts ist die Beschreibung des sich vom Gipfel bietenden Ausblicks, der nach Art eines Gemäldes präsentiert wird. Diese Aufmerksamkeit für das ästhetische Gewicht der Landschaft sollte sich zu einem besonderen Merkmal in der humanistischen Haltung gegenüber dem Gebirge entwickeln. Sie ist zum Beispiel auch in dem Widmungsbrief zu Gessners Abhandlung über die Milch und die Milchprodukte zu erkennen (Libellus de lacte), die 1541 erschien. Gessner teilt darin Jakob Vogel seine Begeisterung für die Schönheiten des Gebirges mit – im Übrigen nennt man diesen Text allgemein «Brief über die Bewunderung des Gebirges» (Epistola de admiratione montium); er erklärt darin vor allem, dass man darin den grossen Architekten, Gott, in seiner Schöpfung erkennt, und nimmt so die Gegenposition zur antiken Betrachtung des Gebirges als locus inamoenus ein. Auf vergleichbare Weise sieht ein wenig später Thomas Schöpf ein göttliches Zeichen in der Tatsache darin, dass Menschen an so ungastlichen Orten wie den Gebirgskämmen leben können. Um auf Gessner zurückzukommen, so unterstreicht Barton, dass der Zürcher Naturwissenschaftler das Gebirge in seiner Gänze als ein Objekt für ästhetische Betrachtungen ansieht; bei ihm geht es nicht nur darum, vom Gebirge aus Ausschau zu halten, sondern auch davon, das Gebirge selbst und alles, was sich darin befindet, zu betrachten. In seiner Abhandlung über den Pilatus erklärt Gessner, dass die fünf Sinne des Menschen dort voll auf ihre Kosten kommen, und er illustriert das durch Beispiele. Diese Passage bringt eine neue emotionale Reaktion gegen über dem Gebirge zum Ausdruck, die sich in dieser Epoche entwickelt; die Exkursionen ins Gebirge werden wie eine integrale Erfahrung empfunden.

Diese göttliche Stätte birgt im Übrigen botanische und zoologische Kuriositäten, die Humanisten wie Gessner anlocken. Die philologischen Arbeiten über naturwissenschaftliche Werke der Antike (wie zum Beispiel die Naturgeschichte des Plinius d. Ä.) bewiesen, dass den antiken Schriftstellern zahlreiche Pflanzen unbekannt waren. Die Botaniker organisieren damals Exkursionen ins Gebirge, wo die Flora besonders reich und vielfältig war, um dort Pflanzen zu sammeln. Das Studium der alpinen Fauna blieb dahinter nicht zurück, wie man in den zoologischen Schriften von Gessner und Johannes Fabricius Montanus erkennen kann. Die Erkundung des Terrains vermehrt die aus Büchern gewonnenen Kenntnisse derart in erheblichem Masse. Die Verbindung zwischen den Alpen und der Botanik ist wichtig, um die geänderte Haltung gegenüber dem Gebirge in jener Epoche zu verstehen. Die naturwissenschaftlichen Schriftsteller, die sich vor Ort begeben, entwickeln ein ästhetisches Empfinden für diese Gegend.

Es sind auch botanische Motive, die Fabricius Montanus dazu bringen, 1559 den Calanda in Graubünden zu besteigen. Nach dieser Exkursion schreibt er an Conrad Gessner einen Brief, in dem er die Pflanzen aufzählt, die auf diesem Berg wachsen. Dieses Schreiben wurde 1561 im Anhang einer Beschreibung des Stockhorns und des Niesens von Aretius veröffentlicht; von ihr war schon weiter oben die Rede. Ein wenig später rühmt Montanus in seinem Werk De providentia (1563) das Wandern im Gebirge. Die Auszüge aus einem in dieser Abhandlung enthaltenen Hexameron belegen auch die Bewunderung des Dichters für die alpine Flora und Fauna. Seine Exkursionen boten ihm Gelegenheit, Blumen und Samen für Gessner zu sammeln, mit dem er eine bedeutende botanische Korrespondenz unterhielt. Schliesslich nimmt Montanus in seine Poemata (1556) ein Gedicht aus der Feder eines seiner Schüler, Theodor Collinus/Ambühl, auf, in dem er eine gelehrte Exkursion unter Führung des Montanus auf den Uetliberg beschreibt, eine Anhöhe über der Stadt Zürich; der junge, sechzehn Jahre alte, Theodor teilt darin mit, wie sehr er die Schönheiten der Natur bewundert.

 

5. Die Kartographie und die Chorographie

Mit der voranschreitenden Erkundung des Gebirges, entwickelt sich auch das bereits erwähnte naturwissenschaftliche Interesse für Pflanzen und Tiere und führt zur Entstehung von Disziplinen wie der Geographie und der Kartographie. Der Berg dient in diesem Fall als Orientierungshilfe auf der Landkarte und als Aussichtspunkt, von dem aus sich die Gegend betrachten lässt. Die antiken Schriftsteller betrachteten das Gebirge schon als eine natürliche Barriere bzw. Grenze, doch sie taten dies im Sinne einer Unterscheidung zwischen zivilisierten Stätten und der wilden Natur. Im 16. Jahrhundert entwickelt sich das Interesse an diesen Regionen, die zwar weniger gut bekannt sind als der Rest des Territoriums, doch es aufgrund ihrer Höhe gestatten, ein grosses Stück ihres Umlandes mit nur einem Blick zu erfassen.

Die Verbindung zwischen der Beobachtung und der Beschreibung einer Region wird deutlich bei Benedikt Marti, der sich Aretius nannte (1522-1574). 1561 veröffentlicht er seine Prosabeschreibung einer botanischen Exkursion auf das Stockhorn und den Niesen. Er unternahm diese Bergbesteigungen 1558, erzählte Gessner von den Pflanzen, die er gesehen hatte, und veröffentlicht seinen Text in Zürich. Aretius bringt seine Begeisterung für das Gebirge zum Ausdruck und beschreibt es mit einer grossen naturwissenschaftlichen Präzision und dem Willen, den Wert des Berner Oberlandes hervorzuheben. Die Betrachtung einer Landschaft ist für ihn sowohl wichtig, um dadurch alle Details zu erkennen, als auch, um ihren Charme zu würdigen; eine Sichtweise, die auch Gessner vertrat.

Wie Korenjak hervorhebt, war die Eidgenossenschaft wahrscheinlich das am besten kartographierte Land von solcher Grösse in jener Epoche; besonders galt dies für den Kanton Bern. Eine um Thomas Schöpf (1520-1577) versammelte Gruppe erstellte zum Beispiel Mitte der 1570er Jahre eine Karte der Berner Region und gab ihr eine geographische Beschreibung bei. Auf dieser Karte sind zum ersten Mal die höchsten Gipfel des Oberlandes eingetragen (Eiger, Schreckhorn, Jungfrau). Bern ist damals auf Expansionskurs, und diese Art von gelehrter Arbeit steht in einem sehr engen Zusammenhang mit den politischen Zielen der Berner Elite, an die sich das Schöpfs Werk in ganz besonderer Weise richtet.

Die Inspiration zu diesen Arbeiten lieferte vielleicht Aegidius Tschudi, der in seine 1538 in Basel erschienene Alpisch Rhetia eine Karte der Schweiz eingefügt hatte; Glarean erwähnt sie in einem Brief an Tschudi, den wir auf diesem Portal präsentieren. Für Graubünden lässt sich noch die Raetiae alpestris topographica descriptio (1573) des Durich Chiampell anführen, die allerdings bis zum 19. Jahrhundert unveröffentlicht blieb.

 

6. Die erste Gesamtstudie über die Alpen

Zum Abschluss erwähnen wir ganz am Ende der hier betrachteten Epoche den Zürcher Josias Simler, der 1574 eine geographische und kulturelle Beschreibung des Wallis veröffentlichte, die von einer Studie zu den Alpen begleitet wurde. Dieser letztgenannte Text ist grundlegend für Geschichte der Alpenregion; er spricht alle (geographischen, ethnographischen, ökonomischen oder botanischen) Aspekte an, die einem solchen Territorium eigentümlich sind. Wie sein Landsmann Gessner, so wendet Simler eine Methode an, in der sich die Bezugnahme auf antike Quellen und zeitgenössische Berichte miteinander vermischen; seine persönliche Gebirgserfahrung war allerdings wesentlich beschränkter als die Gessners, denn er litt an der Gicht und konnte sich also nicht vor Ort begeben. Dessen ungeachtet, sind seine Überlegungen zur Alpenregion scharfsinnig. Er stellt zum Beispiel fest, dass Personen, die wenig an das Gebirge gewöhnt sind, dazu neigen, seine Höhe und sein Gefälle zu unterschätzen. Er enthüllt zudem in seinem Vorwort, wie sehr das unebene Erscheinungsbild der Alpen die Fremden in Erstaunen versetzt, während die Einheimischen es gar nicht mehr bemerken. Schliesslich betont er den Wert der von den Gebirgsbewohnern erworbenen Ortskenntnis, die es ihnen möglich macht, die Reisenden vor den Gefahren des Gebirges zu warnen.

Im demselben Werk folgt auf Simlers Texte die Abhandlung des Oberwalliser Arztes Kaspar Ambühl (latinisiert: Collinus; 1520-1560/1). In diesem Text vom Ende der 1550er Jahre geht Collinus auf einen mit der Alpenwelt verbundenen Aspekt ein, den die schweizerischen Humanisten bis dahin nur wenig berücksichtigt hatten: die Thermalquellen. Indem er Wunderbericht, Geschichtsschreibung und wissenschaftliche Beobachtungen miteinander vermengt, beschreibt er nicht nur die wilde Natur dieser Orte und die mit ihnen verknüpften Legenden, sondern auch die (tatsächlichen oder bloss vermuteten) Heilwirkungen der Thermalbäder. Auch wenn sein Traktat im Vergleich zu den Beiträgen Gessners oder Simlers nur einen bescheidenen Umfang aufweist, so setzt seine Herangehensweise an diesen Gegenstand Kenntnisse auf mehreren Fachgebieten voraus; doch diese polymathia («ein vielseitiges Wissen») scheint uns ein wesentliches Charakteristikum dafür zu sein, wie die Humanisten in der Schweiz des 16. Jahrhunderts an das Gebirge herangingen.

 

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