Das Epos vom Heldenkampf bei Näfels

Heinrich Glarean

Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt). Version: 10.02.2023.


Entstehungszeitraum: ab 1510 (belegt durch Brief an Zwingli vom 13. Juli 1510).

Kopie: Bayerische Staatsbibliothek, Clm 28325, fol. 39ro-52ro.

Ausgabe: H. Keller/K. Müller (Hgg.), Glarean: Das Epos vom Heldenkampf bei Näfels und andere bisher ungedruckte Gedichte [Jahrbuch des Historischen Vereins des Kantons Glarus 53 (1949)], hier: 58-119 (mit dt. Übs. von J. Müller).

Metrum: Hexameter.

 

In diesem hier nur auszugsweise wiedergegebenen, eigentlich 910 Verse umfassenden Kleinepos behandelt Glarean ein für die schweizerische – und insbesondere die glarnerische – Geschichte wichtiges historisches Ereignis. Am Donnerstag, 9. April 1388, siegten die Eidgenossen bei Näfels über das Heer der Habsburger; es war die letzte Schlacht in dem Konflikt zwischen diesen beiden Parteien. Der erste Donnerstag im April ist zu Ehren dieses Ereignisses im Kanton Glarus noch heute ein Feiertag. Als literarische Rezeptionsdokumente in deutscher Sprache sind zu erwähnen der vermutlich im Mitte des 15. Jahrhunderts entstandene Fahrtsbrief, ein Schlachtbericht, der auch heute noch während der Näfelserfahrt verlesen wird; ferner drei Lieder aus dem 15.-17 Jahrhundert; Aegidius Tschudi hat sich der Schlacht in seinem Chronicon Helveticum angenommen.

Glareans hier vorzustellendes lateinisches Epos ist einer von zahlreichen Belegen, wie dieses Ereignis im 16. Jahrhundert als identitätsbildend im Rahmen eines sich festigenden eidgenössischen Nationalbewusstseins verstanden wurde.

Ein Brief Glareans aus Köln an Ulrich Zwingli vom 13. Juli 1510 belegt, dass er damals mit der Arbeit an dem Kleinepos begonnen hatte. Myconius erwähnt 1519 die Existenz des Gedichts in seinem Kommentar zum Panegyricus und kündigt eine baldige Publikation an. Diese fand nicht statt. Glarean bemerkte in seinen Zusätzen zum Myconius-Kommentar in der Basler Ausgabe von 1554, er habe «aus gewissen Gründen» auf eine Veröffentlichung dieses von ihm explizit als Jugendwerks gekennzeichneten Gedichts verzichtet. Man wird den Hauptgrund dafür wohl in dem noch durchaus unvollendeten Zustand des Gedichts sehen können. Auch die gerechte ästhetische Kritik des Gedichts wird nicht davon absehen können, dass Glarean sein kleines Epos weder abgeschlossen noch in der vorliegenden Form für eine Publikation vorgesehen hat. Immerhin ist etwa die poetische Qualität der Landschaftsbeschreibungen in der Forschung gelobt worden.

Auch wenn hier nicht das gesamte Epos behandelt werden kann, soll eine Grobgliederung einen gewissen Überblick über Inhalt und Struktur des Gedichts vermitteln:

1-8: Proömium; Anruf der heiligen Landespatrone Fridolin und Hilarius
9-37: Landschaftsbeschreibung des Glarnerlandes
38-114: Die heidnischen Götter stacheln Österreich zum Krieg auf
115-138: Beschreibung der Stadt Weesen, einer Feindin der Glarner
139-304: Eroberung von Weesen durch die Eidgenossen
305-437: Die Feinde nehmen Weesen mit Hilfe der Einwohner ein (=Weesener Mordnacht)
438-460: Frühlingsbeschreibung und Sammlung der Feinde
461-510: Nächtliches Fest des österreichischen Heeres
511-546: Die Feinde ziehen in den Kampf
547-573: Erste Reaktionen der Glarner (z.B. Sammlung der Krieger; Angst der Frauen)
574-641: Rede des Glarner Landammanns
642-684: Durchbruch der Feinde durch die Letzi
685-790: Eingriff der Patrone Fridolin und Hilarius und Sieg der Glarner am Bach Rauti
791-821: Flucht des österreichischen Heeres
822-841: Heimkehr der siegreichen Glarner
842-882: Die Weesener verbrennen vorsichtshalber ihre Stadt selbst
883-910: Siegesfeier der Glarner

 

Bemerkungen zu den ausgewählten Passagen

Die hier ausgewählten und übersetzten Partien sollen einen repräsentativen Eindruck von der Gedankenwelt des Gedichts geben.

Dabei wurde auf drei Aspekte des Gedichts grosser Wert gelegt:

  1. Zum einen auf Glareans Umgang mit dem traditionelle Götterapparat des antiken Epos (Text 2,3,6 und 7). Gibt es dort – etwa in der in an manchen Stellen im Näfelsgedicht als Muster durchschimmernden Aeneis Vergils – unter den olympischen Göttern Fraktionen, die dieser oder jener irdischen Kampfpartei ihre Unterstützung leihen, so wird dieses Muster von Glarean aufgegriffen, aber zugleich in bemerkenswerter Weise um eine christliche Komponente ergänzt. Hinter dem historischen Geschehen bei Näfels steht in seinem Gedicht der Antagonismus zwischen den entmachteten alten heidnischen Göttern und dem christlichen Gott und seinen Heiligen.
  2. Zum anderen darauf, wie Glarean bemüht ist, in diesem Gedicht Parallelen zwischen den von ihm geschilderten Ereignissen aus dem mittelalterlichen Glarus und berühmten Ereignissen der griechisch-römischen Antike herzustellen (Texte 4 und 5) und ihnen dadurch eine besondere Dignität zu verleihen. Diese Passagen machen zudem deutlich, dass Glarean schon in seiner Kölner Zeit eine solide Kenntnis des klassischen Altertums und der römischen Literatur besass.
  3. In mehreren der ausgewählten Texte wird zudem der dezidiert christliche Charakter des Glareanschen Epos und der ihm zugrundeliegenden Geschichtsbetrachtung deutlich (Texte 1,2,3,6,7 und 8).

Im Folgenden ein kurzer Überblick über die ausgewählten Passagen:

  1. Titel und Proömium (1-8).

Wenn Glarean in der Überschrift von Helvetia spricht, so ist dies zum Entstehungszeitpunkt des Gedichts noch ein bemerkenswerter Neologismus. Im Proömium ersetzt Glarean den traditionellen Musenanruf demonstrativ – da sich die Musen ihm unfreundlich gezeigt hätten – durch eine Anrufung der Glarner Patrone Fridolin und Hilarius. Der dezidiert christliche Charakter des Epos wird somit von Anfang an deutlich herausgestellt, was zwanglos mit einer klassisch-antiken Stilisierung einhergeht (die Patrone werden als «heilige Penaten» bezeichnet).

  1. Dialog zwischen Mars und Alecto (Ausschnitt; 38-68), und
  2. Alecto hetzt die Feinde gegen die Helvetier auf (102-114).

Die Versammlung der alten Götter und der Dialog zwischen Mars und Alecto liefert die gleichsam theologische Begründung für das historische Kriegsgeschehen. Es resultiert aus dem Unmut der alten heidnischen Gottheiten über ihren Machtverlust in der christlichen Ära. Die Kriegsfurie Alecto ist den Lesern der Aeneis des römischen Dichters Vergil wohl bekannt. Dort treibt sie den Rutulerkönig Turnus zum Kampf gegen den Helden des Epos, den Trojaner Aeneas, den Stammvater des römischen Volkes (7,407-474). Glarean ist dieser Aeneis-Bezug so wichtig, dass er ihn durch die eigenen Worte der Alecto explizit macht (64-65). Damit ist zugleich implizit eine Rollenzuweisung innerhalb seines Epos verbunden: Die Glarner entsprechen den Trojanern in der Aeneis.

  1. Versammlung der Glarner (547-563).

In diesen Versen ist bemerkenswert der Vergleich der militärischen Bedrohung durch die habsburgischen Truppen mit militärischen Unternehmungen der Antike, die sich gegen die Griechen oder die Römer richteten und letztlich scheiterten (550-552: die Perser Xerxes und Dareios; der Punier Hannibal). Damit ist wieder eine implizite Rollenzuweisung innerhalb des Epos verbunden: Die Glarner entsprechen den siegreichen Griechen und Römern, ihre Feinde den Persern beziehungsweise den Karthagern. Zugleich versucht der Erzähler, die entsprechenden Kriegsereignisse der Antike zu überbieten, indem er die Bedrohung, der die Glarner ausgesetzt waren, als grösser darstellt. Es mag bedenkenswert sein, ob bei diesem Überbietungsstreben die Grenze zu unfreiwilliger Komik nicht zumindest gestreift wird.

  1. Aus der Rede des Landammans und Reaktion seiner Zuhörer (611-641).

Der Landammann führt seinen Zuhörern das Vorbild ihrer helvetischen Vorfahren zur Zeit Caesars vor Augen. Wieder wird so das historische Geschehen von 1388 rückgebunden an ein als klassischer Massstab empfundenes Altertum. Zugleich wird hier ein für die sich heranbildende nationale Identität der Eidgenossenschaft wichtiger Gedanke deutlich: Das Schweizervolk besitzt eine historische Kontinuität von der Antike bis zur Gegenwart des Sprechers (und in einem weiteren Gedankenschritt: auch bis in die Gegenwart des Dichters und seiner Leserschaft hinein). Diese gedankliche Verbindung zwischen den antiken Helvetiern und den Eidgenossen ist zum Entstehungszeitpunkt des Gedichts noch recht innovativ.

  1. Hilfe durch die Landespatrone (Ausschnitt; 685-723).

Die ausgewählte Passage lässt gut erkennen, wie Glarean den Götterapparat des traditionellen antiken Epos (das Vorbild Vergils scheint deutlich durch) innovativ aufgreift und um eine christliche Komponente erweitert.

  1. Entscheidung an der Rauti (Ausschnitt: 757-779).

Die Passage wurde stellvertretend ausgewählt für die Kampfschilderungen, die in dem Epos, seinem Gegenstand entsprechend, keine geringe Rolle einnehmen. Zugleich wird durch die Intervention des Landespatrons Fridolin hier das theologische Konzept des Gedichts deutlich: Höhere Mächte gewähren den Glarnern den Sieg, weil sie ihn nach ihrem Dafürhalten verdienen.

  1. Siegesfeier (883-910).

Die Ansprache des Landammanns fasst die Botschaft des Epos noch einmal prägnant zusammen: Gott begünstigt Glarus. Die Landesheiligen haben zum Lohn für die ihnen gezollte Verehrung den Glarnern den Sieg geschenkt. Der Schlussvers des Gedichts formuliert imperativisch gleichsam die Voraussetzung, unter der die Glarner auch zukünftig auf solche Hilfe der himmlischen Mächte rechnen dürfen. Dieser Appell gilt zweifellos auch für die Gegenwart des Dichters.

 

Bibliographie

Feller-Vest, V., «Glarean als Dichter und Historiker», in: Ortsmuseum Mollis (Hg.), Der Humanist Heinrich Loriti, genannt Glarean 1488-1563. Beiträge zu seinem Leben und Werk, Glarus, Baeschlin, 1983, 93-117.

Maissen, T., «Weshalb die Eidgenossen Helvetier wurden. Die humanistische Definition einer natio», in: J. Helmrath u. a. (Hgg.), Diffusion des Humanismus, Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, Göttingen, Wallstein, 2002, 210-249.

Maissen, T., Territorialisierung und Ethnisierung der Eidgenossenschaft in der Historiographie des 15. und 16. Jahrhunderts, in: U. Friedrich/L. Grenzmann/F. Rexroth (Hgg.), Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung am Übergang zur Neuzeit, Bd. 2, Soziale Gruppen und Identitätspraktiken, Berlin/Boston 2018, de Gruyter, 255-279.

Müller, E. F. J., «Einleitung», in: H. Keller/K. Müller (Hgg.), Glarean: Das Epos vom Heldenkampf bei Näfels und andere bisher ungedruckte Gedichte [Jahrbuch des Historischen Vereins des Kantons Glarus 53 (1949)], 7-56.

Tremp, E., «Näfels, Schlacht bei», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 25.11.2016, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008873/2016-11-25/.