Der Niesen und das Stockhorn
Benedikt Aretius
Einführung: Kevin Bovier (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 20.02.2024.
Entstehungsdatum: In seiner Vorrede (fol. 232ro) gibt Conrad Gessner an, dass Aretius seinen Text nach der Rückkehr von der Exkursion einem Bediensteten diktiert hat; das wäre also im Sommer 1557 geschehen.
Ausgaben: Valerius Cordus Simesusius, Annotationes in Pedacii Dioscoridis Anazarbei de medica materia libros V, Strassburg, J. Rihel, 1561, fol. 233vo-234ro; W. A. B. Coolidge, Josias Simler et les origines de l’alpinisme jusqu’en 1600, Grenoble, Impr. Allier, 1904, 238*-243* (mit französischer Übersetzung); Niesen und Stockhorn. Berg-Besteigungen im 16. Jahrhundert: zwei Lateintexte von Berner Humanisten, hg. von M. A. Bratschi, Thun, Ott, 1992, 50-55 (mit deutscher Übersetzung).
Benedikt Marti, der seinen Namen in Aretius hellenisierte (nach dem Kriegsgott Ares, lateinisch Mars), wurde 1522 geboren. Als illegitimer Sohn eines Priesters aus Bätterkinden (Kanton Bern) studierte er in Bern bis 1545 Theologie. Anschliessend hielt er sich in Strassburg auf, hierauf in Marburg, wo er 1548 Logik und Dialektik unterrichtete. Nach seiner Rückkehr nach Bern unterrichtete er ab 1553 Griechisch und Latein und ab 1563 Theologie. Seine Interessen waren vielfältig. Er war Philologe, Astronom, Kommentator antiker Texte (besonders des Pindar), Bibelexeget, Mathematiker, und er interessierte sich auch für Geologie und Medizin. Wie sein Freund Conrad Gessner beschäftigte sich Aretius ausserdem leidenschaftlich gerne mit der Botanik; Gessner hatte ihm kurz vor seinem Tod vorgeschlagen, eine Pflanzenart nach ihm zu benennen:
Antiqua nomina nolim irrita fieri: sed plantis illis, quarum apud veteres, quod sciamus, nulla est mentio, neque nominum neque facultatum, amicorum eruditorum et per quos proficio in hoc opere, nomina imponi velim, ceu inventorum: non refert autem an ipse invenerit aliquis, an prodiderit primus, et mihi communicarit. Multi iam amici mei hoc fecerunt in meam gratiam. Si alia nulla placuerit, vide an Gentianae speciem, das Schelmenkrut, aliis grosse bitterwurtz, aliis Spieß blatt tuo nomine dignari velis: a te enim primum Germanicum nomen eius, et usum contra pestem in pecore et bobus intellexi.
Ich möchte nicht, dass die alten Namen verschwinden: Aber ich möchte jene Pflanzen, die bei den Alten, soweit wir wissen, nicht erwähnt werden (weder namentlich noch ihren Eigenschaften nach), nach gelehrten Freunden benennen, die mir bei meiner Arbeit förderlich sind, so als ob sie sie entdeckt hätten; es ist aber nicht wichtig, ob jemand selbst etwas entdeckt hat oder ob er es als erster öffentlich gemacht und mir mitgeteilt hat. Schon viele Freunde haben mir das zuliebe getan. Wenn Dir keine andere Art besser gefällt, überlege doch, ob Du die Enzianart, das Schelmenkraut, das manche grosse Bitterwurz und andere Spießblatt nennen, für würdig hältst, Deinen Namen zu tragen: Von Dir habe ich nämlich zum ersten Mal den deutschen Namen dieser Pflanze und ihre Nützlichkeit gegen die Vieh- und Rinderpest erfahren.
Aretius war mit dieser Wissenschaft zum ersten Mal während seiner Studienjahre in Marburg in Kontakt gekommen, wo es aufgrund der guten Beziehungen zwischen Zürich und Bern und dem Landgrafen von Hessen zahlreiche schweizerische Studenten gab. Während des Schmalkaldischen Krieges (1546-1547) widmete er sich der Botanik, nachdem er zuvor schon Mathematik und Astronomie studiert hatte. Bereits in dieser Zeit nahm er an Exkursionen teil, die es ihm erlaubten, sich mit der Pflanzenwelt Hessens bekannt zu machen. Er versorgte Gessner mit zahlreichen Pflanzen, wie dieser selbst zum Beispiel in seinem Werk De raris et admirandis herbis bezeugt. Aretius, der insgesamt etwa fünfzehn Werke verfasst hat, starb am 22. März 1574, wenige Tage nach seiner Gattin Verena Rigodi.
Zu den Schriften des Aretius zählt auch eine Beschreibung von Stockhorn und Niesen, zwei Gipfel in den Berner Alpen, die er mit mehreren Begleitern erklommen hatte. Der Text wurde als Anhang zu dem Kommentar des deutschen Mediziners Valerius Cordus zu dem Werk De re medica des Dioskurides veröffentlicht. In dieser Beschreibung verbessert der Autor die in den existierenden Karten (besonders der des Aegidius Tschudi) hinsichtlich des Berner Oberlandes bestehenden Mutmassungen. Er bietet gleichermassen geographische wie auch etymologische Erläuterungen und beschreibt vor allem die Pflanzen, die auf seinem Weg beobachten konnte. Auf sehr originelle Weise erklärt Aretius, warum man ins Gebirge gehen muss und warum solche Ausflüge so schön sind, wobei er das Oberland als eine Paradieslandschaft betrachtet.
Die hier ausgewählte Passage bezieht sich auf den Niesen und zeigt sowohl in geographischer wie toponymer Hinsicht die Genauigkeit von Aretius’ Beschreibung. Ein typisch humanistischer Zug kommt hinzu durch die Erwähnung einer griechischen Inschrift, die ein gebildeter Ausflügler auf dem Gipfel hinterlassen hat. Der lobpreisende Charakter der Beschreibung ist in unserer Passage auch leicht zu erkennen. Aretius verwendet die Worte amoenitas und amoenissimus, die an das antike Motiv des «lieblichen Ortes» (locus amoenus) gemahnen.
Bibliographie
Bratschi, M. A. [Einleitungen/Anmerkungen], in: Ders., (Hg.), Niesen und Stockhorn. Berg-Besteigungen im 16. Jahrhundert: zwei Lateintexte von Berner Humanisten, Thun, Ott, 1992.
Jüttner, G., Wilhelm Gratarolus, Benedikt Aretius: naturwissenschaftliche Beziehungen der Universität Marburg zur Schweiz im sechzehnten Jahrhundert, Marburg, Erich Mauersberger, 1969.
Mathys, H.-P., «Aretius, Benedikt», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 29.08.2001, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010508/2001-08-29/.
Schneider, Th. Fr., «Nessus und Wilder Andres: Kentauren im Berner Oberland? Etymologische Versuche zu den fünf Namen des Berges Niesen im Bericht des Humanisten Benedikt Aretius von 1561», in: Archivio per l’Alto Adige 106-107 (2012-2013), Lingua e cultura nelle Alpi: studi in onore di Johannes Kramer, Florenz, Istituto di studi per l’Alto Adige, 2013, 643-669.