Tiergeschichte (Historia animalium): der Esel

Conrad Gessner

Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 30.03.2023.


Entstehungszeitraum: Gessner hat ungefähr zehn Jahre für den ersten Band der Historia animalium gebraucht, wie er selbst in der von uns hier ebenfalls präsentierten Vorrede an den Leser in verschleierter Form zu verstehen gibt (s. auch Anm. 7 in der deutschen Übersetzung).

Ausgabe: Historiae Animalium Lib. I de Quadrupedibis viviparis, Zürich, Froschauer, 1551, 3, 4, 5, 6, 8, 16.

 

Zwischen 1551 und 1558 veröffentlichte Conrad Gessner in vier Bänden mit insgesamt mehr als 4500 Seiten seine Historia Animalium, aus deren ersten Band über die Säugetiere (Quadrupedes Vivipares) von 1551 der vorliegende Text stammt. Gessner versuchte in diesem Werk das Wissen seiner Zeit systematisch zur Darstellung zu bringen. Bei der Gliederung orientierte er sich am Vorbild der entsprechenden Werke des Aristoteles (Historia animalium) und des Albertus Magnus (De animalibus). Eine deutsche Übersetzung der vier Bände unter dem Titel Thierbuch erschien bereits 1563 in Zürich (ebenfalls bei Froschauer). Gessners Tiergeschichte gilt als erstes bedeutendes Werk der modernen Zoologie und verbindet diese zugleich mit der Zoologie der Antike und des Mittelalters.

Die kurze Vorrede an den Leser macht schon das Charakteristische an Gessners Vorgehen deutlich. Er kombinierte die Wiedergabe der Informationen, die er in den ihm vorliegenden Quellentexten vorfand – vornehmlich der Bibel sowie den antiken und mittelalterlichen Naturforschern (auch Ärzte und Bestiarien) – mit eigenem kritischem Urteil und eigenen Beobachtungen. Dass er den Leser abschliessend dazu auffordert, auch dem Schöpfer der beschriebenen Tierwelt zu danken, macht deutlich, dass sein Schreibimpetus nicht nur ein rein zoologischer war, sondern er sich auch von seinen christlich-theologischen Überzeugungen leiten liess. Auch die Lektüre des hier wiedergegebenen Textes über den Esel zeigt, dass Gessner in seinem Werk über die Ziele hinausging, die man heute mit einem rein zoologischen Lehrbuch verbinden würde; das bedeutet nicht, dass ihm nicht innerhalb der Entwicklung dieser Wissenschaft eine innovative Bedeutung zukommt.

Gessners Text wird begleitet von akkuraten Holzschnittillustrationen, die in wissenschaftlichen Werken der Zeit keine Selbstverständlichkeit waren. Auch unserem Text ist eine Illustration beigegeben: die gut beobachtete linke Seitenansicht eines Esels. Gessner behandelte in seinem Werk – seinen Quellen folgend – zwar auch Fabeltiere wie Einhorn und Basilisk, liess aber in seinem Text seine Zweifel an deren tatsächlicher Existenz erkennen.

Der vorliegende Text gliedert sich in acht grosse Abschnitte (Kapitel). In A werden die Bezeichnungen für den Esel in verschiedenen toten und lebenden Sprachen aufgeführt. In B folgt die äusserliche Beschreibung des Esels (sozusagen die Descriptio); hier wird u. a. darauf eingegangen, dass es lokal verschiedene Arten von Eseln gibt. Es folgt der Abschnitt C, dessen Thematik in den folgenden Abschnitten bis einschliesslich G fortgesetzt wird, wobei sich in den einzelnen Kapiteln nicht feststellen lässt, dass sie je für sich ein besonderes Unterthema hätten. Inhaltlich bieten diese Abschnitte eine bunte Fülle an Informationen, vor allem über das Verhalten und Wesen des Esels sowie über verschiedene Arten, wie er für den Menschen nutzbar gemacht wird. Der Polyhistor breitet vor den Augen des Lesers eine ungeheure Stofffülle aus, die freilich kaum nach nachvollziehbaren inneren oder äusseren Kriterien geordnet erscheint. Im Abschnitt H mit der Themenangabe Philologia de asino geht es primär um etymologische Fragen und in der Antike verbreitete lokal Bezeichnungen für den Esel, aber auch um Epitheta oder ausserzoologische Bereiche, in denen der Begriff «Esel» eine Rolle spielt (z.B. als Vasenform oder in Sternbildern). Abschliessend folgt im achten Kapitel eine Proverbia überschriebene Abteilung, in der Sprichwörter aufgeführt werden, in denen der Esel eine Rolle spielt. Hier kommt neben dem Lateinischen und Griechischen besonders auch die deutsche Volkssprache zu ihrem Recht. Gerade in diesem Abschnitt kann man sehr gut erkennen, dass es Gessner nicht nur um die naturwissenschaftliche, sondern auch in einem gewissen Masse auch um die moralisch-ethische Belehrung seiner Leser geht.

In ihrer Gesamtheit können die hier ausgewählten Passagen aus Gessners Tiergeschichte hoffentlich zumindest erahnen lassen, mit welchem ehrfurchtsgebietenden Fleiss Gessner sich diesem schon dem reinen Umfang nach monumentalen und in seiner Zeit höchst innovativen Werk widmete.

 

Bibliographie

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