Die Besteigung des Stockhorns
Johannes Rhellicanus
Einführung: Kevin Bovier (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 20.02.2024.
Entstehungsdatum: kurz nach dem Ausflug im Sommer 1536 (der auf den 12. August 1536 datierte Widmungsbrief ist der terminus ad quem).
Ausgaben und Übersetzungen: Homeri vita, ex Plutarcho in Latinum tralata per Io. Rhellicanum, Tigurinum… Item eiusdem Ioan. Rhellicani Stockhornias, Basel, B. Lasius/Th. Platter, 1537, 155-159 (155-157 für den hier präsentierten Auszug); C. Gessner, De raris et admirandis herbis, Zürich, C. Froschauer, 1555, 77-82 (hier: 79-80); J. J. Scheuchzer, Helvetiae historia naturalis oder Natur-Historie des Schweitzerlandes, Zürich, Bodmer, 1716, 246-251; W. Ludwig, «Die Stockhornias des Joannes Rhellicanus», Humanistica Lovaniensia 32 (1983), 219-224; Niesen und Stockhorn. Berg-Besteigungen im 16. Jahrhundert: zwei Lateintexte von Berner Humanisten, hg. von M. A. Bratschi, Thun, Ott, 1992, 8-21, mit deutscher Übersetzung; deutsche Übersetzung in: E. Bähler, «Eine Stockhornbesteigung vom Jahre 1536», Blätter für bernische Geschichte, Kunst und Altertumskunde 2 (1906), 97-103; französische Übersetzung in Ph. S. Bridel, Le conservateur suisse ou recueil complet des étrennes helvétiennes, Bd. 4, Lausanne, Blanchard, 18552, 318-323; französische Übersetzung in: C. Reicher/R.Ruffieux, Le voyage en Suisse: anthologie des voyageurs français et européens de la Renaissance au XXe siècle, Paris, R. Laffont, 1998, 90-93.
Metrum: daktylischer Hexameter.
Im Sommer 1536 unternahm der Zürcher Johannes Rhellicanus (ca. 1478/1488-1542), damals Professor für Griechisch an der Philosophie an der Berner Akademie, zusammen mit den Bernern Peter Kunz (von dem die Anregung zu dieser Unternehmung kam), Christian Danmatter, Johannes Endsberg und dessen Bedienstetem einen Ausflug auf den Berg Stockhorn im Simmental. Rhellicanus berichtet davon in einem Gedicht, das er zusammen mit seiner Übersetzung des pseudoplutarchischen Werks De vita Homeri veröffentlichte. Einige Jahre später gab Conrad Gessner, der ebenfalls ein begeisterter Liebhaber der Bergwelt war, das Gedicht des Rhellicanus in seiner botanischen Abhandlung mit dem Titel De raris et admirandis herbis heraus (1555).
Die Gliederung der 130 Verse umfassenden Stockhornias ist folgende:
1-7: Aufstehen, Frühstück und nächtlicher Aufbruch am Pfarrhaus von Erlenbach (730 m) im Simmental.
8-17: Zwei Gefährten schliessen sich ihnen an; einer von ihnen kennt sich mit dem Gang der Gestirne aus.
19-21: Aufstieg zur Alm von Chlusi (1320 m) und erstes Picknick.
21-39: Überquerung des Chrindli (1637 m) nahe dem See von Hinterstocken, in dem es keine Fische gibt; zweites Picknick neben vereisten Quellen.
39-51: Kunz lässt die anderen an seinen Kenntnissen über die Pflanzenwelt teilhaben; sie erreichen den Gipfel von Stockhorn.
51-73: Sie bewundern die Aussicht; drittes Picknick und Würdigung von Milchprodukten; sie lassen einen Felsen herabrollen, um das damit verbundene Geräusch zu hören, dann beginnen sie mit dem Abstieg.
74-83: Zoologie; Betrachtung des Schnabels und des Gefieders eines Alpenschneehuhns, das sie geschossen haben.
84-95: Sie erreichen eine Hütte auf der Alm von Oberstocken, wo der Neffe von Kunz ihnen Käse und Milch anbietet; sie steigen auf einen Bergkamm und versuchen vergeblich, eine Gämse zu Gesicht zu bekommen.
96-103: Abstieg auf einem bequemeren Weg als dem, den sie zum Aufstieg benutzt hatten; Ankunft in Erlenbach und am Pfarrhaus.
104-109: Die Einwohner von Erlenbach laden sie zu einem Essen ein; nur Endsberg nimmt die Einladung an, die anderen sind von ihren Anstrengungen und der Hitze zu erschöpft.
110-122: Sie bedauern es, dass sie der örtlichen Gastlichkeit keine Ehre erweisen können; Nikolaus Lehnherr, der über die Redegabe eines Nestor und den Reichtum eines Krösus verfügt, erweist den Gästen die Ehre und dankt ihnen.
123-125: Um den Gastgebern ein Kompliment zu machen, schreibt der Dichter ihnen die Tugenden der alten Helvetier zu.
126-130: Sie verpflichten sich dazu, die empfangenen Wohltaten nicht zu vergessen; am nächsten Tag machen sie sich auf den Heimweg nach Bern.
Die Abfassung des Gedichts ist – wie Max Bratschi verdeutlicht – vor dem Hintergrund der Berner Expansion, religiöser Konflikte und des Söldnerwesens zu sehen; der Dichter tritt übrigens als Kriegsgegner auf. Das Gebirge wird hier anders betrachtet als in früheren Zeugnissen, in denen eine starke Furcht vor dem Unbekannten zum Ausdruck kommt (z. B. im Brief Petrarcas über den Mont Ventoux). Die Beschreibung des Rhellicanus ist dagegen frei von allen wunderbaren Elementen (Drachen, furchterregenden Höhlen oder andere Gefahren), seine Herangehensweise ist die eines dem reformierten Bekenntnis angehörenden Humanisten, und sie ist die eines Gelehrten, der auf alles neugierig ist, was der Berg ihm anzubieten hat. Die Erkundung der alpinen Umgebung, besonders der Flora und Fauna, nimmt daher einen wichtigen Platz in dem Gedicht ein. William Barton bemerkt zudem, dass die Beschreibung der Aussicht vom Berg aus Übereinstimmungen mit den Landschaftsbeschreibungen der antiken Tradition aufweist, die in der Renaissance wieder aufgegriffen wurden; in ihr findet man eine Zusammenstellung von Seen, Bächen, Feldern, Dörfern und Bergen. Der Berg bietet Rhellicanus und seinen Begleitern derart die Möglichkeit, ihren Augen ebenso Sättigung zu verschaffen wie ihrem Bauch. Daher ist die Aussicht ein integraler Bestandteil ihrer Bergerfahrung.
Die diversen über den Text verteilten mythologischen Anspielungen erfüllen verschiedene Funktionen: Manche von ihnen dienen als Zeitangaben, besonders am Beginn und am Ende des Gedichts (Aufgang des Morgensterns in V. 2 und Personifikation der Sonne in V. 129); andere charakterisieren bukolische Orte wie die Wasserläufe (Arethusa und Alphaios, die von Horaz berühmt gemachte Bandusische Quelle); einige bezeichnen eine Person, der man während der Exkursion begegnet war (Nestor, Krösus); andere schliesslich sind Metonyme, mit denen man Nahrungsmittel bezeichnet (Ceres steht für Brot, Bacchus für Wein).
Der Einfluss antiker Autoren, besonders des Horaz, des Vergil und des Ovid, wird in vielen Passagen spürbar. So erinnert der Anfang des Gedichts (Nox erat coelo radiabant sidera toto) stark an die 15. Episode des Horaz (Nox erat et caelo fulgebat luna sereno). Der Übergangsvers (V. 39) zwischen der Mahlzeit und des Pflanzenvortrags ist sehr deutlich eine Anleihe bei der Aeneis (1,216); dazu kann man noch das Wort ferina (V. 33), das Wildbret, hinzunehmen, das aus der gleichen Passage bei Vergil stammt (Aen. 1,215). In der astronomischen Passage des Gedichts ist die Formulierung, mit der Orion bezeichnet wird (V. 16: ensifer Orion), den Fasten des Ovid entnommen (4,388).
Das Gedicht des Rhellicanus lässt sich jedoch nicht auf eine blasse Nachahmung antiker Autoren reduzieren. Der Dichter lässt sich manchmal von antiken Motiven inspirieren, um den Bericht besser im alpinen Kontext des 16. Jahrhunderts zu verankern. Ein frappierendes Beispiel für diese Aktualisierung ist es, dass der Dichter die Nymphe Stockhornia erfindet um eine Quelle zu personifizieren, an der die Reisenden ihren Durst löschen. Die Assoziation einer Nymphe mit einem Wasserlauf ist ganz und gar antik, doch die Neuschöpfung eines Nymphennamens durch die simple Latinisierung des deutschen Bergnamens wirkt auf den Leser geradezu komisch. Andere Elemente des Gedichts sind dagegen rein zeitgenössisch, wie die Erwähnung der lokalen Milchprodukte, die Rhellicanus und seine Gefährten zu sich nehmen.
Auch wenn die Stockhornias sowohl formell als auch inhaltlich kein Meisterwerk der neulateinischen Dichtung darstellt, mangelt es ihr doch nicht an Frische und einer gewissen Originalität; wir erinnern daran, dass Gedichte über Bergwanderungen in dieser Epoche noch selten waren.
Bibliographie
Barton, W. M., Mountain aesthetics in early modern Latin literature, London, Routledge, 2017, 95-96.
Bratschi, M. A. (Hg. u. Übs.), Niesen und Stockhorn. Berg-Besteigungen im 16. Jahrhundert: zwei Lateintexte von Berner Humanisten, Thun, Ott, 1992, 8-21.
Gelzer, Th., «Die Stockhornias des J. Rhellicanus. Eine Bergbesteigung im Simmental 1536», in: E. J. Beer/Th. Gelzer, Zehn Jahre Sommeruniversität Lenk, Lenk, Stiftung Kulturförderung Lenk, 1997, 25-33.
Mahlmann-Bauer, B., «Charakteristika des Schweizer Humanismus: das Beispiel von Johannes Rhellicanus und Leonhart Hospinianus», in: D. Amherdt, La littérature latine des humanistes suisses au XVIe siècle, Camenae 26, 2020, 23-24, online, https://www.saprat.fr/wp-content/uploads/2023/02/camenae-26-10-mahlmann-bauer-fevrier-reduite.pdf.