Helvetiae descriptio: Einleitung, Uri, Schwyz, Glarus, Schluss
Heinrich Glarean
Einführung: David Amherdt (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 10.02.2023.
Entstehungszeitraum: 1511-1514.
Handschrift: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 28325, hier: fol. 25ro, 30ro-vo, 32ro, 36ro-vo.
Ausgaben: Ad divum Max. Aemilianum Romanorum imperatorem semper Augustum Henrici Glareani […] Panegyricon. Eiusdem de situ Helvetiae et vicinis gentibus. De quattuor Helvetiorum pagis. Pro iustissimo helvetiorum foedere panegyricon, Basel, Petri, 1514, hier: fol. Bivo-Biiro; Ciiiiro-vo; Divo-Diiro; Eiro-vo; Descriptio de situ Helvetiae et vicinis gentibus per eruditissimum virum Henricum Glareanum Helvetium poetam laureatum. Idem de quatuor Helvetiorum pagis. Eiusdem pro iustissimo Helvetiorum foedere Panegyricon, cum commentariis Osvaldi Myconii Lucernani. Ad Maximilianum Augustum Henrichi Glareani Panegyricon, Basel, Froben, 1519 (mit einem Kommentar des Humanisten Oswald Myconius aus Luzern), hier: 12-15; 46-49; 53 und 64; Helvetiae descriptio et Panegyricum in laudatissimum Helvetiorum foedus, Basel, Kündig (Parcus), 1553, hier: fol. A3ro-vo; B2ro-vo; B4ro; B8r o; Helvetiae descriptio cum IIII Helvetiorum pagis ac XIII urbium panegyrico et Osvaldi Molitoris Lucerini commentario, Basel, Kündig (Parcus), 1554, 9-14; 57-58; 59-60; 68; 86; Henricus Glareanus, Helvetiae Descriptio. Panegyricum, hg. und übs. von W. Näf, St. Gallen, Tschudy, 1948, hier: 20-21, 48-49, 52-53, 64-65; 90-91 (mit deutscher Übersetzung).
Metrum: daktylischer Hexameter.
Das der Schweiz gewidmete Gedicht Glareans erschien Ende 1514 in Basel bei dem Drucker Adam Petri, als der Dichter sich in der Stadt am Rhein niederliess. Der Band enthält auch die Eloge auf Kaiser Maximilian, die schon 1512 in Köln erschienen war und der Glarean seine Krönung zum poeta laureatus verdankte.
In seinem an den zürcherischen Kanoniker Heinrich Uttinger adressierten Widmungsbrief erklärt Glarean, dass sein Widmungsempfänger und er gesprächsweise übereingekommen waren, dass es notwendig sei, die Jugend über ihr Land zu belehren und die negative Kritik der Feinde der Schweiz zu bekämpfen. Seit dieser Zeit habe der Humanist begonnen, bei den antiken Autoren Informationen über die Schweiz zu sammeln, um sie der Nachwelt zu überliefern. Er will daher mit diesen Versen das Image der Schweiz zu verbessern, um so die patriotischen Gefühle seiner Leser anzustacheln, besonders der jungen Leute. Er bekräftigt schliesslich mit Nachdruck, dass er zu einer Gruppe schweizerischer Gelehrter von grossem Wert gehört, unter denen sich besonders Zwingli, Vadian oder auch die Amerbachs befinden.
Das Gedicht ist ein poetisches Dyptichon mit einem Umfang von 402 lateinischen Hexametern, das aus zwei Teilen besteht, die Helvetiae descriptio (Beschreibung der Schweiz, V. 1-176) und Panegyricum in laudatissimum Helvetiorum foedus (Panegyrikos auf die hochlöbliche schweizerische Eidgenossenschaft, V. 177-402) betitelt sind. Wie er zu Beginn des Gedichts bekräftigt (s. unten, V. 1-14) ist sein Ziel nicht so sehr, eine Geschichte der Schweiz zu schreiben (auch nicht, über Tell zu sprechen, dessen Apfelschuss er mehrfach erwähnt) als vielmehr, ihren unsterblichen Ruhm zu feiern und eine geographische Beschreibung zu liefern.
Das stellt das Thema der 176 ersten Verse dar. Das Panegyricum besteht aus einem kurzen Lobpreis jedes der damals dreizehn Orte, deren Ruhm auf militärischen Erfolgen beruht, die es ihnen erlaubten, sich von ihrem Unterdrücker zu befreien; die Schlusspartie (V. 346-402) ist ein dithyrambischer Lobpreis der Schweiz und ihrer Bewohner, der dazu aufruft, die Tugenden der alten Römer nachzuahmen (s. unten, V. 390-402): Strenge, Loyalität, kriegerischer Geist und Freiheitsstreben. Glarean bringt auch seinen Wunsch zum Ausdruck, dass sein Vaterland, das in Tell einen Verteidiger und Befreier gefunden hat, noch zahlreiche andere Helden hervorbringen möge, die sich der grossen Männer der römischen Republik würdig erweisen.
Die Vorliebe Glareans für die antike Literatur, die Geographie und die Geschichte werden in der Descriptio deutlich. Der Dichter bemüht sich vor allem, herauszustellen, was er als die spezifisch schweizerischen Tugenden ansieht: kriegerische Begabung, Freiheitsliebe, Gerechtigkeit und unverstellte Natürlichkeit. Unter den benutzten Quellen finden sich Historiker wie Caesar, Livius oder Tacitus und Geographen wie Strabon und Pomponius Mela. Die antiken exempla werden konstant mit den Grosstaten der Schweizer parallelisiert; auch die Ortsnamen und die Namen der antiken Völker werden zu den geographischen und ethnischen Realitäten des 16. Jahrhunderts in Beziehung gesetzt.
Glareans Gedicht fand in den humanistischen Milieus ein bemerkenswertes Echo. Besonders erschien 1519 eine Ausgabe der Descriptio, die von einen Kommentar aus der Feder des Oswald Myconius begleitet wird, sowie von zwei Lobgedichten auf die Descriptio bzw. den Kommentar; das eine stammt von Joachim Vadian, das andere von Johannes Xylotectus.
Das Gedicht zählt 402 Hexameter, die folgendermassen aufgeteilt sind:
1-14: Musenanruf und Thema des Gedichts
15-176: Geographie
15-55: Völker
56-92: Berge, Winde, Ströme, Kulturen
93-176: vier Regionen, die von den vier Strömen geteilt werden: Thur (108-118), Limmat (119-144), Reuss (145-8), Aar (149-161)
177-402: Panegyrikus
177-193: das schweizerische Vaterland
194-205: Zürich
206-217: Bern
218-229: Luzern
230-241: Uri
242-253: Schwyz
254-265: Unterwalden
266-277: Zug
278-289: Glarus
290-302: Basel
303-314: Freiburg
315-325: Solothurn
326-336: Schaffhausen
337-346: Appenzell
347-359: verbündete Länder (Wallis, Sankt Gallen, Thurgau, Graubünden)
360-402: Schlussfolgerung
Die ausgewählten Passagen sind der Anfang des Gedichts, die Passagen über Uri, Schwyz und Glarus sowie schliesslich die Schlussverse. In diesen Versen bemüht sich Glarean, der nach Art der klassischen Autoren mit einem Musenanruf beginnt, aufzuzeigen, dass die Schweizer als Akteure einer Art translatio imperii, die sich in dem neuen Brutus, Tell (V. 396), verkörpert, nicht nur stark und mutig sind (V. 230-253), sondern auch fromm, sanftmütig und christusliebend (V. 235-236) und somit gewissermassen das humanistische Ideal eines Menschen realisieren, der die Tugend der Antike mit christlicher Frömmigkeit verbindet. Glarean selbst bietet das Beispiel einer gelungenen translatio studii, indem er ein Gedicht in antiker Manier verfasst, das mit einer Aufzählung römischer Heroen endet. In der Passage über Schwyz (V. 242-253) wird gleicherweise ein bei den schweizerischen Humanisten verbreiteter Gedanke deutlich, nämlich der, dass die raue Gebirgswelt einen wohltätigen Einfluss auf den Charakter der Schweizer habe. Schliesslich wollen wir festhalten, dass der Dichter sich mit dem Lob seiner Heimat Glarus ganz besondere Mühe gegeben zu haben scheint, denn dort findet man nicht weniger als vier Vergil-Reminiszenzen. Was die Grösse dieses Ortes ausmacht, dieses «Garanten der Freiheit» (libertatis vindex), das ist sein Kriegsruhm, aber auch der besondere Schutz, dessen er sich vonseiten seiner heiligen Patrone Hilarius und Fridolin erfreut.
Bibliographie
Amherdt, D., «Les humanistes et les mythes», in: J.-D. Morerod/A. Näf (Hgg.), Guillaume Tell et la libération des Suisses, Lausanne, Société d’histoire de la Suisse romande, 2010, 155-164.
Feller-Vest, V., «Glarean als Dichter und Historiker», in: R. Aschmann u. a. (Hgg.), Der Humanist Heinrich Loriti genannt Glarean, 1488-1563, Mollis, Baeschlin, 1983, 93-118.
Korenjak, M., «Das Wasserschloss Europas: Glarean über die Schweizer Alpen», Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 62 (2012), 390-404.
Näf, W., «Schweizerischer Humanismus. Zu Glareans Helvetiae Descriptio», Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte 5 (1947), 186-198.