Auszüge aus dem Kommentar zu Pomponius Mela: die Legende des Pilatus und St. Gallen
Joachim Vadian
Einführung: Kevin Bovier (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 10.02.2023.
Entstehungszeitraum: 1514-1518; zwischen 1518 und 1522 für die Passage über den Pilatussee, die nur in der ersten Auflage des Kommentars erschienen ist.
Ausgaben: Pomponii Melae de orbis situ libri tres, accuratissime emendati una cum commentariis Ioachimi Vadiani Helvetii castigatioribus et multis in locis auctoribus factis, Basel, Cratander, 1522, 34, 168-169; Frohne (2010), 72-75 (mit deutscher Übersetzung).
Im Wintersemester 1517/18 gab Vadian an der Universität Wien einen Kurs über Geographie, genauer gesagt über Pomponius Mela und Solinus. Sein Interesse an diesem Gebiet verdankte er unzweifelhaft seinem Lehrer Conrad Celtis, dem Autor einer Germania illustrata. Vadian verwendete in seinem Kurs Karten, wie man in den Ausgaben sehen kann, die von seinen Studenten mit Anmerkungen versehen wurden; sie zeichneten diese Karten in ihren Randanmerkungen nach. Seine Auslegung des Mela-Textes bestand laut diesen Notizen darin, bestimmte Ausdrücke zu erläutern, Parallelstellen in anderen antiken Texten zu zitieren und Anmerkungen zu den topographischen Besonderheiten von Regionen zu machen; er erwähnte manchmal auch historische oder religiöse Fakten und stellte Vergleiche mit seiner eigenen Epoche an. Zeitgleich zu diesem Kurs verfasste Vadian einen Kommentar zum Werk des Pomponius Mela, der im Mai 1518 in Wien gedruckt wurde.
Die Scholien des St. Gallers sind so ausführlich, dass sie deutlich mehr Platz beanspruchen als der Text des Pomponius Mela. Nur scheinbar folgen sie der Textgliederung des antiken Autors, in Wirklichkeit aber enthalten sie zahlreiche Abschweifungen. Der Kommentator stützt sich auf die antiken und mittelalterlichen Quellen, wertet aber auch zeitgenössische Studien aus; er berichtet auch von seinen eigenen Erfahrungen. 1522 erschien eine zweite Auflage des Kommentars in Basel: Vadian nahm darin wichtige Veränderungen vor. Aus dieser Basler Ausgabe stammen die Auszüge, die wir hier präsentieren. In dem ersten geht es um den Berg Pilatus nahe Luzern; im zweiten um die Heimat Vadians, St. Gallen. Die Passage über den Pilatus stand in der ersten Auflage noch nicht; die über St. Gallen war zwar schon Teil der ersten Auflage, sie wurde aber für die Neuausgabe wesentlich verändert.
Weder der Pilatus noch St. Gallen werden bei Pomponius Mela erwähnt. Was den Pilatus angeht, so gehen die Ausführungen dazu von der Beschreibung der Kyrenaika bei Mela aus, wo ein dem Südwind geweihter Felsen erwähnt wird, den man nicht berühren dürfe, da man sonst wilde Winde entfessele, die Sandstürme hervorrufen. In seiner als Erläuterung firmierenden Anmerkung zitiert Vadian zu diesem Thema zunächst mehrere antike Autoren und stellt dann einen Vergleich mit einer in Appenzell gelegenen Grotte an, bevor er auf seine Exkursion zum Pilatus in Begleitung der ihm landesverwandten Humanisten Johannes Xylotectus, Oswald Myconius und Konrad Grebel zu sprechen kommt. So vermindert sich, je weiter man in der Lektüre dieser Anmerkung fortschreitet, die Verbindung zum antiken Text immer mehr.
Die Passage zu St. Gallen steht in einer Anmerkung zum dritten Buch des Pomponius Mela, in dem der römische Geograph den Verlauf des Rheins und den Bodensee beschreibt. Vadian nutzt die geographische Nähe des Sees zu seiner Heimat aus, um diese lobend zu erwähnen. Der Gründer der Stadt, der irische Mönch Gallus, wird schon in der ersten Auflage erwähnt, doch in der Ausgabe von 1522 bietet der Kommentator noch detailliertere Ausführungen. Vadian versäumt es nicht, seine Familie und besonders seinen jüngeren Brüder Melchior zu erwähnen, in den er grosse Erwartungen setzt. Obwohl Melchior 1521 verstarb, ist diese Passage in der zweiten Auflage nicht gestrichen geworden. Im weiteren Verlauf der Anmerkung werden die Helvetier und die Niederlage von Marignano erwähnt. Man stellt hier wiederum den zentrifugalen Charakter der vadianischen Exegese fest. Diese Abschweifungen mit patriotischem Inhalt scheinen ein wichtiges Charakteristikum der Beschäftigung Vadians mit den Texten antiker Autoren zu sein.
Bibliographie
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Suter-Meyer, K., Wissensvermittler – Kritiker – Autor: Joachim Vadians Kommentare zu Pomponius Mela (Basel, 1522), Zürich, Chronos, 2020, 204-220.