Die Beschreibung des Pilatus: Luzern; die fünf Sinne

Conrad Gessner

Einführung: Kevin Bovier (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 10.02.2023.


Entstehungzeit: zwischen dem 20. (Datum der Exkursion) und dem 28. August 1555 (Datum des Widmungsbriefes).

Ausgaben und Übersetzungen: Descriptio Montis Fracti sive Montis Pilati, Zürich, Gessner, 1555, 45 und 47-49; lateinischer Text und französische Übersetzung in: W.-A.-B. Coolidge, Josias Simler et Les Origines de l’Alpinisme jusqu’en 1600, Grenoble, 1904, 198-201 und 204-209; deutsche Übersetzung in B. Deubelbeiss, «Beschreibung des Mons Fractus durch Konrad Gessner», Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft Luzern, 32 (1991), 36, 39-40 (auf S. 51 Erwähnung früherer deutscher Übersetzungen); englische Übersetzung in: D. Hooley, «Conrad Gessner, ‘Letter to Jacob Vogel on the Admiration of Mountains’ (1541) and ‘Description of Mount Fractus, Commonly Called Mount Pilate’ (1555)», in: S. Ireton/C. Schaumann (Hgg.) Mountains and the German Mind: translations from Gessner to Messner, 1541-2009, Rochester, Camden House, 2020, 35-38.

 

Dieser Text Gessners ist einer seiner bekanntesten und am meisten studierten, weil der Zürcher Naturforscher darin eine Bewunderung für die Bergwelt zum Ausdruck bringt, die für seine Epoche sehr ungewöhnlich ist.

Diese Descriptio schildert eine Exkursion auf den nahe bei Luzern gelegenen Pilatus am 20. August 1555, die Gessner in Begleitung des Chirurgen Peter Hafner, des Apothekers Pierre Boutin und des Malers Johann Thoma veranstaltete. Das Ziel dieser Exkursion war der Pilatussee, der von Moorflächen umgeben war, die im Ruf standen, das Grab des Pontius Pilatus zu sein; es war verboten, irgendetwas in den See zu werfen, weil man fürchtete, dies könne Katastrophen hervorrufen. Deshalb musste man, um Zutritt zu dieser Stätte zu erlangen, einen Antrag beim Bürgermeister stellen; dieses Amt übte damals Niklaus von Meggen aus. Johannes Chrysostomus Huber, der Widmungsträger des Werks und Stadtarzt von Luzern, kümmerte sich darum, die erforderliche Genehmigung für Gessner und seine Gefährten zu erlangen.

Gessner war solche Ausflüge gewohnt, wie er dem Widmungsträger gegenüber selbst angibt. Diesen Enthusiasmus für die Bergwelt und ihre Erkundung teilte er mit seinen Freunden Jacob Vogel, Josias Simler, Simon Grynaeus, Johannes Rhellicanus oder auch Benedikt Marti. Bei diesen Humanisten vermischte sich das Interesse an Fauna und Flora mit einem ästhetischen Wohlgefallen, das der Anblick der Landschaft hervorrief. Gessner sah in den antiken Texten neue Wissensquellen, die ihn dazu anstachelten, seine Forschungsbemühungen zu verstärken. Man kann in seinem Originalbericht auch den Einfluss der zwinglianischen Theologie erkennen, die eine enge Verbindung zwischen Schöpfer und Schöpfung festschrieb. In seiner Descriptio stellt Gessner eine enge Verbindung zwischen drei Gebieten der Wissenschaft her: Geographie (unter der Bezeichnung Chorographie), Physik (das Gleichgewicht zwischen den vier Elementen) und Medizin (das Gleichgewicht der Säfte, die gesundheitliche Zuträglichkeit der Gebirgswelt).

Die Abhandlung beginnt mit einer kurzen, aber gut strukturierten Beschreibung der Stadt Luzern: ihre Ursprünge, die Sitten ihrer Bewohner, die Vorteilhaftigkeit ihrer Lage für die Aktivitäten der Menschen, ihre Wasserläufe, ihre Zugangspunkte und Verteidigungsanlagen. Gessner bringt uns von hier aus übergangslos an den Fuss des Berges. Ein Stück weiter im Text findet man eine bekannte Passage über die Art und Weise, mit der Gessner die Bergwelt mit seinen fünf Sinnen wahrnimmt (in dieser Reihenfolge: Tastsinn, Sehsinn, Gehör, Geruchssinn, Geschmackssinn).

Gessner hatte das Ziel «eines Tages eine umfassende Abhandlung über die Bergwelt und ihre Wunder zu verfassen». Ungeachtet seiner riesigen literarischen Produktion zu verwandten Themen (Botanik, Zoologie) erblickte dieses Projekt niemals das Licht der Welt; es war seinem Schüler und Freund Josias Simler vorbehalten, dieses Vorhaben mit der Veröffentlichung eines Commentarius de Alpibus 1574 erfolgreich umzusetzen.

 

Bibliographie

Barton, W. M., Mountain Aesthetics in Early Modern Latin Literature, London, New York, Routledge, 2017, 67-113.

Boscani Leoni, S., «Conrad Gessner and a Newly Discovered Enthusiasm for Mountains in the Renaissance», in: U. Leu/P. Opitz (Hgg.), Conrad Gessner (1516-1565): die Renaissance der Wissenschaften/the Renaissance of Learning, Berlin/Boston, de Gruyter, 2019, 119-128.

Leu, U., Conrad Gessner (1516-1565): Universalgelehrter und Naturforscher der Renaissance, Zürich, Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2016, 267-271.

Reichler, C., «Relations savantes et découverte de la montagne: Conrad Gesner (1516-1565)», in: S. Linon-Chipon/D. Vaj (Hgg.), Relations savantes: voyages et discours scientifiques, Paris, Presses de l’université Paris-Sorbonne, 2006, 175-189.