Brief an Johannes Fabricius Montanus: Theriak und Botanik

Conrad Gessner

Einführung: Kevin Bovier (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 10.02.2023.


Entstehungsdatum: 25. Oktober 1560.

Ausgabe: Epistolarum medicinalium Conradi Gesneri philosophi et medici Tigurini libri III, Zürich, Froschauer, 1577, fol. 88ro-vo.

 

Gessners Interesse an der Botanik geht auf seine Kindheit zurück, in der sein Grossonkel Johannes Frick ihn in seinem Garten die Namen der Pflanzen beibrachte und ihn auf Exkursionen in die Umgebung von Zürich mitnahm. Gessner war auch ein Protégé des Apothekers Christoph Clauser, der 1531 Stadtarzt von Zürich wurde.

Er fand Gefallen an diesen Erkundungen und widmete sich ihnen so oft wie möglich, wie man etwa an seinem Brief an Jacob Vogel von 1541 sowie an seiner Beschreibung des Pilatus von 1555 ablesen kann. Seine Kenntnis der Pflanzenwelt beruhte somit mindestens ebenso sehr auf eigener Erforschung dieses Fachgebiets wie auf der Lektüre der antiken Literatur, unter anderem auch deswegen, da die griechischen und lateinischen Autoren nur wenig über die Pflanzen der Alpenregion wussten. Seine Kenntnis der botanischen Literatur ist nicht weniger beeindruckend: Gessner bekräftigt, dass er für seine Historia plantarum ungefähr zweihundert Bücher konsultiert hat; er versah ausserdem die naturgeschichtlichen Bücher in seiner Bibliothek ausgiebig mit Anmerkungen, darunter etwa die Werke des Theophrast, des Pietro Andrea Mattioli und des Rembert Dodoens; zudem gab er 1561 den Dioskorides-Kommentar des deutschen Botanikers Valerius Cordus (1515-1544) heraus, sowie noch andere Werke dieses Autors. Nach der Veröffentlichung seiner Tiergeschichte nahm sich Gessner vor, ein noch bedeutenderes Werk über Pflanzen herauszugeben, wobei er schon eine klare Vorstellung von der Struktur des Buches hatte; doch dieses Projekt kam über das handschriftliche Stadium nicht heraus.

Die Epistolae medicinales Gessners wurden posthum 1577 von Caspar Wolf (1525-1601) publiziert, der Gessner im Amt des Zürcher Stadtarztes nachfolgte. Wolf hatte auch die Bibliothek seines Vorgängers erworben und gab zwischen 1566 und 1587 mehrere Werke Gessners heraus, darunter eben auch die Epistolae. Der Brief, den wir aus dieser Sammlung ausgewählt haben, richtet sich an Johannes Fabricius Montanus, den Pastor von Chur. Beide teilten eine Leidenschaft für die Botanik, und Montanus sammelte regelmässig Pflanzen für Gessner. Einige Monate nach diesem Brief, im Juli 1561, machte sich Gessner auf, um das Veltlin zu erkunden (besonders aus balneologischem Interesse heraus) und traf sich dort mit seinem Freund Montanus.

Das Hauptthema des Briefs Gessners an Fabricius Montanus ist der Theriak, ein Heilmittel, dessen lange Tradition bis ins Altertum zurückreicht. Es handelt sich um eine aus mehreren Inhaltsstoffen bestehende Substanz, die als Gegengift gegen Schlangenbisse und die Bisse anderer giftiger Tiere diente und später auch allgemein gegen Gifte, ja sogar gegen bestimmte Krankheiten Verwendung fand. Das Rezept stammte ursprünglich von Andromachos, einem Arzt Kaiser Neros, der die Zusammensetzung des mithridateion modifizierte, eines Gegengifts, das König Mithridates VI. von Pontos erfunden hatte. Galen überlieferte das Rezept in einem Gedicht von 87 Distichen, in dem siebzig Zutaten erwähnt werden. Dieses Heilmittel blieb über das Mittelalter hinweg in Verwendung, und seine Wirksamkeit wurde erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Frage gestellt.

Das Interesse des Zürcher Gelehrten an der medizinische Wirksamkeit von Pflanzen hat nichts Überraschendes an sich: Gessner hatte in Paris und Borges Medizin studiert (1533-1534) und in Basel den medizinischen Doktortitel erlangt (1541), bevor er Anfang 1552 Stadtarzt von Zürich wurde. Er stand so natürlich in ständigem Kontakt mit den Apothekern der Stadt, wie man auch an diesem Brief sehen kann. Der von Gessner angeschlagene Tonfall ist im Übrigen der eines Arztes, der seinem Patienten eine Medizin vorschreibt und ihn dazu anhält, sich an die Dosierungsvorschriften zu halten. Gessner schliesst seinen Brief, indem er ihn darum bittet, ihm bestimmte Beeren zu schicken: Das war für ihn ein guter Weg, um seine botanischen Kenntnisse zu erweitern und so seine Exkursionstätigkeit zu ergänzen, besonders wenn die von ihm erbetenen Pflanzen in entfernten Regionen wuchsen. Diese Art von Wissens- und Erfahrungsaustausch spielt in der Korrespondenz Gessners und auch allgemein in seinen Beziehungen mit dem von ihm geknüpften humanistischen Netzwerk eine wichtige Rolle.

 

Bibliographie

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