Die lateinische Literatur der Renaissance in der Schweiz

Autoren: David Amherdt und Clemens Schlip. Version: 10.02.2023.

 

1. Allgemeines zur lateinischen Literatur der Renaissancezeit
       1.1. Renaissance und Humanismus: ein neues Weltbild
       1.2. Ein neues Weltbild mit Verankerung in der Antike
             1.2.1. Das Latein der Humanisten und die Auswirkungen des Buchdrucks
             1.2.2. Über die Antike schreiben: die Aufgabe der Philologie
             1.2.3. Die zentrale Rolle der Bildung bei der Verbreitung der humanistischen Weltsicht
             1.2.4. Die Rolle der Briefliteratur und der Biographie und der Autobiographie bei der Verbreitung des humanistischen Weltbilds
       1.3. Nachahmung und Überbietung der Antike im poetischen Schreibprozess
             1.3.1. Imitatio und Aemulatio
             1.3.2. Altes und Neues: Stil, literarische Gattungen, Themen
             1.3.3. Die Dichtung
       1.4. Periodisierung
2. Die lateinische Literatur der Renaissance in der Schweiz
       2.1. Forschungsstand
       2.2. Was heisst «Schweiz» im 16. Jahrhundert?
       2.3. Die lateinische Literatur der Schweizer Humanisten: historischer Kontext und zeitlicher Rahmen
             2.3.1. Der Frühhumanismus
             2.3.2. Die Reifezeit
             2.3.3. Humanismus und Reformation
             2.3.4. Der Humanismus nach der konfessionellen Spaltung
       2.4. Welche zeitlichen Grenzen hat das Portal Humanistica Helvetica?
       2.5. Was ist die geographische Eingrenzung?
       2.6. Gibt es einen Schweizer Humanismus? Was ist ein Schweizer Humanist?
       2.7. Was sind die spezifischen Eigenschaften des Schweizer Humanismus?

 

1. Allgemeines zur lateinischen Literatur der Renaissancezeit

1.1. Renaissance und Humanismus: ein neues Weltbild

Pierre Laurens beschreibt die Epoche der lateinischen Literatur, die besonders von Petrarca in der Mitte des 14. Jahrhunderts eingeläutet wurde und sich im Grossen und Ganzen bis an das Ende des 16. Jahrhunderts erstreckt, als «le dernier grand renouvellement de la littérature latine à son coucher» («die letzte grosse Erneuerung der lateinischen Literatur vor ihrem Niedergang») – dies wird der immer noch sehr vitalen Latinität des 17. Jahrhunderts nicht gerecht, doch der Terminus der «Erneuerung» verdient Zustimmung. Er ist zutreffender als der Begriff der «Renaissance»: denn zum einen bedurften die lateinische Literatur und die Wissenschaft des Mittelalters, die eine grosse Bewunderung für die Antike an den Tag legten, nicht notwendig einer «Wiedergeburt»; zum anderen stellte die sogenannte Renaissance (der Terminus begegnet erst im 19. Jahrhundert) keineswegs einen totalen Bruch mit dem Mittelalter dar, sondern bestand zu einem guten Teil in der Fortentwicklung von Tendenzen, die schon in den vorangegangenen Jahrhunderten sichtbar gewesen waren. Am besten hat den Charakter dieser Epoche wohl Johan Huizinga getroffen, der sie als «Umschlagplatz» zwischen dem Mittelalter und der modernen Kultur bezeichnet und davor warnt, ihre zeitlichen Grenzen und ihre Eigenschaften allzu rigoros bestimmen zu wollen; man solle sich auch davor hüten, einseitig nur ihre modernen Züge zu betonen. Nichtsdestoweniger ist es unleugbar, dass in dieser Epoche eine literarische und künstlerische Erneuerung stattfand, zuerst und in besonderer Weise im italienischen Quattrocento, dann im 16. Jahrhundert auch weiter nördlich (Frankreich, England, Niederlande, Deutschland, die Schweiz etc.). In der lateinischen Literatur erneuert man die Beziehung zu den griechischen und lateinischen Autoren der Antike, indem man sie sich literarische und sprachliche Vorbilder nimmt; man muss sich dabei ins Bewusstsein rufen, dass die humanistische Bewegung sehr von der Erfindung der Druckkunst begünstigt wurde, die eine weite Verbreitung der Klassiker (und natürlich auch der zeitgenössischen Werke) ermöglichte.

Man hat diese europäische Geistesbewegung später (Ende 18./Anfang 19. Jh.) «Humanismus» genannt und «Humanisten» die Männer, die sie verkörperten. Der Humanismus ist also ein Teil der Renaissance, die aber selbst über diese auf das Studium der antiken Autoren konzentrierte philologische und literarische Bewegung hinaus noch andere geistesgeschichtliche Erscheinungen umfasst. Man darf also beide Begriffe nicht einfach unbesehen miteinander identifizieren. Der Begriff «Humanismus» ist vom lateinischen homo und humanus abzuleiten. Der Humanist ist zunächst einmal jemand, der die studia humanitatis, die litterae humaniores oder die bonae litterae praktiziert, diejenigen Studien, die es ermöglichen, humanitas zu erreichen, das heisst «les qualités intellectuelles et morales qui font d’un enfant, ou d’un être à l’apparence humaine […] une personne pleinement ou réellement humaine, guidée par la raison, ou par une volonté capable de maîtriser ou de réguler les passions et les mouvements violents de la nature» («diejenigen intellektuellen und moralischen Qualitäten, die aus einem Kind bzw. einem nur dem Anschein nach menschlichen Wesen […] eine im Vollsinn bzw. wirklich menschliche Person machen, die von der Vernunft bzw. einem Willen gesteuert wird, der dazu in der Lage ist, die Leidenschaften und die gewaltsamen Regungen der Natur zu regulieren») Erasmus fand dafür diese berühmte Formel: «Die Menschen werden nicht als Menschen geboren, sie werden erst dazu herangebildet.» Die humanistische Bewegung vertritt daher eine gewisse philosophische Ansicht über den Menschen, dessen volles Potenzial sie verwirklichen will. Es wäre allerdings ein Irrtum, diese Philosophie vom Menschen in Opposition zum religiösen Glauben zu sehen. Denn selbst wenn sich in der Renaissance gewisse skeptische, materialistische oder sogar atheistische Strömungen finden lassen, kam doch jedes öffentliche Bekenntnis zu einem Deismus oder gar Atheismus den Betreffenden teuer zu stehen, weil es den allgemein (und auch von den meisten Humanisten) geteilten religiösen Überzeugungen widersprach. Ganz im Gegenteil ist die Religion meistens mit dem Humanismus eng verbunden, denn dieser vertritt ein Menschenbild auf der Basis der Tatsache, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde erschaffen hat. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, daran zu erinnern, dass die humanistische Wiederentdeckung der Antike und ihrer paganen Klassiker keinen Bruch mit der mittelalterlichen Hochschätzung der Kirchenväter bedeutete, die sich durch die tendenzielle Abwendung von der Scholastik in mancher Hinsicht sogar eher vertiefte: so war für Petrarca Augustinus eine zentrale geistige Bezugsfigur. Auch im Umgang mit der heidnischen Antike orientierten sich viele Humanisten an jenen Regeln und Massstäben, die die Kirchenväter dafür in der Spätantike formuliert hatten (das bekannteste Beispiel ist wohl der Brief des Basilius des Grossen Über das Studium der griechischen Literatur). Die Religion steht sogar im Zentrum einer humanistischen Strömung, die man als «christlichen Humanismus» bezeichnet und der etwa auch Erasmus, der «Fürst der Humanisten», angehört; dass dieser eine neue lateinische Übersetzung des Neuen Testaments anfertigte und den Kirchenvater Hieronymus edierte, ist für diese Spielart des Humanismus charakteristisch. Auch die christliche Literatur des Altertums profitierte somit von den philologischen Bemühungen der Humanisten um die antike Literatur. Die Religion ist im Übrigen unübersehbar ein zentrales Thema im Schweizer Humanismus, der das Thema dieses Portals darstellt.

Man darf abschliessend (und leicht vereinfachend) festhalten, dass die Renaissance ein neues Weltbild mit sich bringt, wozu natürlich auch die grossen geographischen Entdeckungsreisen der Epoche (nicht zuletzt die auf dem amerikanischen Kontinent) beitrugen; ferner ein verstärktes individuelles Selbstbewusstsein (man bringt seine Gefühle stärker zum Ausdruck; die Gattung der Autobiographie spielt eine wichtige Rolle), das in nationalistischen Strömungen zum Ausdruck kommt (gleichsam ein Individualismus auf Volksebene), aber auch in einer gewissen Kritik an Traditionen und Institutionen, besonders in einem insgesamt markanten Bruch mit den Methoden der Scholastik. Ausserdem wird die Mentalität dem Experiment und dem wissenschaftlichen Denken geneigter. Man beginnt auch, mehr auf die besonderen Bedürfnisse von Frauen und Kindern zu achten; dies kommt besonders in der Entwicklung des pädagogischen Schrifttums zum Ausdruck. Schliesslich wird der Humanismus als «´Geistesadel` wie die Militärlaufbahn ein Mittel sozialen Aufstiegs für Minderprivilegierte, insbesondere für solche der Landschaft».

 

1.2. Ein neues Weltbild mit Verankerung in der Antike

1.2.1. Das Latein der Humanisten und die Auswirkungen des Buchdrucks

Das Lateinische war seit den Tagen der Römer das ganze Mittelalter über die universale Sprache des Abendlandes gewesen, ein Verständigungsmittel, das die Barrieren der diversen Volkssprachen, der aus ihm entstandenen ebenso wie aller anderen, übersprang und für jede gelehrte und wissenschaftliche Kommunikation unerlässlich war. Der innovative Ansatz der Humanisten bestand darin, sich in Vokabular, Stil und Ausdruck wieder unmittelbar an den grossen Klassikern der römischen Literatur zu orientieren; ein einfaches äusseres Merkmal für diesen Wechsel des sprachlichen Modells besteht etwa in der Bevorzugung der klassischen AcI-Konstruktion für dass-Sätze gegenüber der bibellateinischen Konstruktion mit quod plus Indikativ. Solche sprachreformerischen Ansätze betrafen freilich letztlich nur einen kleinen (und fast ausschliesslich männlichen) Teil der Gesamtbevölkerung, der allerdings nun auch bürgerliche und adelige Schichten umfasste, die sich im Mittelalter noch nicht sonderlich um Lateinkenntnisse bemüht hatten. Bildung, und damit auch die Kenntnis der lateinischen Sprache, war nur wenigen Privilegierten zugänglich. Das Lateinische wurde als die Idealsprache betrachtet; die Humanisten heben seinen Ausdrucksreichtum, seine Flexibilität, seine Präzision und seine Unveränderlichkeit hervor (die Volkssprachen waren damals eher noch grossen Veränderungen unterworfen); ferner seine sich über verschiedene Länder und durch verschiedene Zeiten erstreckende Bedeutung, den in dieser Sprache aufgespeicherten Weisheitsschatz, die Kraft der von ihm übermittelten Gedanken und auch seine Fähigkeit zur Erneuerung (man musste neue Ausdrücke für neue, nicht-antike Realitäten finden). Man versteht deshalb, dass die Humanisten so viel Wert darauf legten, dass man die lateinische Sprache schon in jungen Jahren gründlich und korrekt erlernte.

Es ist ein bekanntes Faktum, dass die lateinische Literatur der Antike uns nur zu einem kleinen Teil erhalten ist, setzt dies doch voraus, dass die betreffenden Werke (gleichgültig ob Lyrik, Geschichtsschreibung oder Epik) in Antike und Mittelalter der teuren und aufwendigen handschriftlichen Überlieferung für würdig befunden worden waren. Bei vielen Werken war dies nicht der Fall oder sie fielen Katastrophen zum Opfer oder verschwanden auf andere Weise. Ganz anders verhält es sich mit den Werken der Literatur und Dichtung der Renaissance, die meistens, ganz unabhängig von ihrem inneren Wert, gedruckt wurden und uns noch heute vorliegen. Die Spreu vom Weizen zu trennen, obliegt hier also in stärkerem Masse dem Leser, da die Zeit ihm diese Aufgabe nicht abgenommen hat. Dieses Überangebot an gedruckten Werken, zu denen noch viele bloss handschriftlich überlieferte Texte hinzukommen, schenkt uns auf der anderen Seite eine gute Vorstellung über den inneren Reichtum und die Mannigfaltigkeit der humanistischen Bewegung.

 

1.2.2. Über die Antike schreiben: die Aufgabe der Philologie

Die humanistische Bewegung widmet sich der Wiederentdeckung, Verbreitung und dem Studium der Schriften und der Ideen der griechischen und lateinischen Autoren der Antike. Die Gelehrten machen sich auf die Jagd nach den originalen Texten der Klassiker, edieren sie, drucken sie, kommentieren sie und erteilen auch Unterricht über sie.

Die Philologie spielt bei den Humanisten, die sich um eine Rückkehr zu den Quellen (ad fontes) bemühen, eine zentrale Rolle; es geht ihnen darum, den antiken Text in seiner ganzen Reinheit wiederzufinden. Die Humanisten geben auf diese Weise eine grosse Zahl von lateinischen und griechischen Texten heraus (auch in Form von Anthologien), erklären und kommentieren sie, fordern zur Lektüre der Originaltexte auf (und infolgedessen auch zum Studium der Sprachen, in erster Linie des Lateinischen und Griechischen, aber, insofern das Alte Testament betroffen ist, auch des Hebräischen) und übersetzen zahlreiche Texte aus dem Griechischen ins Lateinische, da vertiefte Griechischkenntnisse nicht bei allen vorausgesetzt werden können. So entsteht eine gewaltige Menge an Textausgaben, Kommentaren und Übersetzungen – sie machen einen grossen Teil der literarischen Produktion der Humanisten aus. Man hat deshalb etwa über Conrad Gessner sagen können, dass mehr als die Hälfte seiner Publikationen in Textausgaben besteht, entweder in Ausgaben bereits edierter Texte, aber auch in Ausgaben von Texten, die bislang nur handschriftlich vorlagen. Ein anderes Beispiel, gleichfalls ein Schweizer Humanist, ist Heinrich Glarean, der ungefähr 20 Ausgaben und Kommentaren zu antiken und nichtantiken Autoren vorlegte, was einen Grossteil seiner literarischen Produktion darstellt. Das Leitmotiv Ad fontes wird auch bei den «christlichen Humanisten» wie Erasmus oder den protestantischen Humanisten deutlich, die die Notwendigkeit einer Rückkehr zum Originaltext der Heiligen Schrift hervorheben, wofür besonders hebräische und griechische Sprachkenntnisse wichtig sind.

Die lateinischen Autoren der Renaissance schreiben daher sehr viel über die Antike; sie reflektieren die Bedeutung des Studiums des Altertums oder der Herausgabe, Kommentierung und Übersetzung der antiken Werke, sie erstellen Kommentare und (teilweise kommentierte) Textsammlungen mit exemplarischen griechischen und lateinischen Sprichwörtern und Phrasen – man denke zum Beispiel an die Adagia des Erasmus oder an die lateinische Übersetzung des Stobaios von Gessner.

Es ergibt sich aus diesem Befund, dass ein grosser Teil des humanistischen Schriffttums eine dienende Funktion hat, insofern es dazu beitragen soll, die Kenntnisse über die Antike zu vermehren.

 

1.2.3. Die zentrale Rolle der Bildung bei der Verbreitung der humanistischen Weltsicht

Für die Humanisten, und ganz besonders für die christlichen Humanisten, die um Zentrum dieses Portals stehen, hat Bildung ein mehrfaches Ziel: die Unterrichtung in den schönen Wissenschaften, aber auch die Unterweisung im christlichen Glauben und in einem sittlich untadelhaften Verhalten. Aus diesem Grunde entsteht eine bedeutende Menge an pädagogischen Schriften: Erziehungshandbücher, Studienanleitungen (ratio studiorum, etc.) oder, allgemeiner gesprochen, Schriften, die junge Leute, Fürsten oder (seltener) sogar Frauen in den verschiedenen Wissensgebieten unterweisen sollen (die entsprechenden Schriften für ein weibliches Publikum sind eine Innovation der Renaissance). Die pädagogische oder mit dem Bildungsthema befasste Literatur weist im Übrigen eine grosse Bandbreite auf. Man könnte sogar so weit gehen, zu sagen, dass fast alle diese Humanisten ein pädagogisches Ziel verfolgen, ganz gleich, ob sie ein Handbuch, einen Kommentar oder ein Gedicht mit einem moralischen oder politischen Inhalt verfassen. Die gesamte literarische Produktion dieser Humanisten geht von einer Grundidee aus: man muss die Antike kennen und die jungen Leute zu guten Christen machen.

 

1.2.4. Die Rolle der Briefliteratur und der Biographie und der Autobiographie bei der Verbreitung des humanistischen Weltbilds

Der Begriff des Humanismus impliziert automatisch internationale Vernetzungen, eine intensive Reisetätigkeit und das Wandern von Personen und Ideen – sicher ging das alles aufgrund der damaligen Verkehrs- und Kommunikationsmittel nicht so schnell vonstatten wie heute, doch die Dialogkultur und die kühne Mobilität der Renaissancezeit müssen sich deshalb vor den heutigen Verhältnissen nicht verstecken. Man zieht damals in Humanistenkreisen oft um, man schreibt sich aber auch viele Briefe, die man gemäss einem schon aus der Antike stammenden Topos als Dialog unter Abwesenden und damit als Ersatz für eine persönliche Begegnung betrachtet. Die Menge an Briefen, die so entsteht, ist enorm – sie bildet unübersehbar einen grossen Teil der schriftlichen Produktion der Humanisten (man denke nur an die Briefe des Erasmus, die in der Ausgabe von Allen zwölf stattliche Bände einnehmen).

Wenngleich grundsätzlich jede Art von Text dazu dienen kann, den Geist des Humanismus zu verbreiten, so gilt das besonders für Biographie und Autobiographie, die ein besonders wichtiges Medium zur Propagierung der humanistischen Ideale darstellen, die von Gelehrten, Philosophen und Dichtern verkörpert werden, die für die studia humanitatis eintreten. Mit Biographien setzte man anderen Humanisten ein Denkmal; Autobiographien wiederum bieten ihren Verfassern selbst eine erwünschte Gelegenheit zu einer stilistisch und sprachlich gepflegten Selbstinszenierung, mit der sie ihre Zugehörigkeit zur humanistischen peer group herausstreichen.

 

1.3. Nachahmung und Überbietung der Antike im poetischen Schreibprozess

1.3.1. Imitatio und Aemulatio

In der Renaissance betrachtete man das Altertum als eine Schatzkammer, die man sich erschliessen und allgemein bekannt machen muss. Die Humanisten waren überzeugt, dass man bei den Alten «Funken einer alten Weisheit finden kann, die in ihrer Wahrheitssuche klarsichtiger war als die späteren Philosophen»; die letztgenannten, die mittelalterlichen Scholastiker, haben gemäss der Überzeugung der Humanisten mit ihrem Gerede und ihren Syllogismen diese ursprüngliche Weisheit erstickt, die im Übrigen in keinerlei Gegensatz zur christlichen Botschaft steht.

Sequi, imitari, aemulari: die Schriftsteller der Epoche folgen dem Vorbild der Klassiker (sequi), sie versuchen sie nachzuahmen (imitari) und sogar, mit ihnen zu rivalisieren (aemulari). Denn gemäss diesem Ideal bedeutet Nachahmung kein sklavisches Nachahmen; es ist ein Nachahmen im Dienst einer neuen Mentalität, einer neuen (allgemein gesprochen: christlichen) Sicht auf die Welt und die menschliche Realität. Die Humanisten sammeln die Reichtümer der Antike, um daraus etwas Neues zu erschaffen, so wie die Bienen den Blütenstaub sammeln, um daraus Honig zu gewinnen. Man spricht auch von einer Art Ernährung, die darin besteht, sich den Stil und das Denken der Klassiker einzuverleiben und sie zu verdauen, so dass sie den Autor am Ende beeinflussen, ohne dass er sich dessen direkt bewusst ist. Der Vorgang des Rivalisierens lässt sich vielleicht noch besser beschreiben durch die Metapher Petrarcas von der Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn, bei der die Identität des christlichen Sohnes gewahrt bleibt, ohne dass ihm die Vorteile der Ähnlichkeit mit seinem heidnischen Vater entgehen Um ein anderes, bereits dem Mittelalter bekanntes, Bild zu variieren: man stellt sich auf die Schultern der Alten, um bessere gesehen zu werden...oder um besser zu sehen.

Seit dem 18. Jahrhundert legt man grossen (zu grossen?) Wert auf Originalität und Innovation, und so fällt es dem heutigen Menschen schwer, dem Phänomen der imitatio gerecht zu werden: Wir neigen dazu, einem Imitator Verrat an seiner eigenen Persönlichkeit vorzuwerfen, doch in der Epoche des Humanismus war das anders. Damals hatte imitatio nicht Trockenes oder Schulmässiges an sich. Sie war Ausdruck einer tiefen und vitalen Bewunderung für das Altertum als primärem Objekt jeder imitatio und seinen Sprech- und Handlungsgewohnheiten, seiner Literatur und seiner Kunst.

Die Frage der imitatio hat in der Renaissance für feurige Debatten gesorgt. Welchen Autor soll man nachahmen? Diese Debatte kristallisierte sich um die Cicero-imitatio herum, wo sie zwischen den bedingungslosen (und manchmal sklavischen) Anhängern Nachahmern Ciceros und denen geführt wurde, die eine moderatere Position einnahmen und einen eklektizistischen Standpunkt vertraten. Im Quattrocento verteidigte beispielsweise Angelo Poliziano den Eklektizismus, während Pietro Bembo für die Nachahmung Ciceros eintrat und Lorenzo Valla seinerseits Quintilian für ein besseres Vorbild hielt als Cicero. Im 16. Jahrhundert attackierte Erasmus in seinem Ciceronianus (1528) die Ciceronianer (allen voran Étienne Dolet) und trat für einen Stil ein, der sich an den zu behandelnden Gegenstand und die Umstände anpasste und dem Temperament des jeweiligen Autors entsprach.

 

1.3.2. Altes und Neues: Stil, literarische Gattungen, Themen

Die Anhänglichkeit an die Antike kommt besonders im Stil und den von den lateinischen Autoren der Antike angewandten rhetorischen Mitteln zum Ausdruck; dabei fällt die massive Präsenz von topoi und antiken Motiven auf, ferner der Rückgriff auf die Mythologie, auf Fabeln, auf antike exempla, ausserdem, besonders bei den Dichtern, zahlreiche (mehr oder weniger deutliche) intertextuelle Beziehungen zu antiken Autoren, die die gedankliche Struktur eines Gedichts bestimmen oder zumindest dafür sorgen, dass das antike Vorbild vielfachen Widerhall findet. Man ahmt auch die ars scribendi der antiken Autoren nach, denen man es im Punkt der sprachlichen Reinheit gleichtun möchte.

Die Humanisten bedienen sich aller bedeutenden literarischen Vers- und Prosagattungen der Antike, wobei sie diese häufig bereichern oder sogar transformieren: Lyrik, Elegie, Epik, Lehrgedicht, Epigramm, Satire, religiöse und dramatische Dichtung; im Bereich der Prosa sind zu erwähnen die Briefliteratur, die Geschichtsschreibung, die Redekunst, der Dialog, Biographie und Autobiographie, die Novelle und andere narrative Prosaformen, die grosse Bedeutung einnehmende Kommentarliteratur sowie rhetorische, pädagogische, politische, philosophische, wissenschaftliche und enzyklopädische Abhandlungen. Die Renaissance bringt auch neue Gattungen hervor, unter denen die der literarischen Utopie vielleicht die bekannteste ist; ihr Vater ist Thomas Morus; man darf hier aber auch das Emblem erwähnen, eine Schöpfung des Andreas Alciatus; es stellt eine Verbindung von Text und Bild dar, die ohne die Erfindung der Druckkunst nie ihre aussergewöhnlich weite Verbreitung gefunden hätte.

Was die Themen angeht, verhält es sich etwas anders. Auch wenn die Humanisten sich starke Mühe geben, mit den antiken literarischen Gattungen auch zahlreiche damit verbundene Themen aufzugreifen (hier soll ein Beispiel genügen: die Liebe zur elegischen puella), ist ihre Weltsicht eine andere und bringt andere Akzentsetzungen mit sich, die nicht zuletzt auf das christliche Weltbild zurückgehen (Thematisierung der Gattenliebe im Rahmen der elegischen Gattung, wodurch die eheliche Liebe an die Stelle der in dieser Gattung traditionellen unehelichen Liebe zur puella treten kann; andere Ansichten zum Erziehungssichten; Bedeutung theologischer Fragestellungen). Sie hängen aber auch mit den besonderen Umständen der Epoche zusammen (die grossen Entdeckungsfahrten, die Entwicklung der Wissenschaft, innerchristliche Auseinandersetzungen und Konflikte mit nichtchristlichen Völkern).

 

1.3.3. Die Dichtung

Die Präsenz des Altertums ist wohl am meisten ausgeprägt in der Poesie, dem kreativen Genre par excellence (ποίησις heisst zunächst einmal «Machen, Erschaffen»), auch wenn dies manchen auf den ersten Blick paradox erscheinen mag: ihre Präsenz wird deutlich in den behandelten Themen, in den Anklängen an antike Dichter (von denen die umfangreichen apparatus fontium Zeugnis ablegen, die wir den auf diesem Portal präsentierten Texten beigegeben haben).

Man muss ohne Weiteres eingestehen, dass nicht alle dieser Gedichte sich durch besondere geistige Originalität und Kunstfertigkeit auszeichnen. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der poetischen Produktion der Humanisten im weiteren Sinne dem schulischen Bereich zuzuordnen ist, das heisst es handelt sich um eine zu Übungszwecken verfasste Literatur, die daher häufig das Werk von noch recht jungen Leuten ist. Viele der zu solchen Übungszwecken verfassten Gedichte waren auch gar nicht zur Veröffentlichung bestimmt (das gilt etwa für viele Gedichte Glareans, aber auch für einen grossen Teil der Gedichte Gwalthers). Eine Stufe höher angesiedelt ist die anlassgebundene und daher grundsätzlich sehr vergängliche Gelegenheitspoesie, die zum Beispiel ein bestimmtes Ereignis feiern oder einem Freund anlässlich eines Trauerfalls Trost spenden soll (häufig wurden diese Gedichte nachträglich doch noch zur Erfreuung oder zur Erbauung der Nachwelt veröffentlicht).

Die poetische Produktion beschränkt sich bei vielen Dichtern auf die Jugendzeit oder auf bestimmte Situationen (Sterbefälle oder der Versuch, das eigene Leben in poetischer Form Revue passieren zu lassen, wie dies etwa Fabricius Montanus in seiner Autobiographie getan hat). Nur relativ wenige versuchten überhaupt, die Poesie gleichsam zu ihrem primären Beruf zu machen (was das Finden grosszügiger Mäzene implizierte): in Frankreich ist ein bekanntes Beispiel Jean Salmon Macrin; von den Humanisten auf dem Gebiet der heutigen Schweiz kann man dies nur von Simon Lemnius sagen, und bei ihm lag es wohl auch darin begründet, dass seine in Wittenberg angestrebte Universitätslaufbahn an Luthers vulkanischem Temperament zerschellte. Glarean, Vadian, Gwalther und selbst Montanus haben Gedichte nur in ihren jüngeren Jahren veröffentlicht und sich später in anderen Metiers ausgezeichnet, auch wenn zum Beispiel Glarean noch als über Siebzigjähriger in seiner zu Beginn einer Vorlesung vor studentischem Publikum vorgetragenen (und damals nicht zum Druck bestimmten) Poetischen Autobiographie stolz auf seine Jahrzehnte zurückliegende Dichterkrönung durch Kaiser Maximilian I. verwies.

 

1.4. Periodisierung

Die lateinische Literatur setzt mit Petrarca und Boccaccio bereits im italienischen Trecento ein, ihr Schwerpunkt und ihre europaweite Verbreitung liegt indes im 15. und 16. Jahrhundert.

Extrem vereinfacht gesprochen kann man das 15. Jahrhundert und die ersten Jahre des 16. Jahrhunderts bis zur Reformation als eine zusammenhängende Periode betrachten. Ihr Schwerpunkt liegt in Italien (mit Zentren wie Florenz, Rom, Neapel und Ferrara) und sie kristallisiert sich in Persönlichkeiten wie Leonardo Bruni, Lorenzo Valla, Papst Pius. II (Enea Silvio Piccolomini), Giovanni Pontano und Angelo Poliziano. Langsam erreichen diese Ideen auch den Norden, woran nicht zuletzt das Konzil von Basel (1431-1449) als gewaltiger Treffpunkt von Menschen und Ideen und die Erfindung der Druckkunst (um 1440) einen Anteil haben. Zu den von diesen Entwicklungen geprägte Frühhumanisten nördlich der Alpen gehörten etwa auch der Einsiedler Abt Albrecht von Bonstetten und sein ihm in einem Briefwechsel verbundener Freundeskreis. Bekannter ist sicherlich Conrad Celtis, der zum deutschen «Erzhumanisten» wurde, und auch die heutigen Niederlande, England und Frankreich brachten grosse humanistische Persönlichkeiten wie Erasmus von Rotterdam, Thomas Morus oder Guillaume Budé hervor; für Osteuropa seien hier beispielshalber Janus Pannonius und Johannes Dantiscus genannt. Gerade im italienischen Humanismus gibt es Strömungen, die nicht nur auf das Vokabular und die Mythologie der Antike zurückgreifen, sondern auch in der von ihnen vertretenen Lebensphilosophie bewusst «heidnisch» auftreten und damit teilweise auch nördliche Humanisten beeinflussen (Celtis ist ein gutes Beispiel, während Erasmus sich solchen Tendenzen gegenüber recht reserviert zeigte). Eine bewusste Absage an das Christentum ist auch in diesen Strömungen (anders als bei den Libertins und Freidenkern der Aufklärungsepoche) in der Regel nicht intendiert.

Die zweite Periode lässt man für gewöhnlich mit Luthers Reformation beginnen, die besonders im Norden Europas ein religiöses Erdbeben sorgte und Mentalitätsänderungen nach sich zog und lässt sie gegen 1575 enden. Für die von diesen politischen und religiösen Vorgängen betroffenen Humanisten stellte sich die Frage ihrer eigenen Positionierung. Fand die Reformation unter ihnen einerseits begeisterte Anhänger wie die Deutschen Ulrich von Hutten oder Philipp Melanchthon, so verblieb ein Erasmus von Rotterdam, der durchaus einiges an der konkreten Erscheinung des vorreformatorischen Katholizismus auszusetzen gehabt hatte, beim alten Glauben, und ein Thomas Morus stieg für ihn sogar aufs Schafott. Der Protestantismus kannte anfangs durchaus scharf bildungsfeindliche Tendenzen (Karlstadt, Müntzer, die Täuferbewegung), insgesamt setzte sich aber eine protestantische Lesart des christlichen Humanismus durch, die den humanistischen Bildungsinhalten weiterhin eine zentrale Rolle im Bildungswesen sicherte. Im Luthertum geschah dies durch den Einfluss Luthers und das Wirken seines gelehrten Adlatus Philipp Melanchthon, und auch in der Schweiz überwog unter den Reformatoren das humanistische Element; der ehemalige Erasmus-Freund Ulrich Zwingli war mehr Humanist, als Luther es je gewesen ist. Die geistigen und politischen Wirren fanden natürlich reichen Niederschlag in der Literatur, doch auch in dieser Zeit entstanden Werke anderen Inhalts wie die Liebesdichtung des Niederländers Johannes Secundus.

Das letzte Viertel des 16. Jahrhunderts lässt sich vielleicht als schöne Abenddämmerung beschreiben. Die grosse Zeit des Humanismus ist vorbei, und seine Dynamik kommt zum Erliegen, die katholische Reform im Gefolge des Trienter Konzils macht sich nicht zuletzt im Wirken des Jesuitenordens und seiner Autoren spürbar, die Zahl der Prosawerke nimmt zu (Naturwissenschaften, Philosophie, Theologie, Geschichtsschreibung, Pädagogik), während die Dichtung weniger persönlich und akademischer wird. Wir erwähnen hier Autoren wie Justus Lipsius, Joseph Justus Scaliger und Isaac Casaubonus.

Auch nach dem Ende der Renaissance bleibt das Lateinische bis weit ins 18. Jahrhundert unangefochten die Sprache der Naturwissenschaft, der Theologie und der Philosophie. Im Bereich der Dichtung muss es zunehmend den Volkssprachen Platz machen, behielt aber auch hier noch lange eine wichtige Position.

Die Geschichte des Lateinischen in der Renaissance besitzt natürlich auch Verbindungspunkte zu der der europäischen Volkssprachen; diese entwickelten sich und gewannen langsam, aber stetig an Bedeutung; es gab auch Autoren, die ihre eigenen Werke in eine Volkssprache übersetzten, um ein Publikum ausserhalb der Lateinkundigen zu erreichen.

 

2. Die lateinische Literatur der Renaissance in der Schweiz

Und was ist jetzt bitteschön der genaue Platz der Schweiz in diesem geistesgeschichtlichen Panorama?

 

2.1. Forschungsstand

Die literarische Produktion der Schweizer Humanisten ist sowohl in der Prosa wie in der Versdichtung sehr umfangreich; sie ist bestrebt, die griechischen und lateinischen Werke der Antike wiederzubeleben, nachzuahmen und zu erneuern. Dieses literarische Erbe ist schon in einer gewissen Anzahl von Studien, Ausgaben und Übersetzungen zum Thema gemacht worden; gerade in den letzten Jahrzehnten sind – besonders zu Joachim Vadian, Heinrich Glarean und Conrad Gessner einige Monographien oder Sammelwerke erschienen, die den Forschungsstand in exzellenter Weise präsentieren. Man darf in diesem Zusammenhang auch einige jüngere Ausgaben und Übersetzungen zu Johannes Fabricius Montanus und Johannes Atrocianus hinweisen. Dennoch gibt es beklagenswerterweise keine Gesamtstudie zur lateinischen Literatur der Humanisten in der Schweiz, die alle relevanten (sprachlichen, literarischen, historischen kulturellen, religiösen etc.) Aspekte in den Blick nimmt. Wir wollen mit unserem Portal einen Beitrag dazu leisten, diese Lücke zu füllen.

 

2.2. Was heisst «Schweiz» im 16. Jahrhundert?

Wenn man vom «Schweizer» Humanismus spricht, so muss man mit folgender Frage beginnen: was bedeutet Schweizerische Eidgenossenschaft in der uns interessierenden Epoche, das heisst im 16. Jahrhundert? Wenn wir auf diesem Portal «Schweiz» sprechen, so denken wir dabei im Allgemeinen an das Gebiet der heutigen Schweiz. Doch 1501 zählte die Eidgenossenschaft (die den Namen «Schweiz» erst sehr viel später erhielt) erst elf Orte, 1513 dreizehn; ihre politische und kulturelle Einflusszone erstreckte sich indes auch über die zugewandten Orte (zum Beispiel die drei Bünde im heutigen Graubünden oder die Stadt St. Gallen) und die gemeinen Herrschaften (zum Beispiel den Thurgau), die später Teil des modernen Schweizer Staates werden sollten. Man muss auch hervorheben, dass die Alte Eidgenossenschaft – ganz abgesehen davon, dass es sich nicht wie heute um einen Bundesstaat, sondern eher um einen losen Staatenbund handelte – kein unabhängiges politisches Gebilde war. Sie gehörte formal weiterhin zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, auch wenn sie sich faktisch seit dem 15. Jahrhundert aus dem Reichsverbund mehr und mehr gelöst hatte und zunehmend als eigenständig wahrgenommen wurde; Zugehörigkeit zum Reich und Zugehörigkeit zur Eidgenossenschaft standen in keinerlei Konflikt miteinander. Erst 1648 erlangten die Eidgenossen im Westfälischen Frieden ihre formelle «Exemtion» aus dem Reichsverband.

 

2.3. Die lateinische Literatur der Schweizer Humanisten: historischer Kontext und zeitlicher Rahmen

2.3.1. Der Frühhumanismus

Das Gebiet der heutigen Schweiz war klein, arm und besass insgesamt weniger als eine Million Einwohner, die man in Italien für ein unwissendes Barbarenvolk hielt. Die Immigration auswärtiger Gelehrter war für sie von höchster Bedeutung; sie kamen aus Italien, aus Frankreich, aus dem Elsass und aus Franken. Langsam entwickelte sich so etwas wie eine eidgenössische Kulturgemeinschaft.

Im 15. Jahrhundert waren die geistigen Orientierungspunkte der «Schweiz» die Konzilsstädte Konstanz (1414-1418) und besonders Basel (1431-1449). Am letztgenannten Ort hielt sich der Humanist Enea Silvio Piccolomini 1432-1455 auf und stiftete nach seiner Besteigung des Papstthrons unter dem Namen Pius II. (1458) im Jahr 1460 die Basler Universität; diese wurde ein wichtiges geistiges Zentrum, das zum Beispiel den Hebraisten Johannes Reuchlin (1455-1522) prägte, der dort auch als Griechischprofessor wirkte.

Man muss gerade in der Anfangszeit des Humanismus die Bedeutung der Buchdrucker hervorheben, die keine «ungebildeten Handwerker», sondern gebildete Humanisten waren. Man darf hier besonders Johann Amerbach (1440/45-1513) und seine Söhne Bruno, Basilius und Bonifaz erwähnen, ferner auch Johann Froben (1460-1527); diese Männer trugen zur Verbreitung zahlreicher antiker und zeitgenössischer humanistischer Texte bei.

Im 15. Jahrhundert studierten mehr und mehr Schweizer im Ausland: Heidelberg, Tübingen, Freiburg i. B., Köln, Leipzig, Wien, Paris, Italien. Häufig folgen die Studenten ihren Lehrern: so eröffnet der Humanist Glarean Bursen in Basel, Paris und Freiburg i. Br. und bekleidete an der Universität der letztgenannten Stadt eine Lektur. Die Gelehrten reisten auch häufig und erweiterten ihr Beziehungsgeflecht durch umfangreiche Briefwechsel.

 

2.3.2. Die Reifezeit

«Die Schweiz lag im Schnittbereich des oberrheinischen, auf Westeuropa ausgerichteten, juristisch und theologisch geprägten Humanismus und des literarischen Humanismus um Maximilian I. im Donauraum.» Zahlreiche Schweizer Studenten (z. B. Arbogast Strub) begaben sich nach Wien, wo Joachim Vadian zwischen 1501 und 1518. lehrte. Andere folgten ab 1514 Glarean nach Basel, Paris und schliesslich nach Freiburg i. Br. Besonders die Lateinschulen in Schlettstadt und Rottweil (Baden-Württemberg) unterrichteten viele Schweizer.

Basel spielte weiterhin eine zentrale Rolle dank seiner Druckereien (man denke an die Ausgabe des griechischen Neuen Testaments von Erasmus mit seiner lateinischen Übersetzung oder an Utopia von Thomas Morus im Jahre 1518), aber auch dank Erasmus, der dort zwischen 1514 und seinem Todesjahr 1536 lange Zeiträume verbrachte und um sich einen Humanistenkreis scharte, zu dem nicht zuletzt die Amerbachs, Froben, Glarean und Johannes Oecolampadius gehörten (letzterer sollte 1529 in Basel die Reformation durchsetzen); und auch dank der Elsässer Beatus Rhenanus, Wolfgang Capito und Konrad Pellikan – die beiden letztgenannten wirkten wie Johannes Reuchlin besonders am Fortschritt der hebräischen Studien mit. Anhänger des Erasmus findet man auch in Freiburg i. Ü. (Peter Falck), Luzern (Johannes Xylotectus, Rudolph Ambühl, Oswald Myconius), Zug (Jodocus Müller/Molitor), Glarus (Aegidius Tschudi) und Schaffhausen (Johannes Adelphus).

 

2.3.3. Humanismus und Reformation

Viele Schweizer Humanisten neigten der Reformation zu, einer geistig-religiösen Bewegung, deren Tendenzen mit dem Renaissancehumanismus «nur sehr teilweise parallel liefen» und bisweilen in ganz andere Richtungen strebten. Immerhin war es manchen reformierten Humanisten, wie dem an der Berner Hohen Schule wirkenden Johannes Rhellicanus in seinem Gedicht über diese Schule, möglich, die humanistische «Wiedergeburt der Wissenschaften» in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Glaubenserneuerung zu stellen. Man muss in diesem Zusammenhang ausserdem klarerweise Zwingli nennen, der in Wien und Basel studiert hatte, aber auch Capito, Pellikan, Xylotectus, Myconius, Molitor… Eine Anzahl katholischer Humanisten verliess das protestantisch gewordene Basel; das gilt für Erasmus (der allerdings wiederkommen sollte), Beatus Rhenanus und Glarean; umgekehrt mussten protestantische Humanisten Luzern (Xylotectus, Myconius), Zug (Molitor) oder Freiburg (Pierre Girod/Cyro) verlassen. Im Gefolge der Reformation entwickelte sich auch in der Westschweiz eine humanistische Kultur; man kann hier Guillaume Farel, Pierre Viret, Johannes Calvin und Theodor von Beza nennen, die ihre humanistische Schulung in Frankreich erhalten hatten: «Anders als bei den deutschschweizerischen Reformatoren bedeutete aber in ihrer Biografie die Konversion einen klaren Bruch mit dem ‘weltlichen’ Humanismus und dem ‘frivolen’ Erasmus.»

Beginnend in Zürich, bildete sich reformierte Hochschulen heraus (zu erwähnen sind auch noch die Hohen Schulen von Bern, Lausanne und Genf), in dem humanistische Bildungsinhalte (neben den klassischen Sprachen Latein und Griechisch auch Hebräisch als Sprache des Alten Testaments) in ein strikt an den Bedürfnissen der reformierten Theologie und Seelsorge (und das heisst primär der Gewinnung von Pastorennachwuchs) orientiertes System eingebettet waren. Eine theologische Grundorientierung besassen in analoger Weise auch die von den Jesuiten im Geist der katholischen Reform betriebenen Bildungsstätten, die ihren Betrieb zum Ende des 16. Jahrhunderts hin aufnahmen, wobei Petrus Canisius eine wesentliche Rolle spielt. Gerade der Blick auf die Reformation und die katholische Reform macht deutlich, dass Renaissance und Humanismus nicht die einzigen diese Epoche bestimmenden Geistesströmungen sind.

 

2.3.4. Der Humanismus nach der konfessionellen Spaltung

Die konfessionelle Spaltung konnte in manchen Fällen Beziehungen zwischen Humanisten zum Erliegen bringen; dies wird etwa im Briefwechsel Glareans mit Zwingli und Myconius deutlich, der infolge ihrer unterschiedlichen religiösen Überzeugungen abbrach.

Auch in diesem Zeitraum unterhielten die Schweizer Humanisten rege Auslandsbeziehungen (ein sehr gutes Beispiel ist Conrad Gessner); Gelehrte aus Randregionen begaben sich in Orte wie Basel (der Walliser Thomas Platter d. Ä.) und Zürich, um dort zu unterrichten.

Glarean übte einen beträchtlichen Einfluss auf die katholische Schweiz aus; der protestantische Kreis um Vadian auf die Ostschweiz. In Graubünden darf man auf Simon Lemnius als einen Mann hinweisen, der gegenüber den religiösen Streitigkeiten seiner Zeit bemerkenswert indifferent zeigte (sein Konflikt mit Luther hatte keine religiösen Gründe). In Zürich, (Pierre Martyr Vermigli), Graubünden (Pietro Paolo Vergerio) und Basel (Celio Secondo Curione) liessen sich protestantische Glaubensflüchtlinge aus Italien nieder; nach Basel begab sich auch der für religiöse Toleranz eintretende Sebastian Castellio, nachdem er Genf hatte verlassen müssen. Zürich seinerseits beherbergte zeitweise reformierte Glaubensflüchtlinge aus England, bis sich dort unter Elisabeth I. endgültig die Reformation durchsetzte; daraus resultierten wichtiger Beziehungen (so widmete Heinrich Bullinger seine Predigtsammlung Sermonum Decades hochrangigen Engländern). 1577 eröffneten die Jesuiten in Luzern ihr erstes Kolleg auf schweizerischem Boden mit angeschlossener höherer Schule; die katholische Schweiz begann derart, ihr Bildungsdefizite auszugleichen.

 

2.4. Welche zeitlichen Grenzen hat das Portal Humanistica Helvetica?

Wir haben uns entschieden, die auf diesem Portal behandelte Periode grundsätzlich (unter Vorbehalt gelegentlicher Ausnahmen) auf die Jahre zwischen 1510 und 1580 zu beschränken, die gleichsam die Reifezeit des Schweizer Humanismus darstellen, der sich aus dem nordeuropäischen christlichen Humanismus heraus entwickelte, wobei dessen erasmische Ausprägung einen besonderen Einfluss hatte. Dieser Zeitraum ist auch deshalb interessant, weil in ihn die Reformation mit den durch sie ausgelösten zahlreichen politischen und intellektuellen Auseinandersetzungen fällt, aus denen letztlich zwei klar unterschiedene Glaubenskulturen entstanden. Religiöse Fragen prägen daher die Literatur dieser Zeit in ganz besonderem Masse (katholisch-reformierte Kontroversen, biblische Studien und die dafür erforderlichen Sprachkenntnisse); auch die schon wesentlich ältere Frage, ob und unter welchen Bedingungen es für Christen überhaupt legitim ist, sich mit heidnischen Autoren zu beschäftigen, wird weiterhin gestellt.

 

2.5. Was ist die geographische Eingrenzung?

Was die Geographie angeht, so haben wir uns für dieses Projekt entschieden, uns auf die alemannische Schweiz zu beschränken (mit einem Schwerpunkt auf Basel, Bern, Zürich, St. Gallen und Chur), deren literarische Produktion in all ihrem zahlenmässigem Reichtum und ihrer Mannigfaltigkeit zugleich gewisse einheitliche Merkmale aufweist. Wir lassen die Romandie beiseite, in der die reformierten religiösen Autoritäten noch stärkeren Druck ausübten, Autoritäten, deren Verhältnis zum Humanismus tendenziell wesentlich zwiespältiger war als in der Deutschschweiz (man denke vor allem an Calvin); ihre Betrachtung erfordert würde teilweise andere Analyseraster verlangen. Wir gehen auch nicht in besonderer Weise auf die Tessiner Humanisten ein, deren Tätigkeitsgebiet in den meisten Fällen in Italien lag; auch für sie bedürfte es anderer Analyseraster.

Wir wollen hier jedoch kurz auf zwei Regionen eingehen, die heute mehrheitlich der Romandie angehören, in der uns hier interessierenden Epoche aber aufgrund ihrer politischen und kulturellen Ausrichtung primär als Teil der deutschsprachigen Sphäre zu betrachten sind: Freiburg, seit 1481 Ort der (in den Augen der Zeitgenossen als deutschsprachig definierten) Eidgenossenschaft und das Wallis. Beide konnten sich gegen das Vordringen der Reformation zur Wehr setzen (in Freiburg gelang dies allerdings wesentlich schneller). Diese Gebiete gehörten ursprünglich nicht zu den Zentren der humanistischen Bewegung, was dazu beigetragen haben dürfte, dass der neue Glauben sich ihnen nicht zur Herrschaft aufschwingen konnte; nach der Reformation dauerte es einige Jahrzehnte, bis in diesen beiden Gebieten ein an den humanistischen Bildungsinhalten orientiertes funktionierendes höheres Bildungssystem entstand. In Freiburg ist dieser Fortschritt in Bildungsfragen der katholischen Reform und ganz besonders der Ankunft der Jesuiten (1582) und ihrer Kolleggründung zu verdanken. Im Wallis dauerte es noch länger; hier wurden die Jesuiten erst 1662 nach Brig und 1734 nach Sitten gerufen.

 

2.6. Gibt es einen Schweizer Humanismus? Was ist ein Schweizer Humanist?

Eine andere Frage ist, ob man überhaupt von einem schweizerischen Humanismus sprechen kann. Denn ist es nicht eines der wesentlichen Ziele des nordeuropäischen Humanismus des 16. Jahrhunderts in seiner Ausprägung durch Erasmus, den sogenannten Humanistenfürsten oder Lehrer Europas, gewesen, nationale Interessen und Partikularismen zu überwinden und eine Gelehrtenrepublik ohne hindernde Grenzen zu schaffen, die alle Intellektuellen in der Verteidigung des antiken griechischen und lateinischen Erbes vereint? Man muss allerdings konstatieren, dass das humanistische «Weltbürger»-Ideal häufig mit, modern gesprochen, nationalistischen Tendenzen im Widerstreit lag, die sich natürlich auch aus den aktuellen politischen Umständen ergaben – man denke hier zum Beispiel an Conrad Celtis in Deutschland. In Italien war diese Tendenz von Anfang an stark gewesen; hier grenzte man sich bewusst von den «Barbaren» in den übrigen Gegenden Europas (wie Frankreich oder Deutschland) ab. Für die Entwicklung nationalistischer Tendenzen bei den deutschen Humanisten spielte besonders die Germania des Tacitus eine Rolle, eine ethnographische Schrift, deren relativ positive Darstellung der redlichen, sittenstrengen und mutigen Germanen man gerne auf sich selbst bezog (in Abgrenzung zu «welscher» Dekadenz und Unmoral). Unter den Schweizer Humanisten dagegen kommt, in gewisser Weise spiegelbildlich dazu, im 16. Jahrhundert – nicht zuletzt durch die Chronisten Heinrich Brennwald (1478-1551) und Aegidius Tschudi (1505-1572) propagiert – die Idee einer Abkunft von den heldenhaften Helvetiern auf, deren Kampfgeist Caesar im ersten Buch seines Bellum Gallicum gewürdigt hatte, was aber keine grundsätzliche Abkehr von einem kulturell und sprachlich «deutschen» Selbstverständnis der Eidgenossen bedeutete (man betrachte als Beispieltexte für diese Abstammungstheorie auf diesem Portal etwa Glareans Gedicht Über die Ruinen von Avenches, der alten Hauptstadt der Helvetier, oder indirekt seine Helvetiae Descriptio, die in ihrem Titel die antike Bezeichnung auf die Eidgenossenschaft überträgt). Glarean legte im Übrigen grossen Wert auf die Feststellung, dass er und seine Landsleute gerade nicht von den Germanen, sondern von den Kelten abstammten. Daneben existierten auch ältere Theorien (ab ca. 1470), die die Herkunft der Bevölkerung einzelner schweizerischer Regionen in der Völkerwanderung verorteten: die Schwyzer seien Nachfahren von Schweden, «die Urner und Unterwaldner von Goten, Römern und Hunnen»; diese Theorien haben direkt Eingang gefunden in Glareans Helvetiae Descriptio (unsere Auswahl daraus enthält nur das Gedicht auf Uri, in dem die Abkunft der Urner von den Hunnen angesprochen wird, und das über Schwyz, in dem die Abstammung der Schwyzer von den Goten, das heisst den Schweden, Erwähnung findet; an anderer Stelle in seinem Gedicht erwähnt Glarean aber auch den römischen Ursprung der Unterwaldner).

Bei den Schweizer Humanisten lässt sich eine gewisse Spannung, oder besser: Koexistenz, zwischen Patriotismus und Kosmopolitismus feststellen. So ist es möglich, das Lob des Kaisers aus dem Hause Habsburg (bekanntlich nicht selten ein Gegner der sich formierenden Eidgenossenschaft) mit dem Lobpreis schweizerischer Tugenden zu verbinden, wie dies Glarean 1512 in seinem Panegyrikus tut.

Wenn man es für legitim hält, von einem schweizerischen Humanismus zu sprechen (und wer würde es andererseits etwa für illegitim halten, von einem französischen oder einem deutschen Humanismus zu sprechen?), was macht dann einen Autor zu einem schweizerischen Humanisten? Genügt es für diese Bezeichnung, einige Jahre auf dem Gebiet der Alten Eidgenossenschaft oder ihrer Einflusszonen verbracht zu haben? Dann wäre auch Erasmus ein schweizerischer Humanist, oder auch Sebastian Castellio – bei dem letztgenannten macht die Frage zugegebenermassen etwas mehr Sinn.

Der Einfachheit halber und um allzu strikte Kriterien zu vermeiden, nehmen wir folgende Definition vor: ein schweizerischer Humanist ist zum einen jemand, der auf dem Gebiet der heutigen Schweiz geboren ist und vor allem in diesem Gebiet tätig war (das gilt beispielsweise für Conrad Gessner); er kann aber auch jemand sein, der aus unterschiedlichen Gründen (Studium, Beruf) seine Heimat verliess (zum Beispiel Heinrich Glarean), aber dennoch eine enge Beziehung zu ihr aufrechterhielt; es kann sich aber auch um jemanden handeln, der aus dem Ausland stammt, aber seine gesamte Laufbahn oder zumindest den Grossteil davon auf dem Gebiet der heutigen Schweiz verbracht hat und auf die eine oder andere Weise zur Bildung einer helvetischen Identität beigetragen oder sich für die Schweiz und ihre Eigenheiten näher interessiert hat (das ist etwa bei Johannes Fabricius Montanus der Fall). Die zeitgenössischen Schweizer humanistischen Intellektuellen zeigten Bereitschaft, ausländische Kollegen freundlich aufzunehmen und zu integrieren.

 

2.7. Was sind die spezifischen Eigenschaften des Schweizer Humanismus?

Die Frage, ob ein «schweizerischer Humanismus» existiert oder wie man ihn definieren kann, ist bislang in der Forschung kaum behandelt worden. Im Jahr 1969 bemerkte Gottfried Locher, es habe über eine lange Zeitspanne nicht nur einen «Humanismus in der Schweiz»), sondern auch einen schweizerischen Humanismus mit besonderen Eigentümlichkeiten und genauen Zielen (bzw. einem Programm) gegeben. Für die Autoren, die zu dieser Bewegung gehören, ist die Schweiz die Wiege der Freiheit, sie ist der Schauplatz einer translatio imperii sowie einer translatio studii, der sich nach aussen, gegenüber den anderen Völkern, noch besser bekannt machen muss. Mit der Translationsorstellung übernahmen Schweizer Humanisten ein Konzept, das deutsche Humanisten wie Conrad Celtis schon zuvor für die deutsche Nation im Ganzen in Anspruch genommen hatten.

Wie Locher selbst bemerkt, hatte schon Hans von Greyerz zu Beginn seines Buches über den Berner Humanisten Henricus Lupulus (Wölfli) die Frage gestellt: «Gibt es einen schweizerischen Humanismus?». Greyerz zeigt, dass es ausser dem «Basler Humanismus», an dessen Existenz niemand zweifeln kann, in der damaligen Schweiz noch mehrere andere Humanistenkreise gab – Greyerz spricht deshalb seinerseits von einem Berner Humanistenkreis und einem seiner wichtigsten Vertreter, Lupulus, dessen Leben und Werk er detailliert vorstellt. Einige Jahre später griff Werner Näf explizit die Fragestellung von Greyerz auf und betitelte einen Artikel über die Helvetiae descriptio Glareans (einen der Basistexte für diese besondere Spielart des Patriotismus) mit «Schweizerischer Humanismus». Nachdem er darin Basel und Wien als die beiden grossen geistigen Pole im Mitteleuropa jener Epoche bestimmt hat, benennt er als die drei schweizerischen Zentren des Humanismus erwartungsgemäss Basel, aber auch Zürich und St. Gallen. Näf weist nach, dass im Zeitraum 1510-1520 die schweizerische Eidgenossenschaft sich vom Ausland unterschied und gemeinsame Werte kultivierte. Und er gibt als Beispiel eben genau Glareans Helvetiae descriptio an sowie den Kommentar, den Myconius zu diesem Werk verfasst hatte, und das Geleitgedicht des Vadian zu dem letztgenannten; die patriotischen Absichten dieser Texte sind unübersehbar.

In einem Artikel über die Charakteristika des Schweizer Humanismus, den sie anhand der Beispiele des Johannes Rhellicanus und des Leonhard Hospinian untersucht, zählt Barbara Mahlmann-Bauer abschliessend neun «Eigenschaften Schweizerischer Humanisten» auf, die freilich nicht in jedem Fall spezifisch schweizerisch sind – inwiefern diese Eigenschaften «schweizerisch» sind, wird von ihr auch nicht explizit thematisiert. Sie nennt folgende Punkte: die Absicht der Schweizer Humanisten, dem Vorurteil entgegenzutreten, bei den Eidgenossen handele es sich um Barbaren; dieses Bestreben wird zum Geburtshelfer einer patriotischen Literatur, die den Lobpreis des Gebirges und der Tugenden der Einwohner der Schweiz integriert (erstes Charakteristikum); die Tatsache, dass viele schweizerische Dichter und Schriftsteller religiöse oder bürgerliche Ämter bekleideten (zweites Charakteristikum); die zentrale Rolle religiöser Fragestellungen, denen zahlreiche Schriften gewidmet werden (drittes bis fünftes sowie siebentes und achtes Charakteristikum); ein bewusst auch Texte abseits der Bibel einschliessendes Studium antiker (paganer) Texte (sechstes Charakteristikum); und schliesslich ein gesteigertes Empfinden für die Bedeutung der Muttersprache, die es neben den drei biblischen Sprachen zu pflegen galt (neuntes Charakteristikum). Es wird zu sehen sein, inwiefern diese «Eigenschaften» wirklich als spezifische Eigenschaften des schweizerischen Humanismus oder wenigstens als ein wichtiges Merkmal dieser Bewegung angesehen werden können.

Was soll man also abschliessend sagen?

Gibt es in der literarischen Produktion der Schweizer bestimmte Spezifika, wiederkehrende Themen und originelle Akzente? Um dieser Frage nachzugehen, nehmen wir zwei besondere Charakteristika der Schweiz jener Epoche in den Blick: einerseits ihre besondere geographische Situation als Alpengebiet, andererseits ihre politische Situation. Diese beiden Elemente tragen dazu bei, dass die Schweizer Humanisten ein starkes patriotisches Empfinden entwickeln, das in ihrer Literatur Widerhall findet.

Gehen wir zunächst auf die geographische Situation ein. Infolge der Lage der Eidgenossenschaft inmitten der Alpen interessierten sich zahlreiche schweizerische Schriftsteller für das Gebirge, seine Botanik, allgemein gesprochen für die Schönheiten der Natur; das sind sozusagen «romantische» Themen avant la lettre (denn grundsätzlich entstand ein Empfinden für die imposante Schönheit der Bergwelt erst im 18. Jahrhundert). Conrad Gessner berichtet zum Beispiel von seiner Besteigung des Pilatus, eines mehr als 2000 Meter hohen Berges über Luzern. Er veröffentlichte auch eine Abhandlung über Milchprodukte und verfasste mehrere Schriften zur Botanik der Alpen. Johannes Fabricius Montanus stimmt ein Loblied auf Bergwanderungen an (er berichtet nicht zuletzt von der zum Glück ohne negative Folgen bleibende Begegnung eines seiner Freunde mit einer Bärin und ihren beiden Jungen). Man könnte diese Beispiele fast nach Belieben vermehren. Den Mut, die Rauheit, die Härte und das Durchhaltevermögen, die die schweizerischen Humanisten ihren Landsleuten zuschreiben, führen sie darauf zurück, dass diese in einer feindseligen und gefährlichen natürlichen Umgebung geboren worden sind.

Als zweites sei hier die politische Situation betrachtet. Die kleine Eidgenossenschaft (die in dem uns interessierenden Zeitraum aus dreizehn Orten bestand) und ihr Einflussbereich nehmen infolge ihrer militärischen Erfolge gegen Burgunder und Habsburger, mit ihrer praktisch weitgehenden Loskoppelung vom Reich und ihren unleugbaren zahlreichen demokratischen Elementen (ohne diese übertreiben zu wollen) innerhalb des von Fürsten und Monarchen geprägten Europas jener Epoche einen besonderen Platz ein. Schon der Deutsche Conrad Celtis würdigt die Helvetier in seinen Amores (3,13,11-12) als den einzigen Germanenstamm, der ganz in Freiheit lebe und sein Recht und seine Gesetze mit Waffengewalt zu schützen wisse. Schweizer Humanisten wie Vadian, Glarean, Montanus, Gessner und Gwalther entwickeln ein spezifisch helvetisches Nationalgefühl und verfassen in Prosa und Vers patriotische Literatur, wobei sie besonders auf die Gattung des Epos zurückgreifen und Texte über die Grosstaten der eidgenössischen Gründungsheroen verfassen, besonders über Wilhelm Tell, den Freiheitshelden par excellence; man findet zahlreiche Texte über die Geschichte und die Kämpfe der Eidgenossen, aber auch über die einer einzigen Stadt oder einer bestimmten Region. Man erinnert sich sehr gerne an die Erfolge der Eidgenossen, wie ihren Sieg über die Habsburger in der Schlacht von Näfels. Viele Texte kritisieren die Tyrannei, worin die schweizerischen Humanisten übrigens mit ihren Kollegen im Rest Europas übereinstimmen. Diese Art von Patriotismus findet man auch bei Bündnispartnern der Eidgenossen wie dem Freistaat der drei Bünde; Lemnius, ein Bündner Patriot und Freund der Eidgenossen, schrieb ein Epos über den Schwabenkrieg, in dem die Eidgenossen und ihre Verbündeten, darunter auch die Bündner, den Habsburgern gegenüberstanden. In diesem Zusammenhang muss man auch auf die Darstellung «religiöser» Helden wie Niklaus von Flüe hinweisen, dessen entscheidenden Beitrag zur inneren Einheit der Eidgenossenschaft gerne hervorgehoben werden.

Man muss schliesslich hervorheben, dass bei den schweizerischen Humanisten (anders als bei der Mehrzahl der Humanisten in anderen Ländern) das Entstehen eines starken Nationalgefühls mit einem persönlichen politischen Engagement einhergeht; es geht ihnen nicht nur um die theoretische Verteidigung der neuen humanistischen Weltsicht, sondern auch darum, selbst an der politischen Debatte teilzunehmen. In Zürich kann man beispielsweise an Ulrich Zwingli denken, den sein Biograph Oswald Myconius als einen Humanisten präsentiert, der nicht nur seine intellektuellen Fähigkeiten, sondern auch sein praktisches Handeln in den Dienst seiner Stadt stellt; deshalb stellt der Reformator sich gegen die von auswärtigen Mächten gezahlten Pensionen und das Söldnerwesen; er geht sogar so weit, selbst als Fähnrich an der zweiten Kappelerschlacht teilzunehmen, in der er das Leben lassen sollte. Er steht in dieser Hinsicht in einer gedanklichen Linie mit Männern wie Thomas Morus, der in seiner Utopie verkündet, wie wichtig es sei, dass man sich als Humanist an der politischen Debatte beteilige. Im schweizerischen Kontext kann man noch auf das Beispiel Heinrich Glareans hinweisen, der in seiner Korrespondenz mit Aegidius Tschudi konkret an den politischen und religiösen Verhältnissen seiner Heimat Glarus Anteil nimmt. Eine vertiefende Studie zu diesem Themenkomplex muss noch geschrieben werden.

Es fällt auf, in welchem Ausmass schweizerische Humanisten sich mit religiösen Fragen beschäftigen. Bei vielen von ihnen gehen ihre humanistischen Interessen Hand in Hand mit einem theologischen und pastoralen Engagement; es handelt sich hierbei ohne Zweifel um ein wichtiges (wenngleich nicht exklusives) Merkmal des schweizerischen Humanismus. Zwei bedeutende Humanisten der deutschsprachigen Schweiz, Ulrich Zwingli und Joachim Vadian, gehören ohne Zweifel zu den grossen Protagonisten der Reformationsbewegung (und dass Zwingli mittels des Zwinglianismus auch international Spuren hinterlassen hat, steht ausser Zweifel).

In sprachlicher und stilistischer Hinsicht ist kein Unterschied zwischen den Schweizer Schriftstellern und beispielsweise ihren deutschen Kollegen zu erkennen. Der Grund dafür liegt darin, dass beide auf ein gemeinsames Vorbild (die klassischen Autoren) zurückgriffen. Beide Autorengruppen sind in ihrer Grammatik und Syntax manchmal davon ihrer Muttersprache oder dem scholastischen bzw. mittelalterlichen Latein beeinflusst. Die auf diesem Portal untersuchten Texte erlauben einen klareren Blick auf ihre ars scribendi und machen individuelle Eigenheiten in Sprache und Stil deutlich. Wir betrachten auch die einzelnen literarischen Gattungen, die die schweizerischen Humanisten ebenso wie ihre Sprache der Antike entlehnten, und fragen uns, ob sich bei ihnen insgesamt Vorlieben für bestimmte Gattungen feststellen lassen.

Unser Portal geht allen oben erwähnten Fragen nach, indem es die verschiedenen Themen und literarischen Gattungen betrachtet, und es nimmt dabei auch viele verschiedene Autoren in den Blick; sechs davon werden in ganz besonderer Weise als emblematische bzw. repräsentative Gestalten des Schweizer Humanismus herausgestellt: Glarean, Vadian, Lemnius, Gessner, Fabricius Montanus und Gwalther.

 

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