Poetische Autobiographie

Heinrich Glarean

Einführung: Clemens Schlip (traduction française: Kevin Bovier et David Amherdt). Version: 10.02.2023.


Entstehungszeitraum: vermutlich hauptsächlich in den 1530ern (jedenfalls lange vor 1559).

Kopie: Bayerische Staatsbibliothek Clm 28325, fol. 67ro-69ro, hier fol. 67ro-68ro.

Ausgabe:H. Keller/K. Müller (Hgg.), Glarean: Das Epos vom Heldenkampf bei Näfels und andere bisher ungedruckte Gedichte [Jahrbuch des Historischen Vereins des Kantons Glarus 53 (1949)], 154-167, hier: 154-155 und 158-161 (Text und deutsche Übersetzung von J. Müller).

Metrum: Hexameter.

 

Glarean leitete seine Livius-Vorlesung an der Universität von Freiburg im Breisgau 1559 gegen Ende seiner Freiburger Amtstätigkeit (1529-1560) mit einem poetischen Überblick über seine eigene Biographie ein, aus dem hier einige Abschnitte wiedergegeben werden. Ein solcher Gedichtvortrag steht in Glareans Lehrbetrieb nicht vereinzelt dar. Mit dem Datum des Vortrags ist ein terminus ante quem für die Abfassung gegeben, der über die Entstehungszeit des Gedichts als ganzem oder auch der einzelnen Gedichtpassagen jedoch nichts aussagt. Es gibt sogar Hinweise, dass das Gedicht in Glareans ersten Freiburger Jahren (das heisst in den 1530ern) entstand: so etwa die Kennzeichnung Kaiser Karls und seines Bruders Ferdinand als junge Männer (V. 111-112) oder Hinweise auf den Türkenkonflikt, die auf die Zeit zwischen 1535 und 1538 deuten.

Als poetische Autobiographie lässt sich das Gedicht in gewisser Weise der in der frühneuzeitlichen neulateinischen Dichtung verbreiten Gattung der epistulae ad posteritatem (Nachrichten an die Nachwelt) zurechnen. Indem Glarean in V. 10 einen intertextuellen Hinweis auf Ovids autobiographische Elegie Tristien 4,10 setzt, gibt er zu erkennen, dass er als gelehrter Dichter und Humanist mit den antiken Vorbildern dieser Gattung vertraut ist.

Insgesamt umfasst das Gedicht 186 Verse. Seine Grobgliederung ist folgende:

1-9: Proömium; Anklage der Fortuna durch den Dichter

10-48: Kölnaufenthalt des Dichters:

10-14: Ankunft in Köln

15-30: Lob Kölns und seiner Heiligen

31-35: Glarean sucht Unterricht in Köln

36-48: Dichterkrönung durch Kaiser Maximilian

49-61: Italien- und erster Baselaufenthalt

62-79: Parisaufenthalt (genauere Gliederung unten)

80-100: zweiter Baselaufenthalt des Dichters (mit Invektive gegen Oekolampad)

101-104: Lob Freiburgs im Breisgau (für katholische Gesinnung)

105-165: Lob der Brüder Kaiser Karl V. und König Ferdinand

105-120: Lob des Brüderpaars

121-128: Lob Karls

129-165: Lob Ferdinands

166-186: Segenswünsche für König Ferdinand

Diese Struktur macht augenfällig, dass das Gedicht neben seinem autobiographischen Gehalt auch noch einem weiteren Zwecke dient: dem Herrscherlob. Die letzten 81 Verse, mehr als ein Drittel, sind dem Preis Karls V. und seines Bruders Ferdinand gewidmet. Dass der Löwenanteil davon dem jüngeren Bruder Ferdinand – Glareans unmittelbarem Landesherrn – zufällt, ist bemerkenswert. Man kann darin vielleicht die geistige Nähe Glareans zu Erasmus von Rotterdam erkennen, der seinerseits Ferdinand in charakterlicher Hinsicht sehr hoch einschätzte (und wesentlich höher als seinen Bruder).

Die aus dem Gedicht hier aufgenommenen Passagen gliedern sich wie folgt:

1-9: Proömium; Anklage der Fortuna durch den Dichter

10-15: Kölnaufenthalt des Dichters

[...]

53-61: erster Baselaufenthalt des Dichters

53-56: Lob des damaligen Basels

57-61: Lob des damals in Basel weilenden Erasmus

62-79: Parisaufenthalt des Dichters

62-63: Reiseentschluss

64-68: Namensetymologie und Ortsbeschreibung von Paris

69-78a: Lobpreis des intellektuellen Lebens in Paris

78a-79: Dauer seines Parisaufenthalts

80-96: zweiter Baselaufenthalt des Dichters

80-83: Einführung; Basel ist lutherisch geworden

84-87: Dauer seines zweiten Baselaufenthalts

88-95: Invektive gegen den Reformator Oekolampad

Im Proömium präsentiert der Dichter sich (und letztlich auch die ganze Menschheit) als gebeuteltes Opfer einer mittels einschlägiger literarischer Topoi als unbeständig und unzuverlässigen gekennzeichneten Fortuna. Die einzelnen Stationen seiner Jugendjahre – Köln (Aufenthalt 1507-1514), Basel (erster Aufenthalt 1514-1517; mit Unterbrechung im Jahr 1515) und vor allem Paris (1517-1522) werden sehr positiv dargestellt. An Basel hebt er die dort betriebenen Bibelstudien hervor; besonders aber gedenkt er der für seinen intellektuellen Werdegang zentralen Begegnung mit Erasmus von Rotterdam, der dort von August 1514 bis Mai 1516 lebte. Hebt er in Basel derart den Namen eines einzigen Gelehrten hervor, so zählt er bei seiner Parisbeschreibung gleichsam eine ganze intellektuelle Phalanx auf (V. 71-74).

Umso düsterer wirkt im Kontrast dazu das Resümee seines zweiten Baselaufenthalts, welches zugleich ein entschieden katholisches und antireformatorisches Bekenntnis des Dichters ist. Besonders ausgeprägt ist Glareans radikale Ablehnung des Reformators Johannes Oekolampad, der in Basel sein unmittelbarer Nachbar gewesen war. Bei seiner Invektive gegen den dämonisch überzeichneten Oekolampad greift er als Vergleichsmasstab auf ein Ungeheuer der antiken Mythologie zurück. In V. 91 (Monstrum horrendum, informe, ingens, cui...) zitiert er eine bekannte Passage aus der Aeneis des Vergil (Aen. 3, 658ff.), in welcher der Zyklop Polyphem geschildert wird; Glarean fügt sie in seine schmähende Darstellung des Oekolampad ein. Dieser wird so gleichsam zu einem zweiten Polyphem. Von daher erklärt sich auch die auf den ersten Blick irritierende Benennung der Stadt Basel als Galatea (V. 53; 81). Glarean evoziert damit vor dem geistigen Auge des Lesers den antiken Mythos von der schönen Nymphe Galatea, in die sich der hässliche Zyklop Polyphem verliebte. In der Glarean und seinen Zeitgenossen wohl am meisten präsenten poetischen Bearbeitung dieser Geschichte in den Metamorphosen des Ovid im Rahmen der Erzählung von «Acis und Galatea» (met. 13, 740-897) erweist sich der verliebte Zyklop einerseits als lächerlich, andererseits als gefährlich, da er Acis, den Liebhaber der Galatea und somit seinen Rivalen, tötet (Galatea verwandelt den Geliebten daraufhin in einen Fluss). Versucht man diese Anspielungen auszudeuten, so will Glarean wohl deutlich machen, dass Basel gleichsam in die Hände eines unwürdigen Liebhabers (Oekolampads) gefallen ist. Bei seiner Polemik gegen Oekolampad scheut Glarean auch vor Obszönität nicht zurück (V. 95). Hier tut sich der konfessionelle Polemiker Glarean kund, der zumindest einmal in den ersten Jahren seiner Freiburger Amtszeit (1529-1560) vom Universitätssenat aufgefordert worden war, sich streitbarer Äusserungen zu enthalten. Der alte Glarean hat im Jahr 1559 auf solche Empfindlichkeiten offensichtlich keine Rücksicht genommen.

 

Bibliographie

Amherdt, D., «La postérité d’Ovide: Tristes 4,10 et l’autobiographie en vers de l’humaniste Johannes Fabricius Montanus», International Journal of the Classical Tradition 12 (2006), 483-506.

Amherdt, D., «Glaréan et Charles Quint: un éloge si peu chaleureux!», in: M. Laureys u. a. (Hgg.), Carolus Quintus. Kaiser Karl V. in der neulateinischen Literatur, Tübingen, Narr, 2022, 127-142.

Fritzsche, O. F., Glarean. Sein Leben und seine Schriften, Frauenfeld, Huber, 1890.

Müller, E. F. J., «Einleitung», in: H. Keller/K. Müller (Hgg.), Glarean: das Epos vom Heldenkampf bei Näfels und andere bisher ungedruckte Gedichte, Glarus, Baeschlin, 5-57.