Autobiographie in Versen
Johannes Fabricius Montanus
Einführung: David Amherdt (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 10.02.2023.
Entstehungszeitraum: terminus ad quem ist der 5. November 1565 (dieses Datum steht am Ende des Textes).
Ausgaben: Amherdt (2018), 304-321 (mit einer Studie und frz. Übs.); Enenkel (2008), 613-618; Döpp (1998), 26-30; Ulrich (1724), 396-402.
Deutsche Übersetzung: Vulpinus (1894), 20-25.
Metrum: elegische Distichen.
Ist es überhaupt eine Autobiographie? Jedenfalls ist dieses Gedicht, das gewissermassen das geistliche Testament des Fabricius Montanus darstellt, eine nur sehr unvollständige Autobiographie. Sie übergeht eine grosse Anzahl von Ereignissen in seinem Leben einfach mit Schweigen (z. B. seine Studienaufenthalte in Basel und Strassburg), beschäftigt sich vor allem mit seinen Ausbildungsjahren (1527-1547) und gesteht seinem Erwachsenenleben nur 49 Verse zu, obwohl es sehr reich an Ereignissen war, die einen Biographen interessieren könnten. Doch das Ziel des Montanus besteht nicht so sehr darin, vollständige Informationen über seinen Werdegang, seine Werke und sein Leben zu liefern, als vielmehr darin, über seine Berufung zum Dichter zu sprechen; sie ist das zentrale Thema dieser Verse. Statt (wie in der Prosaautobiograpie) seine akademischen Lehrer aufzuzählen, listet er seine Lehrer in der Dichtkunst: darunter natürlich Lotichius, aber auch Ovid, Tibull, Horaz und Vergil.
Als Modell dient ihm das Gedicht 4,10 aus den Tristia des Ovid, in dem es um die Berufung und den heiligen Charakter des Dichters geht; der römische Poet versucht darin, sich das Wohlwollen künftiger Leser zu gewinnen, das ihm Unsterblichkeit sichern wird. Unser Gedicht richtet sich ebenfalls an die Nachwelt, und auch es dreht sich um die Berufung des Dichters. Doch für Montanus, der sich als Nachahmer der Alten und vielleicht sogar als ihr Rivale präsentiert, ist es das Leben in Christus, das ihm Unsterblichkeit gewährt, und es ist Gott, von dem der Dichter, dessen Existenz durch die Vorsehung bewahrt wird (vgl. z. B. V. 99-100), seine Inspiration erhält. Wenn Montanus unzweifelhaft weder den Ehrgeiz hat, mit den Alten zu rivalisieren, noch die dafür erforderlichen Mittel besitzt, so will er doch wenigstens die Überlegenheit des christlich-humanistischen Gedankens erweisen. Und während Ovid Verse verfasste, um sich selbst in seinem Exil zu trösten, so verkündet Montanus, der das Gleiche inmitten des Gebirges tut, dem Leser, dass der wahre Trost, das Ende aller irdischen Übel (dabei ist an die Trennung von seiner elsässischen Heimat bzw. von Zürich, den Tod seiner Anverwandten und die religiösen und politischen Kämpfe zu denken), sich im Himmel findet; mit dessen Beschreibung endet das Gedicht des protestantischen Pastors, dessen ganzes Leben der Aufgabe gewidmet war, die ihm anvertraute Herde zu Christus zu führen (V. 210).
Die Gliederung des Gedichts ist folgende:
1-6 Prooemium: Montanus wendet sich den Leser und teilt ihm mit, dass er von seinem Leben erzählen wird
7-36 Heimat, Geburt, Familie
7-26 Seine Heimat ist das reiche Bergheim im Elsass, dem Land seines Onkels Leo Jud, des Beatus Rhenanus und des Konrad Pellikan.
27-30 Er wird im Jahr der Eroberung Roms durch Karl V. geboren.
31-36 Sein Vater war ein geachteter Mann; seine beiden Brüder sind schon lange tot.
37-168 Ausbildung und Studien
37-76 Mit sieben Jahren kommt er nach Zürich, einer Stadt, an die er voll Dankbarkeit und im Tonfall einer Eloge das Wort richtet; der Abschied von seiner Mutter ist herzzerreissend.
77-84 Er wird von Leo Jud in den Musendienst eingeweiht; dessen Tod nimmt ihn sehr mit.
85-102 Er geht mehr schlecht als recht in Zürich seinen Studien nach; Lobpreis des Wohlwollens, das ihm seine Zürcher Lehrer erweisen; Reflexion über Gottes Vorsehung, die einen Menschen niederschlägt, um ihn dann um so besser wiederaufrichten zu können; man betraut ihn mit Aufgaben im Unterricht der Jugend.
103-128 Er bricht für einen Studienaufenthalt nach Marburg auf, wo Petrus Lotichius ihn in die Dichtkunst einweiht; Reflexion über seine Nachahmung der Alten, die hinter ihrem Vorbild zurückbleibt.
129-134 In Deutschland bricht Krieg aus, was den Musen nicht gut tut.
135-168 Trotz dieses Konflikts reist er in Begleitung eines Freundes in Deutschland umher und begibt sich nach Wittenberg, um Melanchthon zu sehen; er kann sich sogar mit ihm unterhalten; nach einigen kriegsbedingten Umwegen kommt er nach Zürich zurück.
169-218 Sein Leben in Zürich und Chur
169-170 Er wird den Rest seines Lebens nur kurz erwähnen.
171-174 Er wirkt als Lehrer und Pastor in Zürich.
173-188 Seine Aufgaben setze ihm schwer zu, doch er findet Trost in seiner Ehe; allerdings verliert er schon bald seine Frau, die im Kindsbett stirbt, und wird von Trauer überwältigt.
189-200 Er heiratet die Tochter des Rudolf Collinus, die ihm zwölf Kinder gebärt, von denen nur drei überleben.
201-201 Er wird in aller Kürze über das Ende seiner irdischen Existenz sprechen.
203-206 Er erhält eine neue Lehrerstelle; er erhält das Zürcher Bürgerrecht.
207-214 Er wird als Pastor nach Chur gesandt, wo er in der Poesie seinen Trost angesichts der Wirren seiner Epoche findet.
215-218 Er vertraut sich der göttlichen Vorsehung an: Für ihn wird das Sterben in Christus ein Gewinn sein.
Bibliographie
Amherdt, D., «La postérité d’Ovide: Tristes 4, 10 et l’autobiographie en vers de l’humaniste Johannes Fabricius Montanus», International Journal of the Classical Tradition 12 (2006), 483-506.
Amherdt, D., Johannes Fabricius Montanus. Poèmes latins. Introduction, édition, traduction et commentaire, Bern, Schwabe, 2018.
Döpp, S., Ioannes Fabricius Montanus. Die beiden lateinischen Autobiographie, Stuttgart, Steiner, 1998.
Enenkel, K. A. E., Die Erfindung des Menschen. Die Autobiographie des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius, Berlin, Walter de Gruyter, 2008, 575-618 (Kapitel über die zwei Autobiographien des Fabricius Montanus).
Ulrich, J. J., Miscellanea Tigurina, Bd. 3.3, Zürich, Gessner, 1724.
Vulpinus, Th., Der lateinische Dichter Johannes Fabricius Montanus (aus Bergheim im Elsass), 1527-1566. Seine Selbstbiographie in Prosa und Versen nebst einigen Gedichten von ihm, verdeutscht, Strassburg, Heitz, 1894.