Brief an den Leser des Galaterkommentars des Kaspar Megander und Elegie über die Berner Bibliothek
Johannes Rhellicanus
Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 27.03.2024.
Entstehungszeitraum: Brief und Gedicht dürften nicht lange vor dem Erscheinen des Pauluskommentars (1533) entstanden sein, in dem sie zuerst erschienen (s. Ausgaben).
Ausgaben: K. Megander, Commentarius in epistolam Pauli ad Galatas, Zürich, Froschauer, 1533, fol. 44vo-45vo (Brief); fol. 46ro-47vo (Gedicht); Abdruck des Gedichts mit deutscher Übersetzung in: B. Mahlmann-Bauer, «Charakteristika des Schweizer Humanismus – das Beispiel von Johannes Rhellicanus und Leonhart Hospinianus», in: D. Amherdt (Hg.), La littérature latine des humanistes suisses au XVIe siècle, Camenae 26 (2020), 12-15.
Metrum (des Gedichts): elegische Distichen.
Johannes Rhellicanus (ursprünglich Johannes Müller) kam ca. 1487/88 in Rellikon (heute Gemeinde Egg, Kanton Zürich) auf die Welt. Nach Studien in Krakau (1517-22) und Wittenberg (1522-25) sowie Lehrtätigkeiten im Kloster Stein am Rhein (ab 1525) und in Kappel (1527) war er seit 1528 als Griechischprofessor an der in diesem Jahr neu eingerichteten Berner Hohen Schule tätig, wo er auch Dialektik, Rhetorik und literae humaniores unterrichtete. 1538 verliess er diese Stelle aufgrund des Berner Katechismusstreits, in dem er sich im Unterschied zu seinen Berner Pfarrerkollegen einer Annäherung der reformierten Lehre an das Luthertum in der Abendmahlsfrage entgegenstellte. Er wirkte danach ab Juni 1538 auf Vermittlung durch Heinrich Bullinger hin – er hatte diesen 1527 in Kappel im Griechischen unterrichtet – zunächst als Lehrer für Sprachen, Dialektik, Rhetorik und Theologie an der Zürcher Fraumünsterschule und leitete das neu etablierte Alumnat dieser Einrichtung. 1541 wurde er zweiter Pfarrer in Biel, das 1528 die Reformation angenommen hatte. Verheiratet war er mit einer Schwester des aus Stein am Rhein stammenden Johannes Hospinianus, der dort einer seiner Schüler gewesen war. Er verstarb am 14. Januar 1542 in Biel an der Pest. Wir präsentieren auf diesem Portal noch ein weiteres seiner Werke: die Besteigung des Stockhorns, ein bemerkenswertes Gedicht über eine im Freundeskreis unternommene Alpenwanderung, eine in der damaligen Zeit noch sehr seltene Freizeitbeschäftigung (sozusagen Alpinismus avant la lettre).
Hier präsentieren wir zwei Paratexte, die Rhellicanus zu einem Kommentar zum paulinischen Galaterbrief – einem mit Blick auf das Thema der Rechtfertigung durch den Glauben im Protestantismus sehr beliebten Text – beisteuerte, den Kaspar Megander (1495-1535), einer seiner Kollegen an der Berner Hochschule, 1533 vorlegte. Auch Megander sollte im Berner Katechismusstreit aufgrund seiner strikten reformierten Überzeugungen und seiner Absage an lutherische Tendenzen seine Stelle in Bern verlieren. Es handelt sich bei den hier präsentierten Geleittexten des Rhellicanus einerseits um einen kurzen Brief an das Lesepublikum, in dem er die innere Organisation, die Aufgabenverteilung und den Studienbetrieb der Hochschule schildert; und andererseits um ein Gedicht, in dem er die Bibliothek dieser Einrichtung lobpreist. Johannes Hospinianius, der Schwager des Rhellicanus, hat gleich diesem zu dem Galaterkommentar Meganders übrigens ein kurzes Geleitgedicht ad Christianum lectorem beigesteuert, das direkt auf die Titelseite folgt.
Beide Paratexte des Rhellicanus sind weitgehend selbsterklärend. Im Brief verdient Hervorhebung das von ihm selbst hervorgehobene Vorbild der Zürcher Theologenschule, der man in Bern in der intensiven Beschäftigung mit den biblischen Sprachen und dem Studium der Heiligen Schrift nacheiferte. Hier wie dort war der Ausbildungsbetrieb auf die Ausbildung des künftigen reformierten Predigernachwuchses ausgerichtet. Die im Gedicht besungene Bibliothek (Libery) der Hohen Schule wurde zwischen 1528 und 1535 eingerichtet. Erhalten hat sich ein Ratsbeschluss von 1533, der die Holzgewinnung für die Einrichtung der Bibliothek im Westflügel des früheren Barfüsserklosters anordnete. Bis 1535 wurden auch die Buchbestände des ehemaligen Chorherrenstifts in diese Hochschulbibliothek integriert.
Das Gedicht, ein hymnisches Lob auf die neue Bibliothek, gliedert sich in folgender Weise:
1-8: Einleitung
1-4: mythischer Vergleich
5-8: Bedeutung der Bibliotheksgründung für Bern (Weisheit und Religion)
9-16: Pallas macht dem Söldnerwesen ein Ende (incl. Jesaia-Zitat)
17-20: Inhalt der Bibliothek (was für Bücher)
21-30: zum praktischen Gebrauch der Bibliothek
21-22: Notwendigkeit des praktischen Gebrauchs
23-26: die Berner Bemühungen um Gelehrte und Schüler
27-30: hypothetisches negatives Kontrastszenario zu diesen Bildungsbemühungen
31-44: das finstere Mittelalter (Bildungsverfall; incl. Kritik an der Papstkirche)
45-56: die positiven Auswirkungen von Renaissance und Reformation
57-58: Dank sei Gott
59-68: Dank sei auch dem Berner Senat und Noll
69-78: abschliessende religiöse Appelle («Gottesfurcht ist der Anfang der Weisheit» etc.)
Auf das lateinische Gedicht folgt noch ein kürzeres (vier elegische Distichen) in griechischer Sprache, in dem Rhellicanus sich an die Berner Jugend wendet. Auf die Präsentation dieses Textes können wir hier verzichten.
Abschliessend noch einige Anmerkungen zur Hohen Schule: Sie war für den deutschsprachigen Teil des Berner Territoriums zuständig (in der besetzten französischsprachigen Waadt gab es analog zu ihr die Akademie von Lausanne). Die Lateinschulen von Bern, Thun, Burgdorf, Brugg, Zoffingen, Aarau und Murten dienten als Vorbereitungsinstitute für die Hohe Schule (in der Waadt waren die diversen lokalen Lateinschulen analog auf die Lausanner Akademie ausgerichtet). Wie ihr Zürcher Vorbild war die Berner Hohe Schule keine Universität: Es wurden also keine akademischen Grade verliehen, und da man sich auf die Ausbildung künftiger divini verbi magistri (Lehrer des Gotteswortes) konzentrierte, war auch keine Aufteilung in Fakultäten nötig. Mit derartigen Einrichtungen schuf «sich die Reformation in einer universitätslosen Stadt die universitätsähnlichen Institutionen [...], die sie benötigte». Neben Berner Studenten gab es auch solche aus dem schweizerischen und ausserschweizerischen reformierten Ausland. Ihre Gesamtzahl lag bei etwa 50; sie wohnten entweder als Stipendiaten bzw. Interni im ehemaligen Barfüsserkloster oder als Externi in der Stadt (in der Regel bei ihren Eltern). Die Professoren waren Teil der Führungsspitze der Berner Kirche, die man aufgrund der Lage ihrer Dienstsitze in der Stadt als «Herrengasse» bezeichnete. In der Anfangszeit griff man noch auf auswärtiges Personal zurück – wofür Megander und Rhellicanus gute Beispiele sind –, doch spätestens ab dem 17. Jahrhundert glaubte Bern selbstgenügsam, in der Theologenausbildung auf Professoren aus Gegenden ausserhalb seines Herrschaftsbereichs weitestgehend verzichten zu können; selbst Professoren aus dem Landberner Bereich wurden zur Seltenheit. Wesentliche Fortschritte brachte das 19. Jahrhundert: Die Konzentration auf die Produktion reformierten Pfarrernachwuchses wurde 1805 mit der Schaffung drei weitere Fakultäten aufgebrochen, mit der die Umbenennung der Einrichtung in «Akademie» verbunden war. Zu der bis heute bestehenden Universität wurde sie 1834.
Grundsätzliche Ausführungen zum Schweizer Bildungswesen im 16. Jahrhundert, die das hier zu Bern Ausgeführte ergänzen können, bieten wir hier.
Bibliographie
Gelzer, Th., «Die Stockhornias des J. Rhellicanus. Eine Bergbesteigung im Simmental 1536», in: E. J. Beer/Th. Gelzer, Zehn Jahre Sommeruniversität Lenk, Lenk, Stiftung Kulturförderung Lenk, 1997, 25-33.
Germann, M., «Johannes Rhellicanus», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 04.01.2012, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/048713/2012-01-04/.
Im Hof, U., «Die Gründung der Hohen Schule zu Bern 1528», Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 40 (1978), 249-259.
Mahlmann-Bauer, B., «Rhellicanus (Müller), Johannes», in: W. Kühlmann/J.-D. Müller (Hgg.), Frühe Neuzeit in Deutschland 1520-1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon, Band 5, Berlin/Boston, De Gruyter, 2016, 289-294.
Michel, H. A., «Das wissenschaftliche Bibliothekswesen Berns vom Mittelalter bis zur Gegenwart: zum Jubiläum 450 Jahre Stadt- und Universitätsbibliothek Bern 1535-1985», Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 47 (1985), 169-234.
Michel, H. A., «Das wissenschaftliche Bibliothekswesen Berns vom Mittelalter bis zur Gegenwart: zum Jubiläum 450 Jahre Stadt- und Universitätsbibliothek Bern 1535-1985», Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 47 (1985), 169-234.