Elegie über die Berner Bibliothek
Johannes Rhellicanus
Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt). Version: 10.02.2023.
Entstehungszeitraum: das Gedicht wird nicht lange vor dem Erscheinen des Pauluskommentars (1533) entstanden sein, in dem es zuerst erschien (s. Ausgaben).
Handschrift: Zentralbibliothek Zürich, ms L 467, Nr. 16, 385-390 (Kopie, Sammlung Leu).
Ausgaben: K. Megander, Commentarius in epistolam Pauli ad Galatas, Zürich, Froschauer, 1533, fol. 46ro-47vo; Abdruck mit deutscher Übersetzung in: Barbara Mahlmann-Bauer, «Charakteristika des Schweizer Humanismus – das Beispiel von Johannes Rhellicanus und Leonhart Hospinianus», in: D. Amherdt (Hg.), La littérature latine des humanistes suisses au XVIe siècle, Camenae 26 (2020), 12-15.
Metrum: elegische Disticha.
Zwischen 1528 und 1535 wurde die Libery (Bibliothek) der 1528 gegründeten Hohen Schule von Bern eingerichtet; erhalten hat sich ein Ratsbeschluss von 1533, der die Holzgewinnung für die Einrichtung der Bibliothek im Westflügel des früheren Barfüsserklosters anordnete. Bis 1535 wurden auch die Buchbestände des ehemaligen Chorherrenstifts in diese Hochschulbibliothek integriert. In diesem Kontext ist unser Gedicht zu sehen. Es stammt von Johannes Rhellicanus (ursprünglich Johannes Müller); der 1487/88 geborene Rellikoner (heute Gemeinde Egg, Kanton Zürich) wirkte nach Studien in Krakau (1517-22) und Wittenberg (1522-25) sowie Lehrtätigkeiten im Kloster Stein am Rhein (ab 1525) und in Zürich (1527) seit 1528 als Griechischprofessor an der Berner Hohen Schule. Sein Gedicht erschien 1533 im Galaterkommentar des damals in Bern wirkenden reformierten Theologen Kaspar Megander (1495-1535). Einige Jahre später, 1538, verliess Rhellicanus Bern infolge des Katechismusstreits und wurde Lehrer an der Lateinschule des Zürcher Fraumünsters, ab 1541 bis zu seinem Tod 1542 war er zweiter Pfarrer in Biel.
Als hymnisches Lob auf die neue Bibliothek ist das Gedicht weitgehend selbsterklärend. Es gliedert sich in folgender Weise:
1-8: Einleitung
1-4: mythischer Vergleich
5-8: Bedeutung der Bibliotheksgründung für Bern (Weisheit und Religion)
9-16: Pallas macht dem Söldnerwesen ein Ende (incl. Jesaia-Zitat)
17-20: Inhalt der Bibliothek (was für Bücher)
21-30: zum praktischen Gebrauch der Bibliothek
21-22: Notwendigkeit des praktischen Gebrauchs
23-26: die Berner Bemühungen um Gelehrte und Schüler
27-30: hypothetisches negatives Kontrastszenario zu diesen Bildungsbemühungen
31-44: das finstere Mittelalter (Bildungsverfall; incl. Kritik an der Papstkirche)
45-56: die positiven Auswirkungen von Renaissance und Reformation
57-58: Dank sei Gott
59-68: Dank sei auch dem Berner Senat und Nollius
69-78: abschliessende religiöse Appelle («Gottesfurcht ist der Anfang der Weisheit» etc.)
Zum Verständnis der starken Betonung der Religion in diesem Gedicht ist es sicher hilfreich, zu bedenken, dass die Hohe Schule zu Bern ausschliesslich der Ausbildung reformierter Geistlicher dienen sollte. Erst 1805 kamen drei weitere Fakultäten hinzu, und die Einrichtung wurde in Akademie umbenannt; zur Universität wurde sie 1834, und das ist sie bis heute.
Bibliographie
Germann, M., «Johannes Rhellicanus», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 04.01.2012, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/048713/2012-01-04/.
Im Hof, U., «Die Gründung der Hohen Schule zu Bern 1528», Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 40 (1978), 249-259.
Mahlmann-Bauer, B., «Rhellicanus (Müller), Johannes», Frühe Neuzeit in Deutschland 1520-1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon 5 (2016), 290-294.
Michel, H. A., «Das wissenschaftliche Bibliothekswesen Berns vom Mittelalter bis zur Gegenwart: zum Jubiläum 450 Jahre Stadt- und Universitätsbibliothek Bern 1535-1985», Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 47 (1985), 169-234.