Bruder-Klausen-Spiel
Jakob Gretser
Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 10.02.2023.
Entstehungszeitraum: 1586.
Handschrift (Autograph): Studienbibliothek Dillingen XV 227, fol. 107ro-160vo, hier: fol. 107ro, 109ro-110ro, 112ro-114vo.
Ausgabe: E. Scherer (Hg.), Das-Bruder-Klausenspiel des P. Jakob Gretser S. J. vom Jahre 1586, Basel/Freiburg, Hess, 1928, hier: 9-11 (Prolog) und 14-20 (Akt 1, Szene 2); Teile des Dramas sind mit freier deutscher Reimübersetzung auch abgedruckt in Durrer (1917-1921); s. dazu die Bibliographie.
Metrum: jambische Senare.
Jakob Gretsers sogenanntes Bruder-Klausen-Spiel (lateinischer Originaltitel: Comoedia de Vita Nicolai Underwaldi Eremitae Helvetii) widmet sich dem Leben des Niklaus von Flüe (geboren 1417 in Flueli; gestorben am 21. März 1487 in Ranft; beide liegen im Kanton Obwalden). Bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr war er ein nicht weiter bemerkenswerter Bauer, Vater von je fünf Söhnen und Töchtern und Gatte der Dorothea (geborene Wyss). Am 16. Oktober 1467 begab er sich auf eine Pilgerreise, die er in Liestal abbrach. In der Folge errichtete er in der Ranftschlucht nahe seinem Hof eine Hütte, in der er fortan als Eremit lebte. Er führte dieses Verhalten auf ihm zuteilgewordene Visionen zurück. Aufsehen erregte seine vollkommene Enthaltung von Nahrung (abgesehen von der Heiligen Kommunion), die 1469 im Auftrag des Konstanzer Bischofs untersucht und bestätigt wurde. Seine Äusserungen aus jener Zeit verraten den Einfluss der oberrheinischen Mystik, besonders Heinrich Seuses. Er wurde von zahlreichen Menschen um seinen Rat gebeten, auch von Politikern. Belegt ist sein Einfluss auf das «Stanser Verkommnis» von 1481, ein Vertrag, der für die Staatwerdung der acht alten Orte der Schweiz von entscheidender Bedeutung war. Sein Grab in der Pfarrkirche zu Sachseln wurde bald nach seinem Tode zu einer beliebten Pilgerstätte. Um 1550 beschlossen Obwalden und Nidwalden regelmässige Landeswallfahrten dorthin. Auch seine Kapelle im Ranftal lockte viele Pilger an. Die kirchliche Sanktionierung des Kultes brauchte länger. 1649 gestattete Rom offiziell die liturgische Verehrung des Niklaus (was einer Seligsprechung gleichkam), 1669 wurde er offiziell seliggesprochen. Die Heiligsprechung erfolgte erst 1947.
Der Jesuit Gretser wird auf diesen schweizerischen Stoff im Freiburger Ordenskolleg im Umfeld des Petrus Canisius aufmerksam geworden sein, wo Niklaus hoch geschätzt wurde, nicht zuletzt, da sein Leben als Beleg für die (von den Reformierten angefochtene) katholische Eucharistielehre aufgefasst wurde: hatte er doch gemäss den vorliegenden Berichten jahrelang nur von der Eucharistie gelebt. Es ist daher kein Zufall, dass Gretser vor dem hier thematisierten Bruder-Klaus-Spiel bereits einen Dialogus de Nicolao Unterwaldio pro festo Corporis Christi (Dialog über Niklaus aus Unterwalden für das Fronleichnamsfest) verfasst hatte. Nicht übersehen darf man, dass auch die dem Stück inhärente Verherrlichung des asketischen Lebens eine starke Kampfansage gegen die Ablehnung des Mönchtums ist, wie sie bei den Protestanten (aber zum Teil auch schon vorher bei einigen Humanisten) üblich war.
In der Originalhandschrift wurde die ursprüngliche Prolog-Anrede der Freiburger (Friburgenses) durch die der Luzerner (Lucernenses) ersetzt. Das Stück war also ursprünglich zur Aufführung in Freiburg bestimmt, wozu es aufgrund Gretsers Abberufung nach Ingolstadt nicht mehr kam. Die Erstaufführung erfolgte durch Zöglinge der Luzerner Jesuitenschule am 5. Oktober 1586 in Luzern (der genaue Platz ist unbekannt) anlässlich der Beschwörung des «Goldenen Bundes» (bzw. «Borromäischen Bundes») der sieben katholischen Orte (ein gemeinsames Burg- und Landrecht in Verbindung mit einer kirchlichen Bruderschaft). Entsprechend dem hohen Anlass sassen im Publikum nicht nur die Abgesandten der sieben Orte, sondern auch der päpstliche Nuntius Giovanni Battista Santonio. Es ist möglich, dass Gretser vor seinem Aufbruch nach Bayern sich noch persönlich um diese Aufführung kümmerte.
Im Folgenden ein kurzer Abriss der Handlung des insgesamt 2595 Verse umfassenden Stückes:
Erster Akt: Die Dämonen Asmodäus und Belial klagen sich ihr Leid, wie schwer ihnen Niklaus das Leben macht (Erste Szene); sie versuchen ihn vergeblich (Zweite Szene); sie versuchen ihn noch einmal vergeblich (Dritte Szene; hier tritt auch ein Sohn des Niklaus auf); der Sohn Heinrich nimmt den erschöpften Niklaus auf seine Schultern (Vierte Szene); Niklaus beschenkt einige Bettler äusserst grosszügig (Fünfte Szene); Niklaus beschenkt einige wandernde Schüler (Sechste Szene); drei Unbekannte fordern Niklaus auf, die Welt ganz zu verlassen (Siebente Szene).
Zweiter Akt: Ein Engel fordert Niklaus auf, sich ganz Gott zu weihen (Erste Szene); der Sohn sucht seinen Vater, die Mutter sagt ihm, dass er schon zuhause ist (Zweite Szene); Niklaus entschliesst sich in einem Monolog, die Welt zu verlassen (Dritte Szene); er teilt dies seiner Frau mit, die einverstanden ist (Vierte Szene); ein Bürger von Unterwalden erzählt Peter, dem Bruder des Niklaus, was dieser getan hat (Fünfte Szene); nach einer Diskussion lässt Peter den Niklaus ziehen (Sechste Szene); von einem Burgunder erfährt Niklaus, dass es dort kriegsbedingt gefährlich ist; er entschliesst sich, in die Schweiz zurückkehren, wozu ihn auch ein Engel ermuntert (Siebente Szene).
Dritter Akt: Zwei vornehme junge Leute und ihre Diener werden in einer heiteren Szene vorgeführt (Erste Szene); sie unterhalten sich mit Niklaus in seiner Einöde und versuchen vergeblich, ihn zur Heimkehr zu bewegen (Zweite Szene); einer von ihnen berichtet dem Bruder des Niklaus (Dritte Szene); Gespräch zwischen den Jünglingen und Peter und Niklaus; doch letzterer bleibt standhaft in seiner Einöde (Vierte Szene); der Priester Oswald ermuntert Niklaus, sein leibliches Fasten fortzusetzen (Fünfte Szene); Streitgespräch zwischen einem Verteidiger und zwei Kritikern des Niklaus (Sechste Szene); ein Bote kündigt einen Bischof aus Konstanz an (Siebente Szene); Asmodäus und Belial versuchen noch einmal vergeblich, Niklaus zu versuchen (Achte Szene).
Vierter Akt: Der Konstanzer Weihbischof Thomas befragt Niklaus (Erste Szene); der Weihbischof berichtet der Schweiz von dem Wunder, dass Niklaus sich vor Sakrament ernährt (Zweite Szene); erbauliches Gespräch zwischen dem Einsiedler Ulrich und Niklaus (Dritte Szene); ein als berittener Edelmann verkleideter Dämon bemüht sich erfolglos, Niklaus zu versuchen (Vierte Szene); erbauliches Gespräch zwischen Niklaus und Ulrich (Fünfte Szene); ein Dämon mit einem Esel versucht erfolglos eine weitere Attacke auf Niklaus (Sechste Szene); Niklaus redet es dem Ulrich aus, seine Nahrungsabstinenz nachahmen zu wollen; der Sohn Heinrich kommt mit Essen (Siebente Szene); zwei Bürger bitten Niklaus um Rat und Gebet und erhalten das Erbetene (Achte Szene).
Fünfter Akt: Ein Gelehrter bringt Niklaus einen Brief seines in Paris studierenden Sohnes; einen weiteren Brief, den der Gelehrte verloren hat, hat Niklaus schon zuvor durch himmlische Einwirkung erhalten (Erste Szene); Niklaus kündigt Ulrich an, dass er bald sterben wird (Zweite Szene); Ulrich und Peter beklagen den Tod des Niklaus.
Jedem der Akte ist ein Prolog vorangestellt; am Ende steht ein Epilog. Aus dem Ablauf Handlung ergibt sich, dass in ihr die Einheiten von Zeit und Ort keine Rolle spielen.
Wir präsentieren aus dem Stück den Prolog zum ersten Akt sowie die spannend und sehr bühnenwirksam gestaltete zweite Szene des ersten Akts, in der die Dämonen Niklaus zum ersten Mal zusetzen. Insgesamt ist bei der Beurteilung des Stücks freilich zu bedenken, dass es als Nacherzählung einer im Ganzen undramatischen Legendenhandlung gestaltet ist und deshalb keine dramatische Struktur im engeren Sinne besitzt.
Abgesehen von der Szene, in der ein Dämon mit Esel auftritt, lassen sich alle Einzelheiten der Handlung aus früheren Berichten über Niklaus ableiten. Als Quelle diente Gretser erkennbar die Niklaus-Biographie von Ulrich Witwyler. Es ist bemerkenswert, einen wie breiten Raum Gretser den Versuchungsszenen mit dämonischem Personal einräumt; für die Bühnenwirksamkeit des Stücks ist diese Schwerpunktsetzung aber sicher von Vorteil gewesen. Wie das unten gewählte Textbeispiel (Erster Akt, zweite Szene) zeigt, fehlt es einer solchen Szene weder an einer gewissen Tiefgründigkeit (denn die Dämonen lassen sich auch argumentativ allerhand einfallen, um Niklaus vom Weg der Heiligkeit abzubringen) noch an Witz, wenn die Dämonen sich in komischer Verzweiflung beklagen, dass sie ein weiteres Mal an einem einfachen Bauern gescheitert sind. Das Bühnengeschehen dürfte insgesamt (und nicht zuletzt an dieser Stelle) inhaltlich auch jenen Zuschauern ohne Weiteres verständlich gewesen sein, die des Lateinischen nicht mächtig waren. Der politische (schweizerisch-patriotische) Aspekt von Niklaus’ Wirken wird in dem Stück kaum thematisiert; für Gretser ist der religiöse Aspekt ganz ausschlaggebend. Dies entspricht dem Bild, das die katholische Reform sich von dem hochverehrten Unterwaldner machen wollte; die Politiker der katholischen Kantone und die die aus dem Ausland stammenden Jesuiten standen angesichts der konfessionellen Konfliktlage dem Konzept eines gesamtschweizerischen Patriotismus eher fremd gegenüber. Vielleicht hat Gretser den der Niklaus-Gestalt innewohnenden gesamtschweizerischen (patriotischen) Aspekt bewusst unterdrückt.
Die Wirkungsgeschichte dieses Stücks ist bemerkenswert. Die Bruder-Klausen-Spiele des 16. und 17. Jahrhunderts basieren allesamt auf Gretsers Vorlage, die darüber hinaus mehrfach ins Deutsche übertragen wurde.
Bibliographie
Durrer, R., «Jakob Gretsers Festspiel von Bruder Klaus bei der Feier des Abschlusses des ‚Goldenen Bundesʼ», in: Bruder Klaus. Die ältesten Quellen über den seligen Nikolaus von Flüe, sein Leben und seinen Einfluss, gesammelt und erläutert und [...] herausgegeben von Dr. Robert Durrer, Bd. 2, Sarnen, Louis Ehrli, 1917-1921, hier: 851-871.
Dürrwächter, A., Jakob Gretser und seine Dramen. Ein Beitrag zur Geschichte des Jesuitendramas in Deutschland, Freiburg i. Br., Herder, 1912, hier besonders 59-62.
Scherer, E., Das-Bruder-Klausenspiel des P. Jakob Gretser S. J. vom Jahre 1586, hg. von E. Scherer, Basel/Freiburg, Hess, 1928.
Valentin, J.-M., Les jésuites et le théâtre (1554-1680). Contribution à l’histoire culturelle du monde catholique dans le Saint-Empire romain germanique, Paris, Desjonquères, 2001.