Zwingli-Biographie: Zwinglis Tod
Oswald Myconius
Einführung: David Amherdt (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 10.02.2023.
Entstehungszeitraum: einige Monate nach Zwinglis Tod (Ende 1531/Anfang 1532).
Ausgaben: DD. Ioannis Oecolampadii et Huldrichi Zvinglii epistolarum libri quatuor […] Utriusque vita et obitus Simone Grynaeo, Wolfgango Capitone et Osvaldo Myconio autoribus […], Basel, Platter und Lasius, 1536, fol. θ2ro-vo; Vitae quatuor reformatorum Lutheri a Melanchthone, Melanchthonis a Camerario, Zwinglii a Myconio, Calvini a Theod. Beza, Berlin, Eichler, 1841, 13-14; Monumentum instaurati patrum memoria per Helvetiam regni Christi et renascentis evangelii, id est, epistolarum D. Iohannis Oecolampadii et Huldrichi Zvinglii aliorumque eximiorum Iesu Christi servorum libri IIII, Basel, Henricpetri, 1592, fol. κ6vo-κ7ro; Archiv für alte und neue Kirchengeschichte, Bd. 1, Teil 2, hg. von C. F. Stäudlin/H. G. Tzschirner, Leipzig, Vogel, 1813, 2-28, hier: 25-27; Rüsch (1979), 70-74.
Einige Monate nach dem Tod Ulrich Zwinglis am 11. Oktober 1531 verfasst Oswald Myconius die allererste Biographie über den Zürcher Reformator. Diese Vita hat die Form eines auf das Jahr 1532 datierten Briefes und ist an «Agathius Beronensis» adressiert; hinter diesem Pseudonym verbirgt sich der Luzerner Humanist und Zwingli-Freund Ludwig Carinus, der Myconius um eine Lebensbeschreibung des Verstorbenen gebeten hatte. Myconius hatte daher wahrscheinlich nicht die Absicht, eine offizielle Biographie Zwinglis zu verfassen – die Vita wurde dennoch für würdig befunden, im Jahr 1536 (Jahr der Erstauflage) der Lebensbeschreibung des Basler Reformators Johannes Ökolampad beigegeben zu werden, und sie wurde auch späterhin in verschiedene Sammelwerke aufgenommen.
Diese Biographie ist alles andere als ein hagiographisches Werk. Man würde in diesem Text vergeblich nach einem Katalog der christlichen Tugenden Zwinglis suchen (z. B. Keuschheit oder Frömmigkeit), und der Zürcher Reformator wird darin auch nicht als Pastor oder asketischer Prediger dargestellt. Ausnahmen stellen in dieser Hinsicht drei Passagen dar, die suggerieren, dass Zwingli in einem besonders engen Verhältnis zur Gottheit stand: die erste findet sich ganz am Anfang der Vita, wo Myconius behauptet, dass der in einer hochgelegenen Gegend, in Wildhaus, geborene Reformator eine ordentliche Quantität an göttlichem Geist aufgesogen habe. In der zweiten, die der Beschreibung der Kappeler Schlacht vorangeht, berichtet der Biograph, dass Zwingli seinen eigenen Tod vorhergesagt hatte. Bei der dritten und längsten handelt es sich um die Beschreibung des Tods des Reformators (siehe die von uns präsentierten Auszüge). Man denkt bei dieser Schilderung unausweichlich an den Tod Christi, denn bevor der tödlich verwundete Zwingli endgültig zusammenbricht, stürzt er dreimal zu Boden, wie es Christus auf dem Kreuzweg widerfahren war. Ausserdem entsprechen die Worte, die der sterbende Zwingli ausspricht, einer Äusserung Christi: «Wohlan, den Leib können sie zwar töten, die Seele können sie aber nicht töten»; er stellt sich derart in die Nachfolge des Meisters, der seine Jünger ermutigt hatte, keine Angst vor denen zu haben, die den Leib töten, ohne die Seele töten zu können (Mt 10,28). Schliesslich vergleicht der Erzähler den Tod Zwinglis mit dem des heiligen Erzmärtyrers Stephan, indem er seinen Bericht folgendermassen schliesst: «Und mit diesen Worten sei er bald darauf im Herrn entschlafen»; damit spielt er direkt auf das Ende des Berichts über Stephans Tod in der Apostelgeschichte (7,59) an. Ausserdem ist hier auch das staunenswerte Wunder zu erwähnen, das auf Zwinglis Tod folgt: die Auffindung seines intakten Herzens, das hernach von seinen gläubigen Anhängern wie eine Relikte aufbewahrt wird – man mag das bei einem protestantischen Autor für ein erstaunliches hagiographisches Element halten.
Was für einen Zwingli will Myconius also dem Leser präsentieren? Wie Rüsch treffend resümiert, legt der Luzerner Humanist besonders auf zwei Charaktereigenschaften Zwinglios Wert: dieser ist zum einen ein doctissimus theologus (ein hochgelehrter Theologe) und zum anderen ein fortissimus heros (ein sehr tapferer Held). Zuerst ein doctissimus theologus. Zwingli, dessen intellektuelle Qualitäten seit seinen Kindertagen klar zu Tage lagen, ist ein humanistischer Modelltheologe, der Latein, Griechisch, Hebräisch, Philosophie und die Heilige Schrift beherrscht und sich durch seine Beredsamkeit und die Klarheit und Gedankentiefe seiner Lehrtätigkeit auszeichnet. Hernach auch ein fortissimus heros. Zwingli, ein Staatsdiener, mehr ein politischer Führer als ein Heiliger, ein unermüdlicher Verächter missbräuchlicher Praktiken und ein unbeugsamer Verteidiger der göttlichen Wahrheit, geht so weit, dass er seine Mitbürger auf das Schlachtfeld des Zweiten Kappelerkrieges begleitet und dort seinen Tod findet. Genaugenommen wird sein Tod nicht wie ein Martyrium beschrieben, sondern eher als ein heroischer Akt.
In seinem Text zeigt Myconius, dass Zwingli auch ein Hassobjekt war – und das bereits seit Kindertagen, denn seine ungewöhnlichen intellektuellen Qualitäten weckten schon den Neid seiner kleinen Kameraden. Man verfolgt ihn als Häretiker, man kritisiert ihn bei seiner Ankunft in Zürich, wo in der Folgezeit zahlreiche Angriffe auf ihn von allen Seiten erfolgen. Man geht sogar so weit, ihm sein frommes Interesse an der Musik vorzuwerfen. Und hier erfasst man das Hauptziel der Vita: sie stellt eine Apologie für Zwinglis Handeln dar, die sich besonders gegen die richtet, die ihm Grausamkeit gegenüber den Täufern oder Kriegstreiberei vorwarfen – ohne dass es Myconius gelungen wäre, diese Kritiker zum Schweigen zu bringen, die bis unsere Tage Anklage gegen den Reformator erheben. Man kann schliesslich festhalten, dass Myconius einige wichtige Aspekte der reformarischen Tätigkeit Zwinglis sehr versteckt behandelt: während er einige Ereignisse, wie die Abschaffung des Klosterwesens, sehr hervorhebt, geht er nur nebenbei auf die Abschaffung der Messe, die Frage nach der Verehrung der Heiligenbilder oder die Berner Disputation von 1528 ein.
Man würde in diesem Text vergeblich nach einer objektiven Darstellung der Person Zwinglis und seiner Gegner suchen: diese werden systematisch negativ dargestellt, während der Reformator generell sehr gelobt wird. Das lässt sich teilweise dadurch erklären, dass Myconius diesen Text sehr rasch geschrieben hat, als er noch unter dem Schock über Zwinglis Tod stand, man könnte sagen: unter dem Einfluss eines plötzlich über ihn kommenden calor; er hatte nicht genug Zeit für die Materialsammlung und schrieb deshalb nur das nieder, woran er sich spontan erinnerte; seine manchmal unpräzise Schreibart trägt die Spuren der Eile an sich, mit der er die Vita abgefasst hat.
Einige Zeit nach der Vita, wahrscheinlich um 1535 herum, verfasste Myconius einen (unvollendet gebliebenen) lateinischen Dialog mit dem Titel Dialogus de bello Cappelano (Dialogue über den Kappeler Krieg), dessen letztes Drittel eine Biographie Zwinglis enthält, die grösstenteils von der Vita inspiriert ist. Halten wir abschliessend fest, dass die Zwingli-Biographie des Myconius nicht zuletzt von Théodore de Bèze in seiner Histoire des vies et faicts de quatre excellens personnages übersetzt wurde.
Bibliographie
Backus, I., Life Writing in Reformation Europe. Lives of Reformers by Friends, Disciples and Foes, Aldershot, Ashgate, 2008, besonders 47-52.
Gäbler, U., Huldrych Zwingli. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk, Zürich, Theologischer Verlag Zürich, 2004.
Locher, G. W., Zwingli und die schweizerische Reformation, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1982 (Die Kirche in ihrer Geschichte. Ein Handbuch, Band 3).
Moser, Chr., «Ulrich Zwingli», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 04.03.2014, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010447/2014-03-04/ (mit bibliographischen Hinweisen zu Zwingli).
Rüsch, E. G., Vom Leben und Sterben Huldrych Zwinglis, St. Gallen, Fehr’sche Buchhandlung, 1979.