Raeteis: Proömium; Fontanas Heldentod; Siegesfeier; Sphragis (präsentiert von Clemens Schlip)

Simon Lemnius

Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 10.02.2023.


Entstehungszeitraum: zwischen 1544 (Rückkehr des Lemnius nach Chur nach seinem Italienaufenthalt) und 1550 (Tod des Lemnius noch vor Abschluss des Epos).

Kopien: Staatsarchiv Graubünden, Familienarchiv v. Tscharner-St. Margrethen, Chur, D V/3.210.001, fol. 41-131 [17. Jh.]; Staatsarchiv Graubünden, B 1498 [1771] und B 1506 [18./19. Jh.]; Staatsbibliothek Berlin, Ms lat. fol. 419 [18. Jh.; im aktuellen Katalog der Staatsbibliothek ist diese Signatur leider ohne Inhaltsangabe]; St. Gallen, KB Vadiana, Rara Vadianische Sammlung, VadSlg Ms 232 [1809]; Zentralbibliothek Zürich ms. B 29/511, fol. 101-199 (17./18. Jh.).

Ausgabe: Die Raeteis. Schweizerisch-Deutscher Krieg von 1499. Epos in IX Gesängen, hg. von P. Plattner, Chur, Offizin von Sprecher & Plattner, 1874; hier: 1-2, 104-105, 156, 175-176.

Metrum: Hexameter.

 

Den Stoff für die Raeteis des Lemnius liefert der sogenannte Schwabenkrieg von 1499 zwischen der damals noch aus zehn Orten bestehenden Eidgenossenschaft und ihren zugewandten Orten einerseits und den Habsburgern unter Maximilian I. und dem Schwäbischen Bund andererseits. Er begann im Januar 1499 durch ein Beistandsgesuch des Gotteshausbundes an den Grauen Bund, welches in der Folge auch die Bündnisverpflichtung der Eidgenossen gegen die beiden Bünde auslöste, die den Status zugewandter Orte der sieben östlichen Eidgenossen hatten; er fand am 22. September 1499 mit dem Basler Frieden sein Ende.

Infolge seines unzeitigen Todes (1550) konnte Lemnius sein Epos nicht mehr druckfertig machen. Es wurde zwar im 16. und 17. Jahrhundert mehrfach abgeschrieben und von Chronisten verwendet, doch schon Ende des 18. Jahrhunderts nennt ein Lemnius-Biograph die Raeteis eine «ganz unbekannte Schrift»; 1792 erschien immerhin eine (recht freie) deutsche Übersetzung des zwischen 1775 und 1777 am Philanthropinum in Marschlins (Graubünden) lehrenden Hamburger Magisters Johann Georg Philipp Thiele. Grössere Bekanntheit erhielt das Werk erst durch die Bemühungen des Bündner Pädagogen, Publizisten und Politikers Placidus Plattner (Textausgabe 1874; deutsche Übersetzung 1882). Literarische und quellenkritische Untersuchungen arbeiteten heraus, welche zeitgenössische Quellen Lemnius für sein Epos verwendete (eine wichtige Rolle kommt den offiziösen «Acta des Tyrolerkriegs» des Churer Stadtrats zu) und an welchen antiken Mustern er sich besonders orientierte (Silius Italicus, Statius, Vergil).

Wir können hier nur Bruchteile des dem Schwabenkrieg gewidmeten Epos wiedergeben. Folgende Passagen werden hier präsentiert:

  1. Das Proömium und die daran anschliessende Begründung des Zorns der Juno gegen die Räter (1-55). Die Rede der Juno enthält zugleich einen historischen Abriss zur Geschichte des Bündnervolkes, welches darin etwa, wie auch schon im Proömium, als Nachkomme der Etrusker angesehen wird (vgl. besonders V. 8 und 28); diese ethnische Aitiologie ist grundsätzlich keine Erfindung des Humanismus, sondern wurde bereits in der Antike mit Blick auf die Räter vorgebracht. Eine typisch humanistische Fiktion ist demgegenüber natürlich die fraglose Identifikation, die der Dichter zwischen den antiken Rätern und den Bündnern seiner Zeit bzw. des Jahres 1499 vornimmt. Dass der Zorn der Juno eine Motivübernahme aus der Aeneis ist, wo die Göttin entsprechende Gefühle gegenüber dem Haupthelden und seinen Trojanern hegt, ist so evident, dass man es eigentlich gar nicht extra formulieren müsste und kommt indirekt auch in den Worten der Göttin zum Ausdruck, die diese berühmte Feindseligkeit selbst thematisiert (V. 15-27).
  2. Als zweites präsentieren wir eine Passage aus dem sechsten Buch (514-547), in dem die Entscheidungsschlacht des Schwabenkrieges, die Schlacht an der Calven, geschildert wird, in der die Kämpfer des Gotteshaus- und des Grauen Bundes am 22. Mai einen grossen Sieg errangen. Darin eingebettet ist die Darstellung des Heldentodes des dem Gotteshausbund zugehörenden Hauptmanns Benedikt Fontana, dem im historischen Gedächtnis Graubündens lange eine wichtige Rolle zukam. In V. 544-546 bietet Lemnius eine lateinische Paraphrase der berühmten letzten Worte dieses Helden.
  3. Aus dem neunten Buch (316-348) nehmen wir zunächst einen Auszug aus der Siegesfeier der Schweizer auf; in unserer Passage trägt ein (anonym bleibender) Sänger seinem Publikum die für die Befreiungsgeschichte der Schweiz zentralen Heldentaten des Bauern Baumgarten und des Wilhelm Tell vor. Es handelt sich hierbei gewissermassen um eine mise en abyme; Lemnius baut in sein eigenes Epos einen patriotischen Sänger ein, der vergangene Heldentaten in Erinnerung ruft und derart widerspiegelt, was Lemnius selbst mit der Abfassung seines historischen Epos zu tun unternimmt. Zudem wird so der in der Raeteis primär geschilderte Schwabenkrieg implizit in einen grösseren historischen Kontext gestellt; er ist ein wichtiges, aber nicht das erste Glied in einer Kette glorreicher helvetischer Heldentaten.
  4. Abschliessend präsentieren wir aus dem neunten Buch (1093-1106) noch die Schlussverse des Epos, in denen Lemnius deutlich seinen Wunsch formuliert, der Vergil Graubündens zu werden und dadurch unsterblichen Dichterruhm zu erwerben (wobei er bescheidenheitstopisch darauf achtet, zugleich die Überlegenheit der antiken Dichter einzugestehen).

Motivübernahmen und sonstige Anleihen aus der antiken Dichtung in den vorgestellten Passagen können hier nicht detaillierter betrachtet werden; erste Ansatzpunkte dazu kann der Apparatus fontium bieten.

Eine höheren Ansprüchen genügende wissenschaftliche Edition der Raeteis bleibt ein Desiderat der Forschung, auf das hier nur nachdrücklich hingewiesen werden kann. Auch die Art und Weise, in der Lemnius die epische Tradition in seinem Werk adaptiert, dürfte sich noch genauer herausstellen lassen als dies bisher geschehen ist.

Weitere Ausschnitte aus der Raeteis werden auf diesem Portal von Florian Schaffenrath präsentiert.

 

Bibliographie

Ganß, W., «Die Raeteis des S. Lemnius (Ein Epos über den Schwabenkrieg)», Jahrbuch des historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 55 (1955), 25-53.

Michel, J., «Die Quellen zur Raeteis des Simon Lemnius», Jahresberichte der Historisch-Antiquarischen Gesellschaft von Graubünden 42 (1912), 97-222 und 43 (1913), 1-112.

Michel, J., «Eine neue Handschrift zur Ræteis des Simon Lemnius», Bündnerisches Monatsblatt, Heft 3 (1917), 82-86.

Mundt, L., «Lemnius, Simon», Frühe Neuzeit in Deutschland 1520-1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon 4 (2015), 87-97.

Plattner, P., «Vorwort», in: Ders. (Hg.), Die Raeteis. Schweizerisch-Deutscher Krieg von 1499. Epos in IX Gesängen, Chur, Offizin von Sprecher & Plattner, 1874, III-XXVII.

Riatsch, C., «Lemnius, Simon», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 15.03.2017, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009112/2017-03-15.

Schaffenrath, F., «Semper Retis memorabile bellum (Raet. 7.565). Simon Lemnius in der Nachfolge des Silius Italicus», Humanistica Lovaniensia 70 (2021), 185-208, online, https://doi.org/10.30986/2021.185.

Sieveking, G., «Aus den Gedichten des Simon Lemnius. Ins Deutsche übertragen von Gerhart Sieveking», Rätia 6 (1942/43), 193-207.

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Wiesman, P., «Simon Lemnius 1511-1550», in: Bedeutende Bündner aus fünf Jahrhunderten [Festgabe der Graubündner Kantonalbank zum Anlaß des 100. Jahrestages ihrer Gründung 1870], Bd. 1, Chur, Calven-Verlag, 1970, 109-126.

Willi, C., Calvenschlacht und Benedikt Fontana, Chur, Calven Verlag, 1971.