Odysseeübersetzung

Simon Lemnius

Einführung: Didier Guex (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 10.02.2023.


Entstehungszeitraum: terminus ante quem ist 1549 (Erscheinungsjahr); Lemnius’ Werk stützt sich auf die Odysseeübersetzung des Raffaello Maffei von Volterra (erschienen 1523 in Köln) und ist möglicherweise angeregt durch die Ilias-Übersetzung des Eobanus Hessus (erschienen 1540 in Basel).

Textausgaben: Odysseae Homeri libri XXIIII nuper a Simone Lemnio […] heroico Latino carmine facti, Basel, Johannes Oporin, 1549; Odysseae Homeri libri XXIIII nuper a Simone Lemnio […] heroico Latino carmine facti, Paris, Martin Lejeune, 1581. Der Autor dieses Artikels arbeitet daran, eine moderne Textausgabe herzustellen.

Metrum: Hexameter.

 

Entstehungsumstände

Simon Lemnius’ Übersetzung der Odyssee fiel in eine Zeit, in der die Kenntnis dieses Epos in gelehrten Kreisen bereits wieder allgemein verbreitet war, im deutschsprachigen Raum besonders durch Reuchlin und Melanchthon. Die ersten Texteditionen des griechischen Textes im Westen, zuerst besorgt 1488 durch Demetrius Chalkondyles in Florenz, später 1508 durch Aldus Manutius in Venedig, wurden schon bald ergänzt durch Übertragungen in lateinische Prosa, so etwa 1523 in Köln durch Raffaello Maffei von Volterra, von welcher sich Simon Lemnius immer wieder inspirieren liess. Der Münchner Simon Schaidenraißer veröffentlichte 1537 eine Übersetzung in deutsche Prosa.

An Mitteln, als Gelehrter die homerischen Epen im Original nach Studium der Sprache und unter Zuhilfenahme von Prosa-Übersetzungen und Wörterbüchern, wie etwa dem ab den 1520er-Jahren bei Valentin und Hieronymus Curio in Basel immer wieder neu aufgelegten, erschliessen zu können, fehlte es also nicht; weshalb aber die kunstvolle Versübersetzung?

Von der Ilias gab es bereits seit 1540 eine vollständige Hexameter-Übersetzung, die Eobanus Hessus erstellt hatte, erschienen in Basel bei Robert Winter. Für Eobanus war dieses Werk ein Mittel, die deutsche Kultur auf Augenhöhe mit der italienischen Kultur zu heben, und zwar eben dadurch, als erster Dichter den Homer so zu bearbeiten. «Wenn man schon nicht der primus inventor ist, dann doch wenigstens der ‘primus interpres’ – und zwar auf internationalem Niveau,» schreibt dazu Huber-Rebenich. Dieser Ehrgeiz dürfte für eine Persönlichkeit wie Simon Lemnius ebenso gegolten haben, beanspruchte er doch in anderen Werken immer wieder, der beste Dichter seiner rätischen Nation zu sein.

Auch für Buchdrucker waren lateinische Werke immer noch ein einträglicheres Geschäft als griechische, wie die Korrespondenz des Druckers Oporin belegt. Derselbe Oporin äusserte in einem weiteren Brief vom 8. Mai 1549 die Absicht, Eobans Ilias und Lemnius’ Odyssee gemeinsam herauszugeben, was dann auch eingetreten ist. Vermutlich arbeitete Lemnius also nicht nur aus eigener Veranlassung, sondern auch auf Anregung seines Verlegers.

 

Zur Übersetzungstechnik

Legt man die homerische und die lemnianische Version der Odyssee nebeneinander, so springt zunächst ins Auge, dass die Übersetzung um einiges länger ist als das Original, nämlich um das 1.63-fache: auf 12’110 griechische Verse kommen 19’750 lateinische. Im 9. Gesang, aus dem unser Textbeispiel stammt, beträgt der Faktor sogar 1.81, hier kommen auf 566 griechische Verse 1027 lateinische. Im Textbeispiel selber stehen 48 Verse 91 gegenüber, was einem Faktor von gerundet 1.9 entspricht; stellenweise drückt sich Lemnius also doppelt so wortreich aus wie seine griechische Vorlage.

Dieser Befund wirft die Frage auf, wie diese Streckung zustande kommt; denn wie sich zeigen wird, ist sie nicht alleine einer Verschiedenartigkeit der Sprachen geschuldet, etwa, dass es von Natur aus im Lateinischen mehr Wortmaterial brauchen sollte als im Griechischen, um denselben Gedanken wiederzugeben. Vielmehr lassen sich die Erweiterungen grob zwei Typen oder Tendenzen zuordnen. Als tautologische Erweiterungen bezeichne ich solche, bei denen der bei Homer vorgefundene Gedanke in verschiedenfacher Ausführung, etwa mittels Synonymen, wiederholt wird. Konkretisierende Erweiterungen sind solche, in denen das vorgefundene Bild konkreter ausformuliert wird. Gelegentlich bewirkt die Wiederholung des Gedankens in verschiedenen Worten zugleich eine Konkretisierung des Bildes, weswegen die beiden Typen nicht scharf unterscheidbar sind. Als das Medium dieser Erweiterungen erweist sich oft das Zitat, denn Simon Lemnius fügte gerne Versschnipsel aus der klassischen lateinischen Dichtung in sein Epos ein. Besonders oft sind Anleihen aus Vergils Aeneis zu finden, oft auch solche aus Werken von Ovid und Statius; dort besonders die Thebais. Aus den verhältnismässig wenigen Stellen, die wir bisher untersucht haben, scheinen manche Vergil- und Ovidstellen, die Lemnius so zitiert hat, bewusst gewählt worden zu sein. So wird eine intertextuelle Dimension erzeugt, die ein gebildeter Leser durchaus reizvoll finden mag. Für diese drei Konzepte, Tautologie, Konkretisierung und Zitat, finden sich im weiter unten abgedruckten Textauszug Beispiele.

Im Allgemeinen versuchte Lemnius die Vorstellungen, die er im homerischen Text findet, auf Latein wiederzugeben, wo es geht sogar die Syntax zu imitieren, fügte dann jedoch eigenes Material nach den beschriebenen Prinzipien hinzu. Man kann aber beobachten, dass er Epitheta ornantia bei Personennamen und stereotypische Wendungen und Wiederholungen, die bei Homer typisch sind, kürzte oder wegfallen liess. So lautet Hom. Od. 1, 156 αὐτὰρ Τηλέμαχος προσέφη γλαυκῶπιν Ἀθήνην («aber Telemachos sprach zur grauäugigen Athene») bei Lemnius einfach fatur / Telemachus («spricht Telemachus»). Für ähnliche Verse dieser Art, die bei Homer immer gleich lauten, verwendete Lemnius Wortmaterial aus klassischen lateinischen Quellen, die jene homerischen Stellen imitieren sollen. Dieses Wortmaterial wurde dann von Mal zu Mal variiert. Wenn bei Homer die Morgenröte jedesmal auf dieselbe Weise mit den Worten ἦμος δ’ ἠριγένεια φάνη ῥοδοδάκτυλος Ἠώς erscheint, verwendete Lemnius dafür Ausdrücke wie

Aureaque ut fulsit roseis Aurora capillis
Iam manifesta manus croceas, et roscida curru
Vix bene prolato cum rore madesceret arvum,
Et matutino veniens apparuit orbe [...].

Als die goldene Aurora mit den rosigen Haaren schon sichtbar geworden die safranigen Hände blitzen liess und tauig im kaum vorgefahrenen Wagen mit Nass die Fluren befeuchtet und im morgendlichen Himmel hervorkommt und erscheint…

oder

Ut vero emicuit croceis iam roscida bigis,
Matutina iugo splendens Aurora ruenti [...]

Als aber im Frühtau die morgendliche Aurora im safranigen Zweispänner erstrahlte und leuchtet hinter dem Gebirge aufging [...].

Dadurch übersetzt Lemnius den homerischen Ausdruck keine zwei Mal auf dieselbe Weise, verwendet jedoch immer ähnliches, wiedererkennbares Wortmaterial. In diesem Fall scheint es aus Verg. Aen. 7,26 entlehnt, wo es heisst Iamque rubescebat radiis mare et aethere ab alto / Aurora in roseis fulgebat lutea bigis «Nun aber errötete in Strahlen das Meer und vom hohen Äther herab erschimmerte die rotgoldene Aurora im rosigen Zweispänner».

 

Rezeption und Gesamteindruck des Werks

Der Odyssee nach Lemnius war keine grosse Bekanntheit und Verbreitung beschieden. Die Humanisten des 16. Jahrhunderts scheinen sich nicht über sie geäussert zu haben. Als im Jahre 1777 Bernardo Zamagna aus Ragusa seine eigene Versübersetzung der Odyssee präsentiert, kritisiert er dabei im Vorwort die loquacitas des Simon Lemnius und den Überfluss an Vergilzitaten. Lemnius’ Werk war also durchaus nicht in Vergessenheit geraten. Es scheint aber, als ob auch auf Lemnius’ Werk zutrifft, was G. Huber-Rebenich für die Ilias des Eobanus Hessus annimmt: Jene, die Griechisch nicht konnten, sondern es noch lernten, nahmen mit den Interlinearübersetzungen eines Melanchthon vorlieb, und jene, die es konnten, griffen gleich zum Original: «Je konsequenter der Ruf ad fontes unter den Gelehrten befolgt wurde […], um so mehr versiegte das Bedürfnis nach Substituten, die weder eine praktische Anleitung zum Verständnis des Originals darstellten, noch die Qualität originärer Dichtung erreichen konnten». Wenn die Akademiker also die Lemnius-Übersetzung nicht lasen, so doch vielleicht in Latein gebildete Menschen, die Freude an Dichtung hatten, jedoch keine Zeit oder Lust, Griechisch zu lernen: Beamte, Juristen, Mediziner.

Bei seiner Übersetzung, die Andeutungen zu Exkursen breitschlägt, zeigt Lemnius eine beeindruckende Kenntnis der lateinischen Dichtung und den Wunsch, das wiederzugeben, was in der Vorlage gemeint ist. Er ignoriert jedoch den persönlichen Stil des Odysseedichters völlig. Vielmehr manifestiert sich hier ein eigener Stil, der sich in gelehrten Anspielungen und kraftvollen, überschwänglichen Bildern ausdrückt. In der bildenden Kunst ensteht zu eben dieser Zeit der Manierismus, und möglicherweise ist auch Lemnius’ Stil in diesem Kontext zu verstehen.

 

Bibliographie

Guex, D., Wie Odysseus über den Ofenpass kam. Simon Lemnius und seine Odyssee-Übertragung von 1549, Unpublizierte Masterarbeit, Universität Bern, 2020.

Luzzatto, G. L., «Die Übersetzung der Odyssee von Simon Lemnius im Rahmen der lateinischen Übersetzungen seiner Zeit», RÄTIA - Bündner Zeitschrift für Kultur 5 (1942), 244-255.

Mundt, L., Lemnius und Luther: Studien und Texte zur Geschichte und Nachwirkung ihres Konflikts (1538/39), Bern, Peter Lang Verlag, 1983.