Brief an Joachim Vadian: Bitte um ein Empfehlungsschreiben

Simon Lemnius

Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 10.02.2023.


Entstehungsdatum: 26. Juli 1541 (Briefdatum).

Handschrift (Autograph): St. Gallen, KB Vadiana SG, VadSlg Ms 34, fol. 46ro-vo.

Ausgaben: Vadianische Briefsammlung, Bd. 6, hg. von E. Arbenz/H. Wartmann, St. Gallen, Fehr’sche Buchhandlung, 1908, 51-52; L. Mundt, «Von Wittenberg nach Chur: Zu Leben und Werk des Simon Lemnius in den Jahren ab 1539», Daphnis 17 (1988), 163-222, hier: 186-187 (deutsche Übersetzung ebd., 187-188).

 

Nach seiner Rückkehr aus Deutschland in das heimatliche Graubünden 1539 trat Simon Lemnius dort eine Stelle als Lehrer an der Churer Nikolaischule an. Diese verdankte ihre Einrichtung den Churer Reformatoren Johannes Comander und Johannes Blasius und hatte ihren Unterrichtsbetrieb erst im Sommer oder Herbst 1539 begonnen. Comander und Blasius hatten sich für ihr Projekt die Unterstützung Heinrich Bullingers, des Zürcher Nachfolger Zwinglis, gesichert, der seinerseits im Februar 1539 den mächtigen Graubündner Johannes Travers brieflich für das Anliegen gewann; mit Travers’ Unterstützung wurde das Vorhaben realisiert. Finanziell ausgestattet wurde das Gymnasium mit dem Besitz zweier aufgelöster Churer Klöster (St. Luci und St. Nikolai); eines davon (St. Nikolai) wurde zum Schulhaus umfunktioniert.

Der Direktor der Schule (Nicolaus Artopoeus) erhielt 100 Gulden Jahresgehalt, die beiden übrigen Lehrkräfte (Lemnius und vermutlich sein Freund Wolfgang Salet) jeweils 50, was als niedrige Summe anzusehen ist. Vor diesem Hintergrund wird das Anliegen unseres Briefes verständlich: Lemnius möchte ein an den einflussreichen Johannes Travers adressiertes Gedicht veröffentlichen, weil er sich dadurch eine Verbesserung seiner finanziellen Lage erhofft (er scheint darauf zu rechnen, dass Travers ihm eine Lohnerhöhung vermitteln kann). Er bittet Vadian dabei um seine Mithilfe, nicht zuletzt um eine Empfehlung an Drucker, um die Publikation zu beschleunigen. Lemnius tritt Vadian persönlich dabei als Unbekannter gegenüber. Dies versucht er zum einen durch einen Verweis auf seine Schwägerschaft und Freundschaft mit dessen Bruder David wettzumachen (dreimal kommt er auf dieses Verhältnis zu sprechen, in dem er wohl nicht zu Unrecht sein stärkstes Argument erblickte); zum anderen dadurch, dass er sich als begeisterten Leser von Vadians Schriften bekennt und wiedergibt, was er über dessen hochherzigen und gegenüber derartigen Anliegen aufgeschlossenen Charakter gehört habe. Indem Lemnius derart herauszustellen versucht, wie gut er Vadian im Grunde schon kennt, versucht er ein vertrautes Verhältnis zu diesem herzustellen; ausserdem versucht er indirekt, Vadian eine abschlägige Antwort zu erschweren (denn die stünde ja zu dem Positiven, das Lemnius über ihn gehört haben will, in Widerspruch). Man kann wohl sagen, dass der Bittsteller Lemnius sich Vadian aus einer eher schwachen Position heraus nähert – schliesslich kennt Vadian ihn ja persönlich noch gar nicht, und doch behelligt ihn Lemnius schon bei der ersten Kontaktaufnahme gleich mit einer Bitte –, aus der er argumentativ dennoch das Beste zu machen versucht.

Ein Antwortbrief Vadians liegt uns nicht vor, und er ist vielleicht auch nie geschrieben worden, denn zu der von Lemnius gewünschten Einzelpublikation des Gedichts kam es nicht; sollte es eine Antwort gegeben haben, wird es ein ablehnender Bescheid gewesen sein. Immerhin konnte Lemnius sein Werk wahrscheinlich ein Jahr später im Rahmen seiner Amores-Sammlung doch noch veröffentlichen (Basel 1542), denn die dort enthaltene Elegie 4,2 (adressiert an Johannes’ Sohn Jakob Travers) ist als überarbeitete Fassung des 1541 im Brief an Vadian erwähnten Gedichts anzusehen.

 

Bibliographie

Mundt, L., «Von Wittenberg nach Chur: Zu Leben und Werk des Simon Lemnius in den Jahren ab 1539», Daphnis 17 (1988), 163-222.

Schiess, T., «Zur Geschichte der Nikolaischule in Chur während der Reformationszeit», Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 13 (1903), 107-145.

Schiess, T., «Ein Brief des Simon Lemnius an Vadian», in: Ders., Beiträge zur Geschichte St. Gallens und der Ostschweiz, St. Gallen, Fehrsche Buchhandlung, 1932, 216-228.