Raeteis: Stammvater Raetus; Maximilian-Lob; Schildbeschreibung (präsentiert von Florian Schaffenrath)
Simon Lemnius
Einführung: Florian Schaffenrath (traduction française: David Amherdt). Version: 10.02.2023.
Entstehungszeitraum: zwischen 1544 (Rückkehr des Lemnius nach Chur nach seinem Italienaufenthalt) und 1550 (Tod des Lemnius noch vor Abschluss des Epos).
Handschrift: Staatsarchiv Graubünden, Familienarchiv v. Tscharner-St. Margrethen, Chur, D V/3.210.001, fol. 41-131 [17. Jh.].
Ausgabe: Plattner (1874), hier: 16, 70 und 98.
Metrum: Hexameter.
Bekanntlich hat der aus Graubünden gebürtige Dichter Simon Lemnius (1522-1550) Gedichte in verschiedenen Gattungen verfasst. Sein episches Hauptwerk ist die Raeteis, die in neun Büchern die Kämpfe besingt, die sich 1499 zwischen den Bündnern (Raeti) auf der einen Seite und dem Schwäbischen Bund und den Tirolern auf der anderen Seite zugetragen haben. Entscheidend war dabei die Schlacht auf der Calven am Eingang des Münstertales, in der den Bündnern ein spektakulärer Sieg gegen die Feinde gelang, an deren Spitze letztlich der römisch-deutsche König Maximilian I. (1459-1519) stand.
Die Raeteis wurde von Lemnius als Bündner ‚Nationalepos‘ konzipiert, das sowohl den mythischen Ursprung des Volkes in der Art von Vergils Aeneis als auch den entscheidenden historischen Moment am Ende des 15. Jahrhunderts feiert, der letztlich zum Zusammenschluss der drei Bünde führte. Das Epos wurde 1874 von Placidus Plattner herausgegeben und ist in dieser Form einem weiteren Leserkreis zugänglich. Diese Ausgabe hat jedoch markante Mängel wie die bewusste Unterdrückung bestimmter Verse (z.B. fehlen zwölf Verse zwischen 6,74 und 6,75, weil Lemnius dort Dinge behauptet, die im Widerspruch zur historischen Realität stehen), was ein Vergleich mit Plattners handschriftlicher Vorlage, der Handschrift D V/3.210.001 (Familienarchiv Tscharner) aus dem Staatsarchiv Graubünden in Chur zeigt.
1. Stammvater Raetus (Raet. 1,575-586)
Am Ende des ersten Buches der Raeteis lässt Lemnius die Figur des Rodolphus Marmorides auftreten, für den Rudolf von Marmels (um 1460-1553) Pate gestanden hat. In seiner Eigenschaft als bischöflicher Vogt von Greifenstein führte dieser 1499 ein Truppenkontingent in die Calven-Schlacht, später wurde er u. a. Bürgermeister von Chur und Landeshauptmann der Drei Bünde im Veltlin. In der Raeteis trägt Rodolphus eine lange Rede vor (Raet. 1,549-686), in der er die rätische Urgeschichte von der Einwanderung der von den Galliern vertriebenen Etrusker bis hin zur römischen Eroberung des Alpenraumes darstellt. Diese Rede ergänzt den historischen Überblick, den Venus am Beginn des ersten Buches (Raet. 1,140-215) auf dem Olymp zur Erklärung der aktuellen Kriegssituation des Jahres 1499 gegeben hat.
Wie aus dem folgenden kurzen Ausschnitt aus der Rede des Rodolphus klar zu ersehen ist, handelt es sich bei den Raetern ursprünglich um Etrusker, die von den im 4. Jahrhundert v. Chr. nach Italien einfallenden Galliern im Krieg besiegt und zur Auswanderung gezwungen worden waren. Unter ihrem Anführer Raetus, von dem sich ihr späterer Name ableiten sollte, machte sich ein Teil der Etrusker nach einer verlorenen Schlacht am Fluss Ticinus in den Alpenraum auf, um sich dort neu anzusiedeln. Lemnius hat dieses aition der Raeter nicht selbst erfunden. Der Historiker Aegidius Tschudi (1505-1572) brachte es am Beginn seines Werkes Die uralt warhafftig Alpisch Rhetia (Basel 1538) im Kapitel Wie die Rhetier, yetz Churwalhen genant, uss Italia kommen, und Thuscaner gewesen, ouch von Rheto irem Houptman, und etlichen Geschlechten.
Mit Raetus stand Lemnius aus der lokalen Historiographie eine Figur zur Verfügung, die zahlreiche Ähnlichkeiten und Parallelen zu Aeneas, dem Urvater der Römer, aufwies: Beide mussten eine kriegerische Niederlage einstecken und sahen sich gezwungen, ihr Vaterland zu verlassen, um sich in der Fremde neu anzusiedeln. Beide wurden zu Stammvätern eines mächtigen und im Krieg hervorragenden Volkes. Lemnius spielt auf diese Parallelen auch sprachlich an, indem er bei der Erzählung von Raetus zahlreiche intertextuelle Verweise auf das Proömium der Aeneis Vergils einbaut (v. a. profugus, ab oris, viri, genus unde, patres, gentis).
2. Lob Maximilians (Raet. 4,719–739)
In einem episodenreichen Abschnitt des 4. Buches der Raeteis (4,369-684) wird davon berichtet, wie sich die Truppen des Schwäbischen Bundes und der Eidgenossen entlang des Rheins zahlreiche Gefechte liefert, ehe dann Maximilian I. selbst in die Kämpfe eingreift. Er ist zunächst wütend darüber, dass seinem Befehl, mit den Eidgenossen Frieden zu schliessen und zu halten, nicht Folge geleistet wurde. So kehrt er nun aus Geldern zurück und greift selbst zu den Waffen gegen die Eidgenossen. Der Dichter unterbricht seine Erzählung für zwei allgemeine Einschübe: eine Klage, dass Maximilian seine Kräfte viel sinnvoller gegen die Türken einsetzen könnte (4,711-718), und ein allgemeines Lob Maximilians, das im Kontext der Raeteis sonderbar anmutet. Immerhin ist Maximilian der Oberbefehlshaber der Feinde der Raeter. Lemnius aber lässt ihn in seiner Geschichte kaum auftauchen: Maximilian tritt in der Raeteis kaum selbst in Aktion, und wenn er handelt – so wie hier im 4. Buch – dann wird sein Handeln in auktoriale Äusserungen eingebettet. Eine Hypothese, warum Lemnius hier Maximilians Lob singt, könnte lauten, dass der Dichter zur Zeit der Genese der Raeteis immer noch auf der Suche nach einem mächtigen Mäzen war: Die Odyssee-Übersetzung, die Lemnius 1549 in Basel herausbrachte, widmete er dem französischen König Heinrich II., dem er sich auch als epischer Verherrlicher seiner Kriegstaten andient – vergebens. Auch zum Haus Habsburg, für das Maximilian Mitte des 16. Jahrhunderts eine starke Referenzfigur war, wollte sich Lemnius wohl alle Möglichkeiten offenhalten.
3. Lemnius‘ Vater mit Sohn auf dem Schild (Raet. 6,265-281)
Eine stark metapoetisch aufgeladene Passage findet sich im 6. Buch der Raeteis: Mitten in der Beschreibung der Kriegslist der Raeter, die in der Nacht einen Berg überqueren, um den verschanzten königlichen Truppen in den Rücken zu fallen, wird erwähnt, dass auch der Vater des Dichters Teil dieser Spezialtruppe war. Wie Benedikt Fontana (im 5. Buch) hat auch Lemnius sen. einen Schild von Vulkan erhalten – und wird somit in die epische Tradition von Achilles und Aeneas gestellt, die bei Homer und Vergil ebenfalls mit göttlichen Waffen ausgestattet wurden. Auf Lemnius’ Schild ist sein Sohn abgebildet, Simon Lemnius, der Dichter der Raeteis, der sich in dieser kleinen Vignette selbst ein Denkmal setzt, indem er wichtige Stationen seiner Biographie und frühere Werke nennt. Sprachlich lehnt sich die Passage sehr eng an Silius Italicus (Pun. 8,404-411) an. Dort wird im Vorfeld der Schlacht bei Cannae ein Tullius geschildert, der sich als Urahn des späteren M. Tullius Cicero entpuppt, der dann für seine literarischen Qualitäten gelobt wird, wie hier in der Raeteis Lemnius’ Sohn Simon als vortrefflicher Literat erscheint.
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Der Gotteshausbunf, der Gaue Bund und der Zehntgerichtenbund bildeten gemeinsam die «Drei Bünde», die auf dem Territorium des heutigen Kantons Graubünden bestanden und politisch gerade auch mit Blick auf aussenpolitische Fragen eng kooperierten; 1524 gaben sie sich eine gemeinsame Verfassung; der daraus resultierende Freistaat hatte bis zu seiner Eingliederung in die «Helvetische Republik» 1799 bestand. Näheres dazu etwa M. Bundi, «Graubünden» [Kapitel 3.2-3.5], Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 11.01.2018, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007391/2018-01-11/.