Ein Brief über die Gebräuche, die Einrichtungen und die Statuten der Schule von Zürich
Traduction (Allemand)
Ein Brief über die Gebräuche, die Einrichtungen und die Statuten der Schule von Zürich, den der Herr Johannes Fabricius einst an den Herrn Hyperius nach Marburg geschrieben hat. Geschrieben in Zürich am 1. Februar 1554
Johannes Fabricius wünscht dem Herrn Doktor Andreas Hyperius Gnade und Frieden in Christus.
[…]
Ein Knabe, der dereinst zum Kirchendienst zugelassen werden soll, muss einige Eigenschaften besitzen, und es müssen um ihn herum bestimmte Verhältnisse herrschen. Drei Eigenschaften aber muss ein Knabe meiner Meinung nach besitzen: einen sittlich einwandfreiem Charakter; eine Begabung, die, wenn sie schon nicht exzellent ist, wenigstens das Mittelmass erreichen muss, und eine natürliche Neigung zu den edlen Wissenschaften. Um den Knaben herum müssen aber folgende Dinge vorhanden sein: Zeitpunkt, Ort, Lehrer und Stipendien. Über die drei erstgenannten Dinge will ich nichts weiter, über die vier später genannten aber will ich kurzgefasst etwas an Dich schreiben.
Als erstes zum Zeitpunkt.
Was für eine primäre Bedeutung der Zeitpunkt in allen Dingen besitzt, ist niemandem unbekannt. Was unter seinen Auspizien in rechter Weise ausgeführt wird, das hält man für rechtzeitig geschehen. Jenes Stück Zeit aber, das in sich die Möglichkeit zu irgendeiner Sache oder zum Tun oder Nicht-Tun einer Sache trägt, haben die Griechen καιρός [Kairos=günstige Gelegenheit], die Lateiner aber occasio [Gelegenheit] genannt. Dass aber noch so gute Gelegenheiten manchmal durch schwierige örtliche Verhältnisse, Mangel an Lehrern und ungünstige finanzielle Verhältnisse ausgeschlossen werden, das beweist das Ergebnis selbst.
Günstige örtliche Verhältnisse, ein Reservoir an Lehrkräften und eine freigiebige Stipendienvergabe haben also eine sehr enge Beziehung zum Zeitpunkt der günstigen Gelegenheit. Also ist es klug, dass in unserer Kirche diese vier Dinge miteinander verknüpft und durch wechselseitige, untereinander getroffene Schutzmassregeln stabilisiert werden.
Über die übrigen drei werde ich mich nun der Reihe nach äussern.
Es gibt bei uns im Ganzen drei Stätten, an denen die edlen Wissenschaften gelehrt und erlernt werden. Es gibt zwei Schulen, an denen die lateinische und griechische Literatur gelehrt werden. So bringt es die Lage unserer Stadt mit sich, die in ihrer Mitte ein Fluss durchschneidet und zwei Brücken von neuem miteinander verbinden. Diese Schulen unterscheiden sich nur nach ihrem Standort; in ihrer Lehrer- und Klassenzahl unterscheiden sie sich nicht. Die eine von ihnen gehört den Kanonikern, die andere ist mit unserem Kollegium verbunden. In diesen Schulen werden die Knaben, nachdem sie erfolgreich mit der griechischen und lateinischen Literatur vertraut gemacht worden sind, schliesslich durch die von den Gelehrten gemeinsam erteilte Zustimmung zu den öffentlichen Vorlesungen zugelassen. Für die öffentlichen Vorlesungen ist aber ein eigenes Lektorium bestimmt, das an die grösste Kirche angrenzt. Wenn jemand zu diesen Stätten noch das Ratskollegium hinzurechnen will, dem ich nun vorstehe, weil dort nicht weniger als anderswo die edlen Wissenschaften gelehrt werden, dann irrt er sich nicht sehr.
Ich komme zu den Lehrern. Je fünf didascali verwalten die einzelnen Schulen. Diese unterscheiden sich an Würde und durch ihre Aufgaben. Einer von ihnen, der in seiner Schule den ersten Platz einnimmt, wird praeceptor genannt. Er erklärt in den Morgenstunden die griechischen Autoren. Die Autoren sind die, die nach dem gemeinsamen Beschluss der Gelehrten je nach den Zeitumständen und dem Verständnisvermögen der Knaben für jedes einzelne Jahr festgelegt werden. Am Nachmittag verwendet er den gleichen Zeitumfang auf das Erklären der lateinischen Autoren. Einige Stunden verbringt er auch mit Prüfungen, Stil und Schrift. Den nächsten Platz hinter dem Präzeptor nimmt der ein, der provisor heisst. Der verwendet jeden Tag vier Stunden auf (Vor-)Lesen und Prüfen. Es bleiben noch die Lehrer der drei Klassen, die «Lektoren» genannt werden. Auch ihre Würde und ihr Stand nehmen im Verhältnis zu ihren Rangstufen ab.
Ich komme zu den öffentlichen Lehrern. Vor dem Mittagessen gibt es im Ganzen eine Vorlesung. In ihr wird zuerst vom Herrn Pellikan ein Buch des Alten Testaments in der hebräischen Version, hierauf vom Herrn Theodor Bibliander in der griechischen Version erklärt. Als drittes wird von dem gleichen Bibliander eine rechtgläubige Erklärung hinzugefügt. Die Bildung dieses Mannes ist aber so gross und sein Talent verbindet sich mit einem so grossen Bildung zum Sprechen und Kommentieren, dass er auch in einem bestimmten Zeitraum alle Bücher des Alten Testaments hinter sich bringt, hierauf aber zum Angangspunkt seiner Vorlesung zurückkehrt. Diese Vorlesung besuchen gerade die Gelehrtesten sehr eifrig. Bullinger und alle übrigen Gelehrten, die wir besitzen, schmücken dieses Versammlung nicht nur durch ihre Anwesenheit, sondern sie stacheln auch den Eifer des Professors an und verschaffen dem Vorlesenden Autorität und Würde.
Den Rest des Tages nach dem Mittagessen wird auf die übrigen Vorlesungen verwendet. Eine Stunde erfordert die Dialektik; eine das Studium des Griechischen. Für sie ist nun Rudolf Ambühl, mein Schwiegervater, zuständig. Homer und die Reden des Demosthenes folgen dabei in Jahresabständen aufeinander. Philosophie unterrichtet Conrad Gessner. Josias Simler, der Schwiegersohn Bullingers, hat neulich begonnen, das Neue Testament öffentlich auszulegen und macht darin erfolgreich Fortschritte.
Du fragst vielleicht, weil Du ja über das Einrichten von Kollegien sprichst, für welche Art von Vorlesung ich zuständig bin. Erfahre dies in kurzen Worten: Die Schüler, die unter meiner Leitung und Führung die edlen Wissenschaften lernen, besuchen entweder Schulen oder öffentliche Vorlesungen. Die Arbeit, die für die einzelnen beim Abhalten eines Kurses bloss eine ist, vervielfacht sich für mich beim Repetieren also, und doch habe ich sie mit den einzelnen gemeinsam. Allerdings wird mir die hebräische Sprache zur ausführlicheren und genaueren Behandlung überlassen, weil sie vom Herrn Pellikan (so bringt es nämlich die heilige Methode einer Vorlesung mit sich) kurz und konzise gleichsam nur gestreift wird.
Predigten gibt es bei uns sehr viele, und sie sind so beschaffen, dass sie nicht weniger als die öffentlichen Vorlesungen der Bildung eines Theologen nützlich sind. Ich habe also einige Mühe damit, die Predigten (wenn schon nicht alle, so doch die wichtigsten) auf die in ihnen enthaltenen Weisungen zurückzuführen, was ich etwa zu Tische tue. Denn wie ich mich als erster von allen zu Tische begebe, so verlasse ich das Mahl als letzter. Auf diese Art übermittle ich zugleich den Knaben Tüchtigkeit und bürgerliche Gesinnung, soweit sie mir zueigen sind. Am Sonntag aber, der für uns der Herrentag ist, lege ich bei mir daheim einen Paulusbrief so sorgfältig wie möglich aus, bevor ich meine Schüler zur heiligen Versammlung führe. Und weil wir Vorlesungen und Predigten bei uns im Übermass haben, reicht es mir, die Wohnsitze und die Verknüpfungen der Argumente aufzuzeigen und manchmal auf einen theologischen Grundbegriff zu beziehen. Was den Brief an die Römer angeht, so kann ich niemals angemessen genug zum Ausdruck bringen, wie sehr Deine Arbeit mir geholfen hat.
Wir präsentieren auf diesem Portal mehrere Schriften von Heinrich Bullinger (1504-1575), Zwinglis Nachfolger in der Führung der Zürcher Kirche auf diesem Portal (dort auch nähere Angaben zu seiner Person). Hier sei nur verwiesen auf H. U. Bächtold, «Bullinger, Heinrich», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 07.04.2011, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010443/2011-04-07/.
Wir präsentieren an anderer Stelle auf diesem Portal Teile von Ambühls Autobiographie (dort auch nähere Angaben zu seiner Person). Hier sei nur verwiesen auf H. U. Bächtold, «Ambühl, Rudolf», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 17.07.2001, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010570/2001-07-17/