Autobiographie

Rudolf Ambühl (Collinus)

Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 10.02.2023.


Entstehungszeitraum: Die Schlussworte der Autobiographie sind auf den 1. Januar 1576 datiert; sie dürfte in den Wochen und Monaten zuvor entstanden sein.

Handschrift: Heute wohl nicht mehr vorhanden, der Herausgeber von 1722 hat nach eigener Angabe aber ein Autograph des Collinus verwendet (p. 1: «αὐτόγραφον Rodolphi Collini»).

Ausgabe: Vita Rodolphi Collini, professoris linguae Graecae Tigurini, ab ipso Collino descripta et hactenus nunquam edita, in: Miscellanea Tigurina, Bd. 1.1, Zürich, Bodmerische Druckerei, 1722, 1-29, hier: 1, 5-6, 12-14 und 25-27.

Deutsche Übersetzung: «Rudolf Collins Schilderung seines Lebens. Verdeutscht von Salomon Vögelin», Zürcher Taschenbuch 2 (1859), 179-220.

 

Rudolf Ambühl (latinisiert Collinus oder auch Clivanus) wurde 1499 in Gundolingen (heute ein kleiner Weiler zwischen Rain und Hildisrieden im Kanton Luzern) als Sohn eines wohlhabenden Bauern geboren. Er verstarb am 9. März 1578 in Zürich. Seine Bedeutung liegt vor allem in seinen Aktivitäten als Griechischprofessor (seit 1526); er übersetzte zum Beispiel Werke des Euripides und des Demosthenes ins Lateinische und leitete die Aufführung des Ploutos des Aristophanes im griechischen Original, die am Neujahrstag 1531 in Zürich stattfand; daneben schrieb er auch viele lateinische Gelegenheitsgedichte.

Seine hier in Auszügen wiedergegebene Autobiographie umfasst die Zeit bis 1531. Einen Hinweis auf ihre Abfassungszeit gibt der 1. Januar 1576 als terminus ante quem. Unter diesem Datum brach Ambühl seinen Bericht mit der Bemerkung ab, er fühle den Tod herannahen und empfehle seine Seele Gott an; wie sein oben bereits angeführtes Todesdatum zeigt, hat er sich mit seiner Einschätzung nicht allzu sehr getäuscht. Gedruckt wurde diese Autobiographie erst deutlich später, im 18. Jahrhundert.

Es fällt auf, dass am Beginn dieser Autobiographie ein Epigramm steht, das in nummerierter Reihenfolge die sieben Lebensetappen des Collinus aufführt, die dann in der Vita detaillierter beschrieben werden. Dieses Verfahren erinnert an die lemmatisierten Kommentare, die die Humanisten zur Erläuterung antiker Texte verfassten.

Der Text gliedert sich in sieben nicht allzu lange Kapitel, deren grober Inhalt jeweils folgender ist:

  1. Die Geburt in Gundolingen.
  2. Die Studienzeit in Beromünster, Luzern, Basel, Wien (1517-19; dort ist er auch Schüler des Joachim Vadian) und Mailand (1520-22); seine Rückkehr in die Schweiz (1522); seine Zeit als Lehrer im Kloster St. Urban am Rande des Luzerner Territoriums und seine Ernennung zum Chorherren in Beromünster. Ambühl fügt in dieses Kapitel auch zwei deutschsprachige Urkunden ein, die sich auf diese Chorherrenpfründe beziehen und seine Ausführungen bestätigen; ausserdem fügt er in deutscher Sprache an gegebener Stelle eine Anekdote ein, die belegen soll, dass er seinen Vater durch seine Mailänder Studienerfolge stolz gemacht habe.
  3. 1524 begab sich Ambühl von St. Urban aus nach Zürich und entsagte seiner Chorherrenpfründe; um seinen Lebensunterhalt zu sichern, ergriff er den Seilerberuf.
  4. Seine «Soldatenzeit»: 1524 nahm er am «wilden Auszug» Zürcher Truppen nach Waldshut zur Unterstützung der dortigen Wiedertäufer gegen die Habsburger teil, 1525 beteiligte er sich als Söldner am erfolglosen Feldzug Herzog Ulrichs zur Rückeroberung Württembergs von den Habsburgern. Ferner erzählt Ambühl hier von seiner Teilnahme an der Berner Disputation (1528) und an dem Marburger Religionsgespräch (1529) und von diplomatischen Missionen nach Venedig (1529) und Frankreich (1531). Auch in diesen Abschnitt hat Ambühl kurze deutsche Zitate eingestreut, mündliche Äusserungen von damals.
  5. Hier erzählt Ambühl von seiner Erlangung des Zürcher Bürgerrechts (1526), seiner Aufnahme in die Seilerzunft und seinen häuslichen Verhältnissen. Auch in dieses Kapitel hat er zwei deutschsprachige Schreiben eingefügt.
  6. Hier geht es um seine Ernennung zum Professor der Griechischen Sprache (1526); bis 1531 sah er sich zur Sicherung seines Lebensunterhalts gezwungen, daneben noch dem Seilerhandwerk nachzugehen.
  7. In diesem Kapitel spricht Ambühl von seinem Tod, den er herannahen fühlt und empfiehlt seine Seele Gott an.

Wir präsentieren hier Passagen aus den Abschnitten 2 und 3 sowie die kompletten Abschnitte 6 und 7.

In Abschnitt 2 ist in der ersten hier aufgenommenen Passage das vernichtende Urteil Ambühls über die Qualität des Wiener Universitätsunterrichts bildungsgeschichtlich interessant; kulturgeschichtlich aufschlussreich seine Klage über die damals in Wien herrschende Trunksucht. Mit einem Vergilzitat verdeutlicht Ambühl, wie gerne er von Wien in seine Heimat zurückkehrte. In der zweiten Passage erzählte er, wie er bei einer von der Luzerner Obrigkeit gegen den aufkommenden Protestantismus im Stift St. Urban angestellten Untersuchung sich alleine schon durch den Besitz griechischer Bücher verdächtig gemacht habe. Diese Erzählung motiviert natürlich indirekt den im folgenden Abschnitt 3 berichteten Weggang nach Zürich. Indem Ambühl die ignorante Äusserung eines der inspizierenden Ratsherren über seine griechischen Bücher referiert, macht er nicht nur diesen lächerlich, sondern legt zugleich die Vermutung nahe, bei seinen Gegnern habe es sich generell um Obskuranten und geistige Hinterwäldler gehandelt.

Aus Abschnitt 3 präsentieren wir seinen humorvollen Bericht über seine Ankunft in Zürich ausgerechnet zur Zeit der Alten Fasnacht und seine Erklärung, dass er auf die seine Pfründe in Beromünster aus eigener Überzeugung verzichtet habe, obwohl ihm seine Freunde davon abrieten. Ambühl vermittelt hier von sich das Bild eines Mannes, der um seiner religiösen (reformierten) Überzeugungen willen auf materielle Vorteile zu verzichten bereit ist. Letztlich war es ja diese Entscheidung, die ihn dazu zwang, sich dem Seilerhandwerk zu widmen, wovon er im weiteren (hier nicht präsentierten) Verlauf dieses Abschnitts berichtet.

Abschnitt 6 thematisiert Ambühls Zürcher Griechischprofessur, die ihm in den Anfangsjahren so wenig einbrachte, dass er daneben weiter als Seiler arbeiten musste. Menschlich sympathisch macht ihn sein Bekenntnis (wenn es denn wahr ist), dass er die Zürcher Professorenstelle zu seiner eigenen Überraschung erhielt, ohne sich darum überhaupt beworben zu haben. In jedem Fall erweckt diese Autobiographie nicht nur hier auch beim Leser des 21. Jahrhunderts den Eindruck, es mit einer angenehm bodenständigen Persönlichkeit zu tun zu haben.

Abschnitt 7 könnte man als Glaubensbekenntnis des Autors bezeichnen, der bekundet, sein Schicksal stets Gott anheimgestellt zu haben. Eine kurze poetische Mahnung an seine Nachkommen, sich als gute Familienangehörige, Zürcher und Schweizer zu bewähren, beschliesst seine Ausführungen. Auf weitere Gedichte über den mittlerweile verstorbenen Ambühl (darunter auch eines seines gleichnamigen Sohnes, den wir an anderer Stelle auf diesem Portal genauer vorstellen), die die Handschrift ausweislich der Zürcher Ausgabe von 1722 im Folgenden noch enthielt, gehen wir hier nicht weiter ein.

Bemerkenswert ist, dass Ambühl seine Konversion zum reformierten Bekenntnis – die ja der massgebliche Grund für seinen Umzug nach Zürich im Jahr 1524 gewesen war – nicht ausdrücklich erwähnt und überhaupt auf theologische Fragen nicht weiter eingeht. Selbst seine Teilnahme an dem für die Geschichte des Protestantismus so folgenreichen Marburger Gespräch wird nur kurz notiert (S. 21 in der Ausgabe von 1722). Überhaupt ist der Leser bisweilen überrascht darüber, welche Details seines Lebens Collinus ausführlich erzählt und über welche Ereignisse er nur kursorisch hinweggeht. Gerade dadurch aber gewinnt diese Autobiographie an Authentizität.

 

Bibliographie

Bächtold, H. U., «Ambühl, Rudolf», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 17.07.2001, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010570/2001-07-17/.

Furrer, K., Rudolf Collin. Ein Charakterbild aus der Schweizerischen Reformationsgeschichte, Halle, C. E. M. Pfeffer, 1862.

Hartmann, A., «Collinus, Rudolfus», Neue Deutsche Biographie 3 (1957), 325, Onlineversion, https://www.deutsche-biographie.de/pnd119605562.html#ndbcontent.