Autobiographie
Rudolf Ambühl (Collinus)
Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 29.01.2024.
Entstehungszeitraum: Die Schlussworte der Autobiographie sind auf den 1. Januar 1576 datiert; sie dürfte in den Wochen und Monaten zuvor entstanden sein.
Handschrift: Heute wohl nicht mehr vorhanden, der Herausgeber von 1722 hat nach eigener Angabe aber ein Autograph des Collinus verwendet (p. 1: «αὐτόγραφον Rodolphi Collini»).
Ausgabe: Vita Rodolphi Collini, professoris linguae Graecae Tigurini, ab ipso Collino descripta et hactenus nunquam edita, in: Miscellanea Tigurina, Bd. 1.1, Zürich, Bodmerische Druckerei, 1722, 1-27.
Deutsche Übersetzung: «Rudolf Collins Schilderung seines Lebens. Verdeutscht von Salomon Vögelin», Zürcher Taschenbuch 2 (1859), 179-220.
Rudolf Ambühl (latinisiert Collinus oder auch Clivanus) wurde 1499 in Gundolingen (heute ein kleiner Weiler zwischen Rain und Hildisrieden im Kanton Luzern) als Sohn eines wohlhabenden Bauern geboren. Er verstarb am 9. März 1578 in Zürich. Seine Bedeutung liegt vor allem in seinen Aktivitäten als Griechischprofessor (seit 1526); er übersetzte zum Beispiel Werke des Euripides und des Demosthenes ins Lateinische und leitete die Aufführung des Ploutos des Aristophanes im griechischen Original, die am Neujahrstag 1531 in Zürich stattfand; daneben schrieb er auch viele lateinische Gelegenheitsgedichte.
Seine hier präsentierte Autobiographie umfasst die Zeit bis 1531. Einen Hinweis auf ihre Abfassungszeit gibt der 1. Januar 1576 als terminus ante quem. Unter diesem Datum brach Ambühl seinen Bericht mit der Bemerkung ab, er fühle den Tod herannahen und empfehle seine Seele Gott an; wie sein oben bereits angeführtes Todesdatum zeigt, hat er sich mit seiner Einschätzung nicht allzu sehr getäuscht. Gedruckt wurde diese Autobiographie erst deutlich später, im 18. Jahrhundert.
Es fällt auf, dass am Beginn dieser Autobiographie ein Epigramm steht, das in nummerierter Reihenfolge die sieben Lebensetappen des Collinus aufführt, die dann in der Vita detaillierter beschrieben werden. Dieses Verfahren erinnert an die lemmatisierten Kommentare, die die Humanisten zur Erläuterung antiker Texte verfassten.
Der Text gliedert sich in sieben nicht allzu lange Kapitel, deren grober Inhalt jeweils folgender ist:
- Die Geburt in Gundolingen. Ambühl erklärt die Herkunft seines Familiennamens aus einem historischen Kontext heraus. In der Tatsache, dass er in einem Nachbarort getauft wurde, sieht er nachträglich ein Zeichen seiner Vorbestimmung für ein Wanderleben. Er erzählt von seinen Eltern und Taufpaten. Sein genaues Geburtsdatum ist ihm unbekannt, es war aber die Osterwoche 1499, die er in grösseren historischen Zusammenhängen verankert.
- In diesem Kapitel schildert er seine Studienzeit in Beromünster, Luzern, Basel, Wien (1517-19; dort ist er auch Schüler des Joachim Vadian) und Mailand (1520-22); seine Rückkehr in die Schweiz (1522); seine Zeit als Lehrer im Kloster St. Urban am Rande des Luzerner Territoriums und seine Ernennung zum Chorherren in Beromünster. Ambühl würdigt in diesem Kapitel seine Lehrer und Kommilitonen. Er fügt darin auch zwei deutschsprachige Urkunden ein, die sich auf diese Chorherrenpfründe beziehen und seine Ausführungen bestätigen; ausserdem streut er in deutscher Sprache an gegebener Stelle eine Anekdote ein, die belegen soll, dass er seinen Vater durch seine Mailänder Studienerfolge stolz gemacht habe. In dem Bericht über seine Mailänder Tage kommt zudem indirekt eine antikaiserliche, profranzösische Einstellung zum Vorschein. Bildungsgeschichtlich bemerkenswert ist das vernichtende Urteil Ambühls über die Qualität des Wiener Universitätsunterrichts; kulturgeschichtlich aufschlussreich ist seine Klage über die damals in Wien herrschende Trunksucht. Mit einem Vergilzitat verdeutlicht Ambühl, wie gerne er von Wien in seine Heimat zurückkehrte. In demselben Kapitel berichtet er, wie er bei einer von der Luzerner Obrigkeit gegen den aufkommenden Protestantismus im Stift St. Urban angestellten Untersuchung sich alleine schon durch den Besitz griechischer Bücher verdächtig gemacht habe. Diese Erzählung motiviert natürlich indirekt den im folgenden Kapitel 3 berichteten Weggang nach Zürich. Indem Ambühl die ignorante Äusserung eines der inspizierenden Ratsherren über seinen griechischen Bücherschatz referiert, macht er nicht nur diesen lächerlich, sondern legt zugleich die Vermutung nahe, bei seinen Gegnern habe es sich generell um Obskuranten und geistige Hinterwäldler gehandelt.
- 1524 begab sich Ambühl von St. Urban aus nach Zürich und entsagte seiner Chorherrenpfründe; um seinen Lebensunterhalt zu sichern, ergriff er den Seilerberuf. Seinen Bericht über seine Ankunft in Zürich ausgerechnet zur Zeit der Alten Fasnacht gestaltet Ambühl anschaulich und humorvoll. Es folgt seine Erklärung, dass er auf die seine Pfründe in Beromünster aus eigener Überzeugung verzichtet habe, obwohl ihm seine Freunde davon abrieten. Ambühl vermittelt hier von sich das Bild eines Mannes, der um seiner religiösen (reformierten) Überzeugungen willen auf materielle Vorteile zu verzichten bereit ist. Letztlich war es ja diese Entscheidung, die ihn dazu zwang, sich dem Seilerhandwerk zu widmen, wovon er im weiteren Verlauf dieses Abschnitts berichtet (seine Lehre etc.).
- Seine «Soldatenzeit»: 1524 nahm Ambühl am «wilden Auszug» Zürcher Truppen nach Waldshut zur Unterstützung der dortigen Wiedertäufer gegen die Habsburger teil; er streicht in seinem Bericht darüber seine Vermittlerrolle zwischen den Soldaten und dem die Aktion kritisch gegenüberstehenden Zürcher Rat heraus. 1525 beteiligte er sich als Söldner am erfolglosen Feldzug Herzog Ulrichs zur Rückeroberung Württembergs von den Habsburgern. Ambühl geht sehr ausführlich auf die Ursachen des Scheiterns ein und streicht seine guten Beziehungen zum Herzog und dessen Kanzler heraus. Er präsentiert seine Teilnahme am Feldzug als wohldurchdachte Unternehmung, die er am Ende in Einvernehmen mit dem Herzog beendete (was stark von denjenigen Schweizer Söldnern absticht, deren Abfall vom Herzog er zuvor als zutiefst schändlich dargestellt hatte). Wenn er von einer alten Frau erzählt, die ihn, als er bei ihr Quartier nahm, lobte und mit frommen und guten Ratschlägen bedachte, macht er deutlich, dass er sich im Unterschied zu den anderen Soldaten, die bei ihr wohnten, vorbildhaft benahm. Anschliessend an diese kriegerischen Unternehmungen erzählt Ambühl von seiner Teilnahme an der Berner Disputation (1528) und an dem Marburger Religionsgespräch (1529) und von diplomatischen Missionen nach Venedig (1529) und Frankreich (1531). Auch in dieses Kapitel hat Ambühl kurze deutsche Zitate eingestreut, mündliche Äusserungen von damals, unter anderem aus seinen Gesprächen mit dem Herzog, wodurch noch einmal unterstrichen wird, auf wie gutem Fusse er mit dieser hochrangigen Persönlichkeit stand.
- Hier erzählt Ambühl unter genauer Berücksichtigung von Zeitpunkten, Orten, Personen und Kostenaufwand von seiner Erlangung des Zürcher Bürgerrechts (1526), seiner Aufnahme in die Seilerzunft, seiner späteren Karriere in dieser und seinen (damals noch recht bescheidenen) häuslichen Verhältnissen. Auch in dieses Kapitel hat er zwei deutschsprachige Texte eingefügt; der erste ist eine Ehrenerklärung vonseiten der Stadt Rotenburg, der zweite Ambühls Erklärung, weshalb er dieses Dokument anstatt eines Mannrechts bei den Zürcher Autoritäten eingereicht hatte (die es als Ersatz akzeptierten).
- Hier geht es um seine Ernennung zum Professor der Griechischen Sprache (1526); bis 1531 sah er sich zur Sicherung seines Lebensunterhalts gezwungen, daneben noch dem Seilerhandwerk nachzugehen. Es verdient Hervorhebung, dass dieses Kapitel, indem es um seine gelehrte Tätigkeit geht, im Vergleich mit seiner Schilderung seines militärischen und politischen Engagements und seines Seilerberufs erstaunlich knapp ausfällt. Menschlich sympathisch macht ihn sein Bekenntnis (wenn es denn wahr ist), dass er die Zürcher Professorenstelle zu seiner eigenen Überraschung erhielt, ohne sich darum überhaupt beworben zu haben. In jedem Fall erweckt diese Autobiographie nicht nur hier auch beim Leser des 21. Jahrhunderts den Eindruck, es mit einer angenehm bodenständigen Persönlichkeit zu tun zu haben, was im akademischen Betrieb selten ist.
- In diesem kurzen Kapitel spricht Ambühl von seinem Tod, den er herannahen fühlt und empfiehlt seine Seele unter Berufung auf Psalm 30 Gott an. Man kann dieses Kapitel als Glaubensbekenntnis des Autors bezeichnen, der bekundet, sein Schicksal stets Gott anheimgestellt zu haben. Eine kurze poetische Mahnung an seine Nachkommen, sich als gute Familienangehörige, Zürcher und Schweizer zu bewähren, beschliesst seine Ausführungen. Auf weitere Gedichte über den mittlerweile verstorbenen Ambühl (darunter auch eines seines gleichnamigen Sohnes, den wir an anderer Stelle auf diesem Portal genauer vorstellen), die die Handschrift ausweislich der Zürcher Ausgabe von 1722 im Folgenden noch enthielt, gehen wir hier nicht weiter ein.
Überschaut man die gesamte Autobiographie, fällt nicht nur auf, wie knapp Ambühl seinen gelehrten Beruf abhandelt (der ja letztlich dafür verantwortlich ist, dass er als Humanist auf diesem Portal einen Platz erhält); sein Studium dagegen würdigt er recht ausführlich. Offensichtlich steht für ihn jedoch, sobald man die Jugend hinter sich gelassen hat, Bürgertugend über wissenschaftlichen Meriten (hierin mag sich auch die Wertehierarchie des familiären und über diesen Rahmen hinausgehenden Publikums widerspiegeln, für das er schreibt). Bemerkenswert ist auch, dass Ambühl seine Konversion zum reformierten Bekenntnis – die ja der massgebliche Grund für seinen Umzug nach Zürich im Jahr 1524 gewesen war – nicht ausdrücklich erwähnt und überhaupt auf theologische Fragen nicht weiter eingeht. Selbst seine Teilnahme an dem für die Geschichte des Protestantismus so folgenreichen Marburger Gespräch wird in Kapitel 4 nur kurz notiert. Überhaupt ist der Leser zunächst oft überrascht darüber, welche Details seines Lebens Collinus ausführlich erzählt und über welche Ereignisse er nur kursorisch hinweggeht. Gerade dadurch aber gewinnt diese Autobiographie an Authentizität – oder sagen wir besser: Sie macht auf den Leser jenen Eindruck von Authentizität, den Ambühl anstrebte. Denn bei genauerem Hinsehen wird ein Muster deutlich: Ambühl ist bemüht, sich durch authentische (oder vielleicht auch nur authentisch wirkende) Äusserungen Dritter über ihn in einem möglichst guten Lichte darzustellen, mag es sich dabei um Luzerner Ratsherren handeln, die ihn als Studenten gegenüber seinem Vater loben, oder um einen Herzog, der vertraulich mit ihm spricht. Damit ergänzt er scheinbar jenes Lob, das er sich selbst spendet (etwa wenn er sich in Kapitel 3 herausragende Fähigkeiten als Seiler bescheinigt). Spielerisch in den Text eingestreute Zitate aus der antiken Literatur verraten den Gelehrten Ambühl und seine Fähigkeiten schliesslich auch dort, wo von ganz anderen Dingen die Rede ist.
Wir präsentieren auf diesem Portal den vollständigen Text der Autobiographie.
Bibliographie
Bächtold, H. U., «Ambühl, Rudolf», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 17.07.2001, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010570/2001-07-17/.
Furrer, K., Rudolf Collin. Ein Charakterbild aus der Schweizerischen Reformationsgeschichte, Halle, C. E. M. Pfeffer, 1862.
Hartmann, A., «Collinus, Rudolfus», Neue Deutsche Biographie 3 (1957), 325, Onlineversion, https://www.deutsche-biographie.de/pnd119605562.html#ndbcontent.