Türkenschrift und Koranübersetzung

Dossier: Theodor Biblianders Auseinandersetzung mit dem Islam im Kontext der Türkenbedrohung · Theodor Bibliander · Erasmus von Rotterdam · Heinrich Bullinger

Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 10.02.2023.


Die Türkenschrift von 1542 (Texte 1 und 2)

Spätestens seit dem Fall Konstantinopels 1453 lebten die Menschen Europas in einem Gefühl ständiger Bedrohung durch die Türken. 1521 nahmen die Osmanen Belgrad ein, 1526 brachten sie dem ungarischen Heer bei Mohács eine weitere vernichtende Niederlage bei. 1541 wurde der kaiserliche Befehlshaber Wilhelm von Roggendorf, der im Zuge des ungarischen Thronkonflikts mit 20.000 Mann die Stadt Ofen belagert hatte, von den Osmanen in die Flucht geschlagen. Diese nahmen die Stadt ein, und der Sultan setzte einen Statthalter ein. Dies war für Theodor Bibliander der Anlass, eine Consultatio (Beratungsschrift) im Hinblick auf die Türkengefahr zu verfassen. Während seiner Zeit als Lehrer in Liegnitz (1527-1531) war Bibliander der Türkengefahr auch selbst geographisch näher gekommen. Unter dem Eindruck der Belagerung Wiens von 1529 begann er sich mit dem Arabischen und den Quellen zur islamischen Religion zu beschäftigen. 1531 folgte er Zwingli als Lehrer für das Alte Testament an der Schola Tigurina. Bibliander hatte Arabisch ursprünglich mit dem Ziel gelernt, als Missionar das Evangelium in Ägypten zu verbreiten (eine Idee, die ihm Heinrich Bullinger ausredete). Seine Ad Nominis Christiani Socios Consultatio (Ratschläge für die im christlichen Bekenntnis Verbündeten), die 1542 bei Nicolaus Brylinger in Basel erschien, sollte seine Mitchristen mit apologetischem Rüstzeug versehen, da die Türken ihre islamische Religion immer weiter ausbreiteten. Wir geben aus dieser Schrift mehrere Abschnitte. Folgende Aspekte sind dabei wichtig:

  1. Die Darstellung der türkischen/islamischen Sitten und Gebräuche, die nicht als ganz und gar schlecht klassifiziert werden, soll den Christen auch vor Augen führen, wie sehr sie selbst von ihren Idealen abweichen.
  2. Bibliander geht gedanklich von der alleinigen Wahrheit der von Jesus Christus gestifteten Religion aus. Dementsprechend sieht er andere Religionen als antichristlich bzw. das Werk böser Dämonen an, selbst wenn sie scheinbar gute Elemente enthalten. Dieses Gedankenmodell ist bereits im Neuen Testament und den Kirchenvätern vorhanden, von denen er es übernimmt.
  3. Bibliander geht recht ausführlich auf die Entstehung der islamischen Religion und die Biographie ihres Gründers ein. Wenn diese Darstellung recht polemisch ausfällt – Mohammed wird als zwar begabt, aber verlogen und sittlich verdorben geschildert, der Islam als planvolles zusammengerührtes Mischmasch aus Judentum, Heidentum und christlichen Häresien – so entspricht das dem Wissenshorizont des reformierten Theologen, der weitgehend auf mittelalterliche christliche Quellen rekurrierte.
  4. Es wird deutlich, dass Bibliander selbst im Kontext einer der Türkenfrage gewidmeten Schrift auch die katholische Kirche als Feind betrachtet und ihr sogar eine Mitschuld an der Ausbreitung des Islam gibt (indem sie etwa faktisch das Christentum durch ihre Bilderverehrung entstelle und so den Muslimen Angriffsfläche biete, oder indem sie durch ihren korrupten Klerus zur sittlichen Verderbnis beitrage). Ja, was die Verehrung der heiligen Bilder angeht, so sieht der Reformierte die Katholiken ganz im Unrecht, während er die türkische Position in Einklang mit der Urkirche (und damit seiner eigenen reformierten Bilderfeindlichkeit) sieht. Umgekehrt sieht er hinsichtlich der von ihm als abergläubisch angesehenen Heiligenverehrung Ähnlichkeiten bei den Türken zu dem, was ihm an den Gebräuchen der Katholiken missfällt.
  5. Die wichtigste Grundlage für die erfolgreiche Bekämpfung der Türken – auch für einen militärischen Erfolg – ist die innere sittliche Erneuerung der Christenheit.

Wir geben auch einige Vergleichsstellen aus der Consultatio de bello Turcis inferendo des Erasmus von Rotterdam aus dem Jahre 1530 (Text 3). Auch wenn die Schriften sich in manchen Aspekten deutlich unterscheiden – besonders geht Erasmus auf die Religion der Türken nur sehr oberflächlich ein – wird doch deutlich, dass er und Bibliander die weit verbreitete Überzeugung teilen, beim Islam handele es sich um eine Mischreligion. Bibliander und Erasmus treffen sich darin, dass sie eine innere moralische Erneuerung der Christenheit fordern.

 

Die Koranübersetzung von 1543 (Texte 4 und 5)

Ein Jahr später veröffentlichte Biblianderbeim Berleger Johannes Oporin ein zweites, wichtigeres Werk: eine gedruckte lateinische Übersetzung des Koran sowie weiterer islamischer Schriften zusammen mit einer Sammlung klassischer islamkritischer Schriften und einer Vorrede von Philipp Melanchthon; insgesamt umfasst das Werk drei zusammengebundene Bände von je über 200 Folioseiten (die Koranübersetzung findet sich im ersten Band).

Bibliander stellte seinem Sammelwerk – auf die Vorrede Melanchthons folgend – eine Apologie voraus, in der er die Veröffentlichung der Koranübersetzung gegen mögliche Einwände rechtfertigt. Aus dieser Apologie geben wir einen grösseren Ausschnitt. Für diese Apologie besass Bibliander gute Gründe. Es hatte im Basler Stadtrat im Vorfeld Diskussionen gegeben, ob ein solches Buch in der Stadt erscheinen dürfen sollte. Einige Zeit lang wurden die schon geduckten Exemplare beschlagnahmt, und der Verleger Johannes Oporin wurde im Herbst 1542 kurz inhaftiert. Erst ein Brief Martin Luthers, der sich für das Projekt aussprach – die Christen sollten vor dem Islam gewarnt und die Irrtümer Mohammeds offengelegt werden –, hatte den Ausschlag zugunsten Biblianders gegeben. Neben Luther und Bibliander selbst setzten sich auch Bullinger und Bucer für die Fortsetzung des Drucks ein. Als Zeugnis für diese Umstände bieten wir Ausschnitte aus einem Brief des Bibliander günstig gesonnenen Zürcher Reformators Heinrich Bullinger an St. Galler Reformator Joachim Vadian, in dem er diesem die Affäre schildert und sich scharf über das Verhalten des Basler Rats äussert; er berichtet, was er und seine Zürcher Kollegen zu Biblianders Gunsten unternommen haben, und dass auch Martin Luther sich brieflich für diesen und sein Übersetzungprojekt eingesetzt habe (Text 6).

Aufgrund des mehrmals unterbrochenen und wiederaufgenommenen Drucks existieren von der ersten Auflage von Biblianders Werk sieben verschiedene Versionen. Zwei von ihnen enthalten (unmittelbar nach Biblianders Apologie) einen Abdruck des Luther-Briefs. Druckort und Drucker durften auf dem Titelblatt nicht verzeichnet werden. In jedem Fall folgt auf die Apologie der Brief des cluniazensischen Abtes Petrus Venerabilis (1092/94-1156) an Bernhard von Clairvaux über das von ihm initiierte Projekt in der Übersetzerschule von Toledo, zu dem die Koranübersetzung des mittelalterlichen Theologen Robert von Ketton (1110-1160) gehörte, sowie etwa auch eine kurze Übersicht über die Irrtümer des Islam. Denn der lateinische Korantext, den Bibliander gibt, basiert im Wesentlichen auf der Übersetzung Roberts aus dem Jahr 1143, da Biblianders Arabischkenntnisse für eine komplett neue Eigenübersetzung nicht ausreichten; er nimmt in seine Sammlung auch die Vorrede Roberts an den Abt Petrus Venerabilis auf, der die Übersetzung in Auftrag gegeben hatte. Nach der Koranübersetzung folgen dann zwei weitere islamische Werke: eine Doctrina Muhamet und De generatione Muhamet et nutritura eius («Über Geburt und Erziehung Mohammeds»), jeweils in der Übersetzung des Hermannus Dalmata (Herman von Carinthia; ca. 1100-1160). Als weiteres islamkritisches Werk folgt eine Chronica mendosa et ridiculosa Saracenorum («Eine verlogene und lächerliche Chronik der Sarazenen»), die Bibliander aus dem ersten Buch der Cribratrio Alcorani des Nikolaus von Kues zusammengestellt hat. Darauf folgen im ersten Band noch einige Anmerkungen zum Koran aus der Feder eines nicht genannten neueren Autors, die Bibliander bei Nikolaus von Kues fand, sowie ein Überblick Biblianders über verschiedene Koranlesarten. Diese eher kleine Liste macht deutlich, dass Bibliander mit seinen beschränkten Arabischkenntnissen auf dem philologischen Gebiet nur wenige Verbesserungen zu Roberts Leistungen beisteuern konnte; vielleicht deswegen wurde sie aus der zweiten Auflage von 1550 herausgenommen. Der zweite Band enthält sodann eine umfangreiche Sammlung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher islamkritischer Schriften (Confutationes), darunter sowohl die gemässigte Cribratio des Nikolaus von Kues als auch wesentlich polemischere Texte. Generell widmet sich der zweite Band primär theologischer Kritik. Der dritte Band (Historiae) dagegen nimmt mehr politische Aspekte und die konkrete Türkenbedrohung in den Blick (etwa eine Schrift des Juan Luis Vives über die Lebensbedingungen der unter Türkenherrschaft stehenden Christen). Die aufgenommenen Texte reichen vom fünfzehnten Jahrhundert bis in Biblianders Gegenwart. Erwähnung verdient daraus zum Beispiel auch der Brief Papst Pius II. an Sultan Mehmet II. aus dem Jahr 1461, wobei Bibliander jedoch einen falschen Adressaten (einen Morbisanus statt Mahometus) angibt und einen fiktiven kurzen Antwortbrief hinzufügt, der in Wahrheit bereits seit dem 14. Jahrhundert in Europa kursiert. In der zweiten Auflage von 1550 wurde dieser Band noch um neuere Texte erweitert.

Bibliander verbesserte den Text der mittelalterlichen Koranübersetzung nicht nur (freilich im Rahmen seiner bescheidenen Fähigkeiten), indem er arabische und lateinische Handschriften einsah (er konnte in Basel auf eine Koranhandschrift zurückgreifen, die während des Basler Konzils durch Kardinal Johannes von Ragusa in die dortige Dominikanerbibliotek gelangt war). Er fügte auch zahlreiche Randanmerkungen hinzu, in denen er unter anderem biblische Vergleichsstellen anführt. Damit wollte er sowohl den Islam als auch aus reformierter Sicht irregeleitete Christen (Katholiken und Wiedertäufer) kritisieren. Insgesamt sind diese Anmerkungen aber bemerkenswert unpolemisch und markieren besonders auch Ähnlichkeiten der koranischen Lehre mit dem Neuen Testament, die als Anknüpfungspunkt für missionarische Arbeit dienen können. Besondere Erwähnung verdient, dass er zur Rechtfertigung der Beschäftigung mit dem Koran auch auf die gerade für die Gelehrten seiner Zeit essentielle Lektüre heidnischer (nichtchristlicher, oft auch vorchristlicher) Autoren verweist. Humanistische Gelehrsamkeit wird hier als Analogie herangezogen, um die Beschäftigung mit einer noch aktiven nichtchristlichen Religion und Kultur zu rechtfertigen.

Dem Werk war eine lange Karriere als Standardbuch zum Islam beschert. Im protestantischen Bereich begründete Bibliander damit eine neue Methode des Arabischlernens, die vom Koran ausging, nicht mehr von christlichen arabischen Texten. Sogar die Jesuiten bedienten sich später seiner Übersetzung am Hofe des Mogulherrschers Akbar (1542-1605), obwohl das Werk aufgrund seiner stark reformierten Prägung auf dem römischen Index der verbotenen Bücher stand. Die Basler Koranübersetzung von 1543, durch ihr weitgehendes Festhalten am Text Roberts von Ketton im Wesentlichen eine Leistung des Mittelalters, bildete für die nächsten 150 Jahre die Basis auch für volkssprachliche Koranübersetzungen, z. B. ins Italienische, Deutsche und Niederländische.

 

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