Vorrede zu Jacob Ceporins Pindarausgabe
Ulrich Zwingli
Einführung: Clemens Schlip (traduction française: Kevin Bovier). Version: 05.09.2023.
Entstehungszeitraum: wohl Ende 1525/Anfang 1526 (die Vorrede ist datiert auf den 23. Februar 1526, wurde aber sicher nicht nur an einem Tag geschrieben).
Ausgabe: Vorrede zu Πινδαρου Ολυμπια, Πιθια, Νεμεα, Ισθμια – Pindari Olympia, Pythia, Nemea, Isthmia, Basel, Andreas Cratander, 1526 fol. 2ro-5vo,hier: fol. 2ro-vo, 3vo, 4ro, 4vo-5vo.
Jacob Ceporin (deutsch: Wiesendanger) wurde 1499/1500 in Dynhard bei Winterthur geboren. Nach Besuch der Winterthurer Lateinschule studierte er an der Universität Köln und 1518-1520 in Wien. In Ingolstadt besuchte er 1520 die Hebräischvorlesungen des Johannes Reuchlin. 1520-1524 arbeitete er in verschiedenen Positionen für Drucker in Basel (u. a. Andreas Cratander) und als Lehrer in Zürich. In Zürich unterrichtete er auch Zwingli im Hebräischen und verfasste 1523 ein kurzes Geleitwort zu Zwinglis Erziehungsschrift Quo pacto, die wir auf diesem Portal (mitsamt Ceporins Vorrede) an anderer Stelle präsentieren. 1523 heiratete er nach Aufhebung der Frauenklöster in der Zürcher Landschaft Elsbeth Scherer, die bis dahin Dominikanerin in der Nähe von Winterthur gewesen war. Im Juni 1525 konnte er eine Professur an Zwinglis neueingerichteter Zürcher Theologenschule antreten, wo er Griechisch und Hebräisch unterrichtete und durch sein Amt in den Genuss einer Chorherrenpfründe kam. In seiner Zeit als Professor erstellte er die dritte Auflage seiner bereits Ende 1522 zum ersten Mal erschienenen griechischen Grammatik (sie wurde in der Folgezeit noch oft nachgedruckt und fand in Zürich bis ins 18. Jahrhundert hinein Verwendung), die um eine von Ceporin kommentierte Edition von Hesiods Werken und Tagen und einige griechische Epigramme ergänzt ist; ferner die hier vorzustellende, posthum erschienene Pindaredition; und er begann die Arbeit an einer Edition der hebräischen Grammatik von Moses Kimchi, die er nicht mehr zu Ende führen konnte. Das Leben des jungen Gelehrten, das gerade eine so verheissungsvolle Wendung genommen hatte, endete bereits am 20. Dezember 1525; die genaue Todesursache ist heute nicht mehr bekannt. Nach seinem Tode wurde seine Lektur geteilt: Nachfolger im Hebräischen wurde Konrad Pellikan (dessen Autobiographie wir hier präsentieren), das Griechische teilten sich Johann Jakob Ammann und Rudolf Collinus (Ambühl) d. Ä. (die Autobiographie des Letztgenannten wird hier vorgestellt). Neben den bereits erwähnten Leistungen Ceporins verdient Erwähnung noch seine Edition des Dionysios Periegetes, Aratos und Proklos, die er 1523 erscheinen liess.
Der griechische Dichter Pindar wurde 522 oder 518 v. Chr. in Kynoskephalai in der Nähe von Theben geboren; er verstarb nach 446 v. Chr., sein Tod ist von Legenden umrankt. Pindar war ein Meister der Chorlyrik. Vollständig erhalten sind von dem in der hellenistischen Zeit in 17 Büchern gesammelten Werk des Dichters ausser diversen Fragmenten, die hier nicht weiter interessieren, nur vier Bücher Epinikia, Siegeslieder auf die Gewinner prominenter griechischer Agone (Wettkämpfe in Form von Wagenrennen, Ringkampf, Faustkampf etc.); diese insgesamt 45 Gedichte werden nach den darin thematisierten Spielstätten in vier Gruppen aufgeteilt (Olympische, Pythische, Nemeische und Isthmische Oden). Neben dem Lobpreis des Siegers (bzw. seiner Familie und/oder seiner Heimatstadt) finden sich in diesen Oden etwa auch poetologische Reflexionen und mythologische Erzählungen; in ihrer nicht in allen Gedichten erreichten Vollform besitzt eine pindarische Ode insgesamt fünf inhaltliche Komponenten (1. Informationen zum Sieger und seiner Herkunft; 2. Ausführungen zur Inspiration des Dichters – seiner Muse – und Reflexionen zur Dichtkunst; 3. lehrreiche Aphorismen; 4. hymnische Elemente, die die Bedeutung der Götter für das menschliche Leben betonen; 5. mythologische Elemente, die meist einen Bezug zur Familiengeschichte des Siegers oder zu diesem selbst haben). Pindar verfasste seine Gedichte in einer Kunstsprache, die Elemente des äolischen, epischen und dorischen Griechisch miteinander verband. Die meisten seiner Oden haben einen triadischen Aufbau (mehrfach, meist drei- bis fünfmal wiederholte Anordnung aus Strophe, Antistrophe und Epode); daneben gibt es sieben monostrophische Oden. In metrischer Hinsicht bedient sich Pindar in gut der Hälfte der Epinikia der Daktyloepitriten, in den übrigen meist der äolischen Versmasse (basierend auf Jamben und Chorjamben); eine Ode weist beide Schemata auf. Pindars Kunst besteht nicht zuletzt darin, dass er eine geringe Zahl von Grundgedanken durch zahlreiche stilistische Kunstgriffe (Synonyme, Metonymien, Metaphern, Wortspiele, Neubildung von zusammengesetzten Adjektiven etc.) auf vielfältige Weise zu variieren und gründlich auszuarbeiten versteht. Pindars Stil ist gehoben und hieratisch, nicht selten auch gesucht und schwer verständlich, wozu auch die schnellen gedanklichen Übergänge und die verdichtete Ausdrucksweise beitragen. Schon im Altertum genoss er höchste Achtung. Als Alexander der Grosse 335 v. Chr. die Zerstörung Thebens anordnete, nahm er das Haus Pindars aus und verschonte dessen Nachfahren vor der Sklaverei. Horazens Ode 4,2 beginnt mit einer eindrücklichen Hommage an den thebanischen Dichter; ein Gesamtüberblick über die Pindar-Rezeption kann hier freilich nicht geboten werden.
Für das Abendland gehört Pindar zu den grossen literarischen Funden der Renaissancezeit. 1513 brachte Aldus Manutius in Venedig die editio princeps des griechischen Dichters heraus; 1515 erschien in Rom eine von Zacharias Kallierges besorgte Ausgabe des pindarischen Werkes, die als erste auch die Scholien berücksichtigte. Man darf also festhalten, dass Pindar auch noch um 1526, als Ceporin seine Edition erstellte, die Aura einer frischen Wiederentdeckung umgab.
Zwingli (1484-1531) hatte das Studium des Griechischen in seiner Zeit als Pfarrer im Glarus (ab 1506) aufgenommen. Dass er 1526 in der Lage war, sich mit Pindar, einem der schwierigsten griechischen Dichter, auseinanderzusetzen, zeigt, wie ernsthaft er sich mit dieser Sprache beschäftigt hatte. Wir bieten aus seiner Vorrede zu Ceporins Edition hier vier Ausschnitte.
Zu Beginn seiner Praefatio (unser erster Ausschnitt: fol. 2ro-vo) greift Zwingli Formulierungen aus der bereits erwähnten Ode 4,2 des Horaz auf, zu deren Beginn der römische Dichter erklärt, es sei nicht möglich, Pindar nachzueifern. Wer solches versuche, werde enden wie Ikarus, der sich mit den von seinem Vater Dädalus konstruierten Flügeln zu sehr der Sonne näherte, bis ihr Wachs schmolz und er hinab ins Meer fiel. Zwingli überträgt diese Aussage an dieser Stelle auch auf alle, die sich unterfangen, Pindar anderen zu empfehlen. Jacob Ceporin, dessen Arbeit er bei dieser Gelegenheit ebenso sehr lobt wie die des Druckers Cratander, habe ihn dennoch überzeugen können, eine Vorrede zu seiner Edition zu verfassen. Nach einem Überblick über das Leben und die literarischen Qualitäten des Autors, den wir hier nicht näher betrachten, kommt Zwingli auf Pindars moralische und religiöse Vortrefflichkeit zu sprechen (unser zweiter Ausschnitt; fol. 3vo). Er schreibt Pindar dabei ein monotheistisches Bewusstsein zu; auch wenn er in seinen Gedichten von Göttern im Plural sprach, habe er damit, wie andere antike Dichter und Philosophen auch, nur den einen Gott im Auge gehabt. Zwingli zieht ausserdem (nicht in unserer Auswahl enthalten) als Parallele auch das Bibelhebräische heran, wo für Gott oft der Plural Elohim verwendet wird. Der dritte hier präsentierte Ausschnitt (fol. 4vo-5vo) führt ins gedankliche Zentrum dieser Vorrede: zu seiner Überzeugung, dass es für christliche Leser nicht nur legitim ist, Pindar zu lesen, sondern dass diese Lektüre für sie sogar einen besonderen Mehrwert hat. Zwingli erkennt eine grosse Verwandtschaft zwischen Pindar und den poetischen Formen, die sich im Alten Testament finden. In der Konsequenz schreibt er dem griechischen Dichter geradezu eine propädeutische Bedeutung für das Studium der hebräischen Sprache zu. Nach einem umfangreichen Seitenhieb auf untaugliche Gelehrte, die Texte zu erklären versuchen, die sie nicht verstehen, hebt er noch einmal das Potential Pindars hervor, das Verständnis der hebräischen Dichtungen zu fördern (unser vierter Ausschnitt: fol. 4 vo-5 vo). Ausdrücklich wendet sich Zwingli in diesem Zusammenhang gegen nicht näher benannte Kritiker, die sich grundsätzlich gegen die Lektüre heidnischer Dichter aussprechen; wenngleich er erklärt, sich durch sie nicht beeindrucken zu lassen, ist ihm ihr Standpunkt doch immerhin wichtig genug, dass er ihn ausdrücklich entkräften will. Er weist deshalb noch einmal auf die besondere Unbedenklichkeit Pindars und seine geistige Verwandtschaft mit dem Alten Testament hin. Abschliessend lobt Zwingli noch einmal ausdrücklich die Arbeit des Druckers (es ist dabei zu bedenken, dass griechische Drucke besondere Anforderungen an dessen Arbeit stellten, waren doch im Buchdruck des 16. Jahrhunderts lateinische Werke die Regel).
Neben dieser Vorrede steuerte Zwingli zu Ceporins Ausgabe auch ein Nachwort bei (fol. φro-φ 4ro), auf das wir hier noch kurz eingehen wollen. Es scheint besonders durch den in der Zwischenzeit erfolgten Tod des jungen Gelehrten im Dezember 1525 motiviert worden zu sein, denn zu Beginn seines Nachworts erklärt Zwingli, er habe seine Vorrede nicht zur Trauerrede werden lassen wollen. Er würdigt in Form eines Nachrufes (φro-φvo) zunächst die Qualitäten und Leistungen des Verstorbenen; seinen frühen Tod führt er auf ungebremste Arbeitswut und die damit verbundene Vernachlässigung seiner Gesundheit zurück. Den Rest seines Nachworts widmet Zwingli zunächst (φvo- φ3ro) einer vertieften Begründung seines bereits in der Vorrede vertretenen Standpunkts, dass Pindar zum Verständnis der Bibel (in ihren griechischen und hebräischen Fassungen) beiträgt; dann ruft er seine Leser grundsätzlich dazu auf, sich der Lektüre der antiken Schriftsteller zu widmen und sie nicht über einem allzu grossen Interesse für zeitgenössische Publikationen zu vernachlässigen (φ3ro- φ4ro); mit einem Bekenntnis zu guten Dichtern, der Absage an (moralisch) schlechte Dichter und einem erneuten Appell zur Pindarlektüre schliesst dieses Nachwort.
Zwinglis positive Sicht auf die grossen Gestalten des Altertums, wie sie im hier präsentierten Vorwort der Pindarausgabe ebenso wie in dem soeben erwähnten Nachwort mit Bezug auf diesen Autor zum Ausdruck kommt, führte ihn als Theologen und Seelsorger zu der Hoffnung, diese vortrefflichen Männer könnten trotz ihres Heidentums der göttlichen Gnade und der ewigen Seligkeit teilhaftig geworden sein; diese Ansicht, der nicht alle Zeitgenossen folgen mochten (ein prominenter Gegner war Martin Luther) beleuchten wir auf diesem Portal anhand geeigneter Textzeugnisse an anderer Stelle. Zwingli war der erste gewesen, der in der Neuzeit einer christlich fundierten Wertschätzung Pindars Ausdruck gab; im weiteren Verlauf des 16. und im 17. Jahrhundert sollten weitere Autoren im protestantischen Bereich das Gleiche tun, beginnend mit dem Marburger Gelehrten Johannes Lonicerus (1499-1569) im Widmungsbrief zu seiner lateinischen Übersetzung der pindarischen Oden, die 1528 ebenfalls in Basel bei Andreas Cratander herauskam (hier: fol. A2ro und vo).
Bibliographie
Bächtold, H. U., «Ceporin, Jakob», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 01.09.2003, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010566/2003-09-01/.
Egli, E., «Ceporins Leben und Schriften», Analecta Reformatoria 2 (1901), 145-160.
Gall, D., «Ceporinus, Jacobus», Der Neue Pauly. Supplemente 6 (2012), 813-814.
Revard, S., Pindar and the Renaissance Hymn-Ode: 1450-1700, Tempe (Arizona), Arizona Center for Medieval and Renaissance Studies, 2001.
Riedweg, C., «Ein Philologe an Zwinglis Seite: zum 500. Geburtstag des Zürcher Humanisten Jacob Wiesendanger, gen. Ceporinus (1500-1525)», Museum Helveticum 57 (2000), 201-219.
Schmitz, T., Pindar in der französischen Renaissance. Studien zu seiner Rezeption in Philologie, Dichtungstheorie und Dichtung, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1993.