Wie man edle junge Leute erziehen soll
Ulrich Zwingli
Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 10.02.2023.
Entstehungszeitraum: der Widmungsbrief an Gerold Meyer trägt als Datum den 1. August 1523; die Schrift dürfte in den Monaten zuvor entstanden sein.
Ausgaben: Quo pacto ingenui adolescentes formandi sint, Praeceptiones pauculae, Basel, Johannes Bebel, 1523, fol. [A]vo, Aiiiro-vo, Aiiiiro-vo, [Avi]ro-[Avii]ro, [Aviii]vo, Bro, Bvo, Biiro-vo, Biiiro, Biiivo, [Biiii]vo; Huldreich Zwinglis sämtliche Werke, hg. von E. Egli/G. Finsler, Bd. 2. Werke 1523, Zürich, Theologischer Verlag Zürich, Nr. 22, 526-551.
Französische Übersetzung: P. Mesnard, La pédagogie évangélique de Zwingli, RTh 53 (1953), 367-386; hier: 378-386.
Deutsche Übersetzungen: R. Christoffel in: Zeitgemäße Auswahl aus Huldreich Zwinglis praktischen Schriften. Siebentes Bändchen, Zürich 1846; Ulrich Zwingli. Eine Auswahl aus seinen Schriften auf das vierhundertjährige Jubiläum der Zürcher Reformation, übs. und hg. von G. Finsler/W. Köhler/A. Rüegg, Zürich, Schultheß & Co., 1918, 367-378.
Die folgende Skizze über Ulrich Zwingli beansprucht weder Originalität noch Vollständigkeit (und strebt letztere, was das reformatorische und politische Wirken angeht, gar nicht an); es soll hier vor allem um den Bildungsweg Zwinglis und sein bildungspolitisches Wirken gehen, um den historischen Hintergrund der hier thematisierten Bildungsschrift zu verdeutlichen.
Der Reformator Huldrych (oder: Ulrich) Zwingli wurde am 1. Januar 1484 in Wildhaus (St. Gallen) geboren. Ab 1489 lebte er bei seinem Onkel Bartholomäus, der Dekan in Weesen (St. Gallen) war und begann dort mit dem Schulbesuch. Nach 1494 besuchte er die Lateinschulen von Basel (Schule bei St. Theodor) und Bern (dort war er Schüler des Heinrich Wölflin). Seine Immatrikulation an der Universität Wien erfolgte 1498, die Immatrikulation an der Universität Basel 1502. An der Basler Artistenfakultät erwarb er 1504 den Grad eines Baccalaureus, 1506 den eines Magisters; parallel arbeitete er als Lehrer an der Schule bei St. Martin. In seiner Studienzeit lernte er die Scholastik gründlich kennen und erhielt zudem von dem Theologen Thomas Wyttenbach aus Biel (1472-1526) erste Anregungen für sein späteres reformatorisches Wirken (im Sinne des sola scriptura- und des solus Christus-Prinzips). 1506 wurde der junge Zwingli zum Pfarrer von Glarus gewählt. Neben seinen anderen Amtspflichten widmete er sich auch dem Jugendunterricht. Der Pfarrer Zwingli korrespondierte mit verschiedenen Humanisten, wobei Glarean sein wichtigster Briefpartner war; dieser vermittelte ihm im Frühling 1515 in Basel die persönliche Bekanntschaft mit Erasmus von Rotterdam, die für Zwingli sehr wichtig wurde. Er brachte sich autodidaktisch das Griechische bei, um das Neue Testament im Urtext lesen zu können. Als Leutpriester des Wallfahrtsorts Maria Einsiedeln (1515-1518) legte Zwingli grossen Wert auf Bibel und Predigt und fasste sein Priesteramt primär als Lehramt auf. Aus der von Erasmus besorgten und 1517 erschienen Ausgabe des griechischen Neuen Testaments schrieb er die Paulinischen Briefe eigenhändig ab, um sie auswendig zu lernen. In seinen parallel betriebenen Kirchenväterstudien gab er den griechischen Autoren den Vorzug, da die lateinischen die Lehre Christi verfälscht hätten (dieser Grundsatz wird auch in den von uns ausgewählten Passagen aus der Bildungsschrift von 1523 formuliert). Mit seinem Amtsantritt als Leutpriester des Zürcher Grossmünsters beginnt die Geschichte der Schweizer Reformation. Seine Korrespondenz aus den ersten Zürcher Jahren belegt, dass er sich gemeinsam mit Freunden weiter dem Studium griechischer Autoren widmete. Zwischen 1522 und 1525 kam es zur schrittweisen Durchsetzung der Reformation in Zürich (ein besonders sichtbares Zeichen war der 1524 stattfindende Bildersturm), die Ostern 1525 mit dem Verbot der katholischen Messe ihren Abschluss fand. Zwinglis Wirken in diesen Jahren führte den Bruch mit Erasmus herbei, der die sich radikalisierende Reformbewegung ablehnte. Neben seinem reformatorischen Wirken nahm sich Zwingli die Zeit, das Hebräische zu erlernen. 1525 wurde Zwingli Schulherr und konnte daran gehen, seine Vorstellungen konkret umsetzen.
Er folgte auf den Chorherren Johannes Nießli, den bisherigen Leiter der Lateinschule und entschiedenen Gegner der Reformation. Auf Zwinglis Wunsch hin wurde eine zentrale Behörde für das Zürcher Schulwesen geschaffen. Die Stiftsschule sollte künftig der Ausbildung eines geeigneten reformierten Predigernachwuchses dienen. Das Grossmünsterstift behielt daher gemäss dem Willen des Zürcher Rats seine bisherigen Zehntrechte, um auf dieser finanziellen Basis sich fortan nur noch pädagogischen Zwecken zu widmen. Diese Umwandlung wurde dadurch verlangsamt, dass man die reformationsfeindlichen Chorherren und Kapläne im Genuss ihrer Pfründe liess, so dass diese Gelder erst nach ihrem natürlichen Ableben freiwurden.
Zwingli nahm Änderungen am Lateinunterricht des Grossmünsters vor; schon kurz nach Zwinglis Ernennung wurde 1522 Jakob Ceporin als Griechisch- und Hebräischlehrer angestellt. Nach seinem Tod noch im Jahr 1525 wurde 1527 je eine Chorherrenpfründe für Lehrerstellen für das Lateinische, Griechische und Hebräische genutzt. Hebräischlehrer wurde Conrad Pellican. Ab Juni 1525 gehörten zum Lehrplan der vierten (obersten) Lateinklasse bibelexegetische Vorlesungen, die auch von einem allgemeinen Publikum besucht werden konnten. Diese Einrichtung nannte man «Prophezei» (nach 1 Kor 14,26-33). Sie nahm für die Schüler eine Art Mittelposition zwischen der Lateinschule und dem Theologiestudium an auswärtigen Universitäten ein. Der Unterricht der Prophezei fand – den Freitag und den Sonntag abgesehen – täglich im Chor des Grossmünsters statt. Der Exegese (die sich zu Zwinglis Lebzeiten auf das Alte Testament beschränkte) erfolgte auf Basis des hebräischen Urtexts und der Septuaginta in lateinischer Sprache und wurde durch eine deutsche Ansprache abgeschlossen.
In der Schrift Quo Pacto bringt Zwingli – ohne konkret auf die aktuelle Schulfrage einzugehen – das Bildungsideal zum Ausdruck, das auch seine praktischen Bemühungen im Erziehungsbereich bestimmte. Nachdem die Reformation des Stifts amtlich im September 1523 erfolgt war, konnte die damals beschlossene neue «theologisch-humanistische Schule» ihren Betrieb im Juni 1525 aufnehmen. Der bereits erwähnte Jakob Ceporin steuerte kleines Geleitwort zu der Schrift bei, die in der Offizin des Johannes Bebel erschien, zu der er gute Beziehungen hatte. Adressat der durch ihr vorangestellten Widmungsbrief auf den 1. August 1523 datierten Abhandlung war der vierzehnjährige Gerold Meyer von Knonau, der seit der geheimen Verheiratung seiner verwitweten Mutter Anna (geborene Reinhart und in erster Ehe mit Hans Meyer von Knonau verheiratet) im Jahr 1522 Zwinglis Stiefsohn war; da Zwingli seine Ehe erst 1524 offiziell machte, geht er auf seine besondere Beziehung zum Adressaten in der Schrift nicht ausdrücklich ein. Es lohnt sich aber, festzustellen, dass der junge Mann damals wohl tatsächlich Verhaltensmassregeln benötigte.
Die Schrift macht Vorschläge, wie und worin man einen jungen Mann unterrichten soll. Zwingli macht schon in seinen einleitenden Bemerkungen deutlich, dass sein hier entfaltetes Erziehungsprogramm auf Jugendliche abzielt, die den Grundunterricht schon absolviert haben (also um die fünfzehn Jahre alt sind). Zudem legt er selbst die Gliederung seiner Schrift in drei grosse Teile offen, wie sie unten nachzulesen ist. Innerhalb dieser drei Partien ist es schwieriger, eine feste Ordnung des Gedankengangs festzustelle; Zwingli selbst bezeichnet seine innerhalb der drei Teile seiner Schrift erteilten Ratschläge folgerichtig als «Aphorismen» (aphorismi).
Im ersten Abschnitt (erste Anweisungen) geht es darum, den Geist eines jungen Mannes zur rechten Gotteserkenntnis zu führen, also um die religiöse Glaubenserziehung. Im Vordergrund stehen dabei – wie auch in unserer Auswahl deutlich wird – drei Aspekte:
- Die göttliche Vorsehung.
- Das Geheimnis der Erbsünde.
- Die einzigartige Erlöserrolle Christi.
Im zweiten Abschnitt geht es um die innere Erziehung des jungen Mannes; dabei werden sowohl Aspekte der humanistischen Bildung (Sprachenlernen) angesprochen als auch Massregeln für richtiges moralisches Verhalten aufgestellt. Die Kenntnis des Griechischen und Hebräischen wird aufgrund des dadurch ermöglichten Bibelstudiums in den Originalsprachen angestrebt; Zwingli würde ihnen daher sogar vor dem Lateinischen, dessen Bedeutung er mehr im praktischen Gebrauch sieht, den Vorzug geben, wenn es nicht im Bildungswesen anders hergebracht wäre. Wie oben angesprochen wurde, kam ja auch in der exegetischen Praxis der von ihm begründeten Prophezei dem hebräische Urtext des Alten Testaments (ergänzt durch dessen griechische Übersetzung, die Septuaginta) die zentrale Rolle zu, und nicht der in der katholischen Kirche traditionell im Mittelpunkt stehenden lateinischen Vulgataübersetzung. Die enorme Bedeutung, die Zwingli der Bibellektüre zuschreibt, entspricht wenig überraschend ganz dem protestantischen sola scriptura-Prinzip. Man wird die Betonung der Bedeutung des Griechischen und Hebräischen auch autobiographisch deuten dürfen, da Zwingli sich ja diese Sprachen selbst erst als Erwachsener beigebracht hatte (s. o.) und ihm ihre Kenntnis daher als besonderer Schatz erscheinen musste.
Wie Zwinglis Moralvorstellungen zu bewerten sind, und wo in ihnen vielleicht der Moralismus beginnt, mag jeder Leser für sich entscheiden. Es ist jedoch festzuhalten, dass Zwingli weiblichen Umgang und das Sich-Verlieben für seinen Modelljugendlichen nicht grundsätzlich ablehnt, wenngleich er dabei selbstverständlich die voreheliche Keuschheit gewahrt sehen will. Er nimmt dadurch im Vergleich zu anderen (von der monastisch-asketischen Traditionen) geprägten Erziehungsschriftstellern wie Johann Ulrich Surgant (ein vorreformatorischer Pfarrer und Professor in Basel) oder dem zur Reformation übergetretenen ehemaligen Kartäusermönch Otho Brunfels, die eine restriktivere Haltung an den Tag legen, eine durchaus liberale Haltung ein. Seine hier ebenfalls aufgenommenen, eher vagen Aussagen zum anzustrebenden rechten Mass im Mathematikunterricht machen deutlich, dass es ihm in dieser Schrift eher um ein Grundsatzprogramm geht als um einen ausgearbeiteten Lehrplan.
Im dritten Abschnitt geht Zwingli auf die staatsbürgerliche Erziehung ein. Seine Leitprinzipien sind dabei das christliche Gemeinwesen (respublica Christiana), die Heimat und das allgemeine Wohl. Die in diesem Anschnitt gegebenen Hinweise zielen auf ein gutes soziales Miteinander in der bürgerlichen Gemeinschaft, worunter wir uns sicher zunächst einmal ganz konkret die Stadt Zürich vorstellen dürfen. Bei der Frage, inwiefern sich Jugendliche an öffentlichen und familiären Festen beteiligen dürfen, erweist er sich wiederum als liberaler als andere Autoren.
In allen drei Abschnitten betont Zwingli, dass es ihm um eine christliche Jugenderziehung geht; Christus wird dabei als im Rahmen der menschlichen Möglichkeiten nachzuahmendes Verhaltensmodell vor Augen gestellt.
Zwingli verfasste seine Bildungsschrift natürlich nicht aus dem Nichts heraus, sondern konnte auf Vorgänger zurückgreifen. An antiken und humanistischen Bildungsschriften waren ihm sicher bekannt die Institutio oratoria des Quintilian (die sich in ihrem ersten und zweiten Buch besonders der Knabenerzeihung widmet) sowie die Rede an die Jünglinge über den rechten Gebrauch der heidnischen Literatur des Kirchenvaters Basilius des Grossen, die im Humanismus besonders auch in der lateinischen Übersetzung des Leonardo Bruni sehr verbreitet war, und die Institutio christiani principis des Erasmus von Rotterdam. Zwingli dürfte auch die fälschlich dem antiken Redner Isokrates zugeschriebene Rede an Demonikus in der lateinischen Übersetzung des Rudolf Agricola d. Ä. sowie die Schrift De ingenuis moribus et liberalibus artibus liber des italienischen Frühhumanisten Pier Paolo Vergerio (1370-1444) gekannt haben, die Vadian zusammen mit der Rede des Basilius 1511 in Wien ediert hatte. Ferner kannte er sicher das 1502 in Basel bei Michael Furter erschienene Regimen studiosorum des Basler Pfarrers und Professors Johann Ulrich Surgant (ca. 1450-1503) und die 1519 in Strassburg bei Johannes Schott erschienenen Aphorismi institutionis puerorum des Berner Stadtarztes Otho Brunfels (1488-1532), der einer seiner Korrespondenzpartner war; angenommen werden kann auch direkte Kenntnis der Schrift De educatione liberorum et eorum claris moribus libri VI von Maffeo Vegio (1406-1458).
Zwinglis Erziehungsschrift fand in ihrer Zeit grossen Anklang; sie wurde mehrfach herausgegeben und auch ins Deutsche übersetzt.
Abschliessend verweisen wir noch darauf, dass die humanistischen Interessen Zwinglis auch in den biographischen Skizzen des Oswald Myconius über den Reformator deutlich werden, den wir andernorts auf diesem Portal präsentieren.
Bibliographie
Gäbler, U., Huldrych Zwingli. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk, München, C. H. Beck, 1983.
Gut, W., «Zwingli als Erzieher», Zwingliana 6/6 (1936), 289-306.
Mesnard, P., «La pédagogie évangélique de Zwingli», Revue thomiste 53 (1953), 367-386.
Rückert, O., Ulrich Zwinglis Ideen zur Erziehung und Bildung, Gotha, Thienemann, 1900.
Rüsch, E. G., «Die humanistischen Vorbilder der Erziehungsschrift Zwinglis», Theologische Zeitschrift 22 (1966), 122-147.
Zu allen bisher genannten von Zwingli sicher gekannten Titeln vgl. Rüsch (1966), 126. Zu Vadians Edition der drei zuletzt genannten Bildungsschriften s. auch E. G. Rüsch, Ein unbekanntes pädagogisches Werk Vadians, Zwingliana 12/3 (1965), 181-190.