Dossier: Kommen Heiden in den Himmel? Zwinglis Ansicht und einige Reaktionen darauf

Ulrich Zwingli

Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 10.02.2023.


Kurz vor seinem Tod in der Kappeler Schlacht (11. Oktober 1531) verfasste Zwingli eine Kurze Darstellung des christlichen Glaubens (Christianae fidei ... brevis ... expositio), die er dem französischen König Franz I. widmete. Ihre Abfassung hatte einen politischen Hintergrund. Einerseits fühlte Zwingli sich seit dem Reichstag von Augsburg nicht nur weiterhin von Kaiser und Papst gefährdet, andererseits hatte der Lehrdissens innerhalb des protestantischen Lagers schliesslich dazu geführt, dass Zürich dem Schmalkaldener Bund, einem Schutzbündnis der protestantischen Reichsstände, fernblieb. Für einen Beitritt hätte Zürich sich der Confessio Tetrapolitana, dem Glaubensbekenntnis der oberdeutschen Reichsstädte (Strassburg, Konstanz, Lindau und Memmingen) anschliessen müssen, das in der Abendmahlsfrage einen Kompromiss zwischen Luthers Lehre von der Realpräsenz und Zwinglis rein symbolischer Auffassung darstellt; unter dieser Bedingung hätten 1530/31 auch die lutherischen Stände wie Kursachsen (die ihrerseits der Confessio Augustana, dem Augsburger Bekenntnis, folgten), einem Beitritt Zürichs zugestimmt. Dies scheiterte an Zwinglis energischem Widerstand. Als Ausweg aus dieser politischen Isolierung bot sich ein mögliches Bündnis mit dem bis dahin als feindliche Macht betrachteten Frankreich an; auf der anderen Seite bestand in Frankreich durchaus Interesse an Bündnispartnern gegen den Kaiser. Im Frühling 1531 traf der von den Zürcher Heimlichen Räten entsandte Rudolf Ambühl (Collinus) in Solothurn den französischen Sondergesandten Lambert Meigret (einem Sympathisanten der Reformation); nach einem Gespräch mit diesem konnte er nach Zürich den französischen Wunsch übermitteln, Zwingli möge an den französischen König ein Glaubensbekenntnis schicken, in dem er sachlich falsche Behauptungen über die Reformierten ausräume (wie die Behauptung, sie würden die weltliche Obrigkeit grundsätzlich ablehnen). Auch von anderer Seite aus dürfte Zwingli Anregung zu einer solchen Rechtfertigungsschrift zugegangen sein. Zwinglis Tod verhinderte, dass er diese Schrift noch persönlich ihrem Adressaten zukommen liess. Ihre Lektüre durch Franz I. lässt sich übrigens generell ausschliessen, denn dieser konnte – ungeachtet seiner humanistischen Interessen – kein Latein (was Zwingli wohl nicht bewusst war). Da dieses Dossier sich nur einer einzigen Stelle aus der Fidei Expositio widmet, kann hier auf eine detaillierte Übersicht über die Gliederung und den Inhalt der Gesamtschrift verzichtet werden; es genügt hier festzuhalten, dass Zwingli erkennbar dem Aufbau des Apostolischen Glaubensbekenntnisses folgt und der Frage der Abendmahlslehre einen eigenen Appendix widmet. Die Erstausgabe der Schrift im Druck erfolgte 1536 durch Heinrich Bullinger. Wir legen hier im Lateinischen den Text dieser Edition vor, da ihn die Zeitgenossen, um deren Reaktionen es in diesem Dossier ja ebenfalls geht, mehrheitlich nur in dieser Gestalt zu Gesicht bekamen (die textlichen Unterschiede zwischen dem Zwinglis Autograph und Bullingers Ausgabe sind im Übrigen marginal und tangieren den Inhalt nicht substanziell).

Eine Stelle in dem 1536 von Bullinger herausgegebenen Werk rief bald besonderes Interesse, Verwunderung und Ablehnung hervor (man fragt sich im Nachhinein mit einer gewissen Verwunderung, ob Bullinger ihr Provokationspotential vielleicht schlicht übersehen hatte?). Am Ende seiner Darlegungen über das ewige Leben wendet sich Zwingli an seinen königlichen Adressaten und stellt ihm vor Augen, welche Persönlichkeiten dieser im Himmel dereinst zu begegnen hoffen darf (Text 1). Neben einigen in diesem Kontext erwartbaren Namen – Heiligen des Alten und Neuen Testaments wie Adam, Christus, Moses, den Propheten und Maria – nennt er auch Persönlichkeiten der heidnischen Antike, darunter einige, die wir heute als rein mythische Gestalten verstehen: Herkules, Theseus, Sokrates, Scipio, Camillus etc., dazu die königlichen Vorfahren des Monarchen und überhaupt alle, die im rechten Glauben aus dieser Welt geschieden seien. Wie sich diese Äusserungen in das Gesamtgefüge der Theologie Zwinglis fügen, was insgesamt betrachtet sein Standpunkt zur «Seligkeit erwählter Heiden» war, kann und muss hier nicht näher untersucht werden, zumal dazu eine ausführliche Studie vorliegt. Hier genügt es, auf eine Inkongruenz hinzuweisen: Indem Zwingli ganz bestimmten, namentlich genannten Heiden die ewige Seligkeit attestiert, handelt er seiner eigenen Lehre zuwider, dass die göttliche Gnadenwahl für die Menschen ein Geheimnis bleiben muss; man hat daher zurecht bemerkt, dass er sich hier mehr als Humanist denn als Theologe äussert. Man kann in diesem Punkt eine geistige Verwandtschaft zu Erasmus von Rotterdam feststellen, der in einem Dialog seiner Colloquia seine Gesprächspartner vom heiligen Sokrates und den heiligen Seelen des Vergil und des Horaz sprechen lässt (Text 2); eine Äusserung, die von der Sorbonne als «tollkühn» gerügt wurde. Hinter solchen Äusserungen wie der des Erasmus (und auch Zwinglis) steht ein leicht begreifliches menschliches Bedürfnis, bewunderten Gestalten der heidnischen Antike (und in manchen Fällen auch Autoren, die man selbst gerne las und denen man nacheiferte) im Jenseits ein glückliches Los zu wünschen, auch wenn sie unbestreitbar nicht dem eigentlich heilsnotwendigen christliche Bekenntnis angehört hatten (und ihm in manchen Fällen auch logischerweise gar nicht hatten angehören können, da sie vor Christi Geburt gelebt hatten). Zwingli empfand offensichtlich ein Bedürfnis, sich sogar einen Stoiker wie Cato den Jüngeren, dessen selbstgewählter Tod christlicher Lehre eindeutig widersprach, im Himmel zu denken, weil er seine Person und sein Wirken schätzte. Grundsätzlich steht bei solchen humanistischen Äusserungen die schon seit früheren Zeiten des Christentums relevante und immer wieder neu traktierte und durchaus verschieden beantwortete theologische Frage nach der Heilsmöglichkeit für Ungläubige im Raum, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann.

Auf heftige Ablehnung stiess Zwinglis oben skizzierter Gedanke bei Martin Luther, was dem ohnehin angespannten Verhältnis zwischen Wittenberger und Zürcher Reformation unzweifelhaft nicht gut tat. Luther äusserte noch im Jahr der posthumen Publikation der Expositio (1536) in seinem «Kurzen Bekenntnis vom heiligen Sakrament» Zweifel am Seelenheil Zwinglis, der ausweislich der Expositio nicht nur ein Feind des Altarsakraments, sondern «auch gantz und gar zum Heiden» mutiert sei: «Solchs Buechlins erschrack ich seer, nicht umb meinet willen, sondern umb seinet willen [...] Denn in diesem Buechlin bleibt er nicht allein ein Feind des heiligen Sacraments, sondern wird auch gantz und gar zum Heiden. [...Luther zitiert im Folgenden den Katalog der Heiden und anderen Personen, die Zwingli dem französischen König als potentielle Himmelsbewohner schildert...] Dis stehet in seinem Buechlin, welchs (wie gesagt) sol das gulden und aller beste Buechlin sein, hart für [vor] seinem Ende gemacht. Sage nu, wer ein Christen sein wil, Was darff [bedarf] man der Tauffe, Sacrament, Christus, des Evangelji oder der Propheten und heiliger Schrifft, wenn solche gottlose Heiden, Socrates, Aristides, Ja der grewliche Numa, der zu Rom alle Abgoetterey erst gestifft hat, durch Teufels offenbarung, wie S. Augustinus de civitate Dei schreibt, Und Scipio der Epicurus [Epikureer], selig und heilig sind mit den Patriarchen, Propheten und Aposteln im Himel, so sie doch nichts von Gott, Schrifft, Euangelio, Christo, Tauffe, Sacrament oder Christlichem glauben gewust haben? Was kan ein solcher Schreiber, Prediger und Lerer anders gleuben von dem Christlichen glauben, denn das er sey allerley glauben gleich [jedem anderen Glauben gleichwertig], Und koenne ein jeglicher in seinem Glauben, selig werden, auch ein Abgoettischer [Heide] und epicurer als [wie] Numa und Scipio?» Man darf freilich festhalten, dass Luther zumindest hinsichtlich eines Heiden im Privaten ähnliche Überlegungen wie Erasmus und Zwingli anstellte. In seinen Tischreden findet sich folgende Aussage: «Hierauf erwähnte er Cicero, den vortrefflichen, hochweisen und äusserst sorgfältigen Mann, und was jener erlitten und getan habe; er sagte: Ich hoffe, dass unser Herrgott auch ihm und seinesgleichen gnädig sein wird.» Als offizielle theologische Position hat er diese Hoffnung allerdings nie publiziert, und darin liegt ein entscheidender Unterschied zu Zwinglis posthumer Expositio.

Rudolf Gwalther versuchte 1545, Zwingli gegen seine Kritiker in Schutz zu nehmen (Text 3). Er legte Wert auf die Feststellung, dass viele Heiden zu einer ausreichend grossen Gotteserkenntnis gelangt seien, um das Heil verdienen zu können, und dass man das an ihren Schriften und ihrem Leben auch ablesen könne. Er betont Gottes Barmherzigkeit und sieht ein anmassendes Urteil nicht bei Zwingli, der einige Heiden für errettet hielt, als vielmehr bei denen, die jene Heiden mit Gewissheit für verdammt halten. Der für diese Argumentation grundlegende Gedanke, dass Gott jenen Persönlichkeiten das Glaubenslicht geschenkt habe, wurde von anderen Autoren im reformierten und lutherischen Lager jedoch in Abrede gestellt.

Abschliessend lassen wir noch eine katholische Stimme zu Wort kommen, indem wir die Gedanken eines Kontroverstheologen wiedergeben (Text 4), von dem wir anderer Stelle auf diesem Portal zwei Dramentexte als Musterbeispiele des Jesuitentheaters aufgenommen haben. Jakob Gretser knöpft sich in seinem Werk die De variis caelis (Über verschiedene Himmelsvorstellungen) mit polemischem Spott die (aus seiner Sicht irrigen) Ideen verschiedener protestantischer Strömungen, aber auch der von Rom getrennten Orthodoxen und der Muslime vor, bringt daneben aber auch die katholische Lehre zum Ausdruck. In der zweiten der hier aufgenommenen Passagen über Zwingli fällt auf, dass Gretser lutherische Kritiker zitiert; es gelingt ihm so argumentativ geschickt, die Uneinigkeit der Protestanten untereinander offenzulegen. Er nutzt die Gelegenheit auch für einen Seitenhieb auf Zwinglis Eucharistielehre, zu der dieser einer wesentliche Anregung in einer Traumvision erhalten haben wollte. Auch andere katholische Autoren haben sich übrigens polemisch zu Zwinglis Himmelsvorstellung geäussert. Stellvertretend für sie sei hier abschliessend Jacques Bénigne Bossuet erwähnt; der berühmte französische Bischof und Kanzelredner (1627-1704) bemerkte in seiner polemischen Geschichte der protestantischen Kirchen (1688) zu Zwinglis Himmelsvorstellung am Ende der Expositio ironisch: «Je ne scay pourquoi il n’a y pas mis Apollon, ou Bacchus, et Jupiter mesme» («Ich weiss nicht, warum er nicht auch Apoll oder Bacchus und Jupiter dorthin versetzt hat»).

Im Kontext eines Portals mit dem Namen «Humanistica Helvetica» tut es sicher gut, daran zu erinnern, dass die Verbindung zwischen Humanismus und christlicher Theologie, zwischen christlichem Bekenntnis und der sympathetischen Beschäftigung mit der antiken (paganen) Literatur, die sich bei den meisten der auf diesem Portal vorgestellten Autoren feststellen lässt, nicht notwendig eine konfliktfreie sein musste. Mit der Frage nach den Heilsaussichten für die grossen Männer der heidnischen Antike wird hier gewiss ein neuralgischer Punkt berührt, dessen Bedeutung nicht überschätzt werden kann.

 

Bibliographie

Büsser, F., Das katholische Zwinglibild. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Zürich/Stuttgart, Zwingli Verlag, 1968.

Büsser, F., [Einleitung zur Fidei Expositio], in: Huldreich Zwingis Sämtliche Werke Bd. 6.5, Zürich, Theologischer Verlag Zürich, 1991, Nr. 181, hier: 1-38.

Capéran, L., Le problème du salut des infidèles. Essai historique, Toulouse, Grand Séminaire, 1934, [= Capéran 1934a); in unserem Kontext besonders relevant ebd., 242-251].

Capéran, L., Le problème du salut des infidèles. Essai théologique, Toulouse, Grand Séminaire, 1934 [= Capéran (1934b)].

Pfister, R., «Zur Begründung der Seligkeit von Heiden bei Zwingli», Evangelisches Missions-Magazin 95 (1951), 70-80.

Pfister, R., Die Seligkeit erwählter Heiden bei Zwingli: eine Untersuchung zu seiner Theologie, Zollikon, Evangelischer Verlag, 1952.