Schweizergarde und Schweizerruhm: Widmungsbrief zu einer Trauerrede auf Kaspar von Silenen

Oswald Myconius

Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt). Version: 10.02.2023.


Entstehungsdatum: 1. August 1518 (Briefdatum).

Ausgaben: Johannes Faber Augustanus, Oratio funebris habita in exequiis Gasparis de Silinon Capitanei Helvetiorum […], [Basel], [Adam Petri], [1518], hier: fol. aivo-aiiro; abgedruckt in: R. Durrer, Die Schweizergarde in Rom und die Schweizer in päpstlichen Diensten, Luzern, Räber, 1927, hier: 410-411.

 

Am 5. August 1517 kam bei einem Angriff auf sechs vor Rimini lagernde Schweizer und Bündner Fähnlein in päpstlichen Diensten durch den mit Papst Leo X. in Krieg liegenden Herzog von Urbino, Francesco Maria della Rovere, der Luzerner Kaspar von Silenen (ca. 1467-1517) zu Tode, der seit der Gründung der päpstlichen Schweizergarde im Jahr 1506 deren Hauptmann gewesen war. Dass Silenen selbst und mit ihm insgesamt etwa 130 Schweizer (und Bündner) den Tod fanden, lag nicht zuletzt an seinem nachlässigem Umgang mit einer Warnung vor dem herannahenden Feind, die ihm der Befehlshaber von Rimini, Guido Rangone, am Abend des 4. Augusts zusammen mit dem Angebot geschickt hatte, Silenens Männer zur Sicherheit in die Stadtmauern einzulassen (was man ihnen aus Sicherheitsgründen zuvor verweigert hatte). Silenen hatte diesen Vorschlag mit der Begründung abgelehnt, dies sei an diesem Tag nicht mehr möglich, da seine Leute bereits zu viel Wein getrunken hätten. Da offensichtlich auch der Wachdienst schlampig gehandhabt wurde, gelang den herzoglichen Truppen am frühen Morgen des 5. August ein veritabler Überraschungsüberfall auf die Schweizer und Bündner Fähnlein. Dieser scheiterte aber letztlich am energischen Widerstand der Schweizer, die sich in vierstündigem Kampf zum grössten Teil den Weg in die Mauern der Stadt Rimini freikämpften und dem Feind dabei weit schlimmere Verluste zufügen konnten (ca. 400 Mann), als sie selbst dabei erlitten (ca. 130 Mann). Dieser Ausgang der Ereignisse ermöglichte es, sie als schweizerischen Erfolg zu verbuchen und den gefallenen Hauptmann als Helden zu betrachten. Die Leichenrede anlässlich seiner feierlichen Exequien in Rom am 26. August 1517 hielt der aus Augsburg gebürtige deutsche Theologe Johannes Augustanus Faber (ca. 1470-1530), der sich damals in Italien aufhielt. Warum gerade dieser mit dieser Aufgabe betraut wurde, wird sich wohl nicht mehr feststellen lassen. Die für den Verstorbenen äusserst schmeichelhafte Rede (auf deren Inhalt wir hier nicht detailliert eingehen können), konnte nicht verhindern, dass sein Bruder Christoph bei der Nachfolge übergangen wurde, obwohl er der Wunschkandidat der Gardisten gewesen zu sein scheint; der Machtverlust der Silenen in ihrer schweizerischen Heimat sorgte dafür, dass mit den Röist aus Zürich ein anderes Geschlecht berücksichtigt wurde; im Übrigen ist die Grabstätte des in Fabers Rede so ausführlich gelobten Kaspar von Silenen heute nicht mehr bekannt. Der Text der Rede, die in der modernen Forschung kritisch betrachtet worden ist und mit ihrer ausgesprochenen Hyperbolik ein nicht untypisches, heute aber nur noch schwer geniessbares Beispiel humanistischer Funeralrhetorik darstellt, gelangte auch in die Schweiz. 1518 besorgte der damals als Schulmeister in Zürich tätige Oswald Myconius eine Druckausgabe, die bei Adam Petri in Basel erschien. In seinem als Vorwort dienenden Widmungsbrief wendet er sich an den damals in Basel studierenden Jost Brunner (Jodocus Fontanus), der sich (wenn wir den Worten des Myconius glauben wollen) eine solche Ausgabe gewünscht hatte. Was Myconius an dieser Rede interessiert, ist nicht das Lob für den Verstorbenen selbst, sondern das, was Faber über dessen Volk, die Helvetii (Schweizer) an Positivem zu sagen gehabt hatte; das Volk, dem Myconius und Brunner selbst angehörten.

Myconius nimmt zunächst die militärischen Grosstaten der Schweizer in den letzten 150 Jahren in den Blick, ohne dabei allerdings konkret auf bestimmte Schlachten oder Kriege näher einzugehen (was dafür aber Faber in der Rede selbst getan hatte). Die Schweizer hätten immer nur gerechte Kriege zur Verteidigung ihrer Heimat geführt und sich oft gegen zahlenmässig weit überlegene Gegner siegreich erwiesen. Dass Myconius die historischen Realitäten damit stark idealisiert, belegt alleine schon der Anlass von Fabers Rede: dass der Söldnerführer Kaspar von Silenen im Dienst des Papstes vor Rimini nicht seine Schweizer Heimat verteidigt hatte, liegt auf der Hand. Es ist daher sicher kein Zufall, dass Myconius den konkreten Anlass für die von ihm herausgegebene Rede, das Begräbnis des Hauptmanns, nur kurz anspricht und auf diesen selbst nicht weiter eingeht. Überhaupt blendet er in diesem Widmungsbrief die Realität des Söldnertums aus, die nicht nur dazu führte, dass Eidgenossen für die Interessen auswärtiger Regenten kämpften, sondern sogar dazu, dass sich Schweizer in feindlichen Lagern gegenüberstanden; solche Konstellationen mit der Doktrin des gerechten Krieges zu erklären, wäre ihm vermutlich auch nicht gelungen. Dass er von militärischen Niederlagen, wie sie die Schweizer auch zu erleiden gehabt hatten, schweigt, ist Ausdruck der gleichen manipulativen Realitätsverzerrung; im Jahre 1518, knapp drei Jahre nach der katastrophalen Niederlage der Eidgenossen Marignano, dürfte allerdings mehr als einem Leser dieses Briefes in die Augen gesprungen sein, dass Myconius ein unvollständiges Bild der schweizerischen Militärgeschichte zeichnete.

Myconius nennt dann noch weitere positive Qualitäten der Schweizer, die Faber hätte rühmen können (doch auch so schuldeten die Schweizer diesem schon Dank für das Gute, das er über sie gesagt habe). Besonders erfreut äussert sich Myconius über die Tatsache, dass die für den Verstorbenen und seine schweizerische Heimat so erfreuliche Rede von einem «Schwaben» gehalten worden war, womit er die geographische Herkunft des Augsburgers Faber im Übrigen korrekt bezeichnete. Er hält dieses Faktum aufgrund der traditionellen Animositäten zwischen den beiden Völkern für bemerkenswert. In der Tat dürfte nicht zuletzt der sogenannte Schwabenkrieg von 1499 zwischen dem Schwäbischen Bund und den Habsburgern auf der einen und den Eidgenossen und ihren Zugewandten auf der anderen Seite (der unter anderem auch den Stoff für das Epos Raeteis des Simon Lemnius) bildete, im Jahr 1517 noch eine lebendige Erinnerung gewesen sein.

Es wäre aufgrund der heutigen Verhältnisse verführerisch, diesen Brief auch als ein Dokument der deutsch-schweizerischen Beziehungen im Sinne eines angedeuteten Antagonismus anzusehen; das wäre jedoch anachronistisch, da der deutsche Charakter der Alten Eidgenossenschaft und ihre Zugehörigkeit zum Reich für die Schweizer jener Zeit nicht in Frage stand. Suevus (Schwabe) ist bei Myconius mithin kein Synonym für Deutschland schlechthin, sondern bezeichnet konkret die nördlichen Nachbarn der Eidgenossen.

Da der Lobredner Faber dem Schwabenvolke entstammt, sieht Myconius dessen Ausführungen vor Kritik gefeit, die sich vonseiten der Feinde der Schweiz erhoben habe würde, wenn ein Schweizer dergleichen über seine Heimat geäussert hätte; und er stellt diese Rede als einen Triumph der Wahrheit über die Schmähkritik dar, unter der die Eidgenossen in früheren Jahren zu leiden gehabt hätten (dabei dürfte er an Stimmen wie den Elsässer Jakob Wimpfeling gedacht haben). Mit Blick auf solche Schweizkritik tritt am Ende des Briefes plötzlich ein neuer Gedanke auf; Myconius weitet seinen Blick deutlich über die Rede des Faber, das Schweizlob eines Ausländers, hinaus. Bisher habe die Schweiz selbst niemanden gehabt, der auswärtige Schmähkritik hätte parieren können. Doch mittlerweile hätte sie bereits eigene Talente herangebildet, die jetzt gerade den letzten Schliff erhielten und bald ans Licht der Öffentlichkeit treten würden. Zu dem durchaus hyperbolisch gefärbten Stolz auf die grossen militärischen Erfolge früherer Jahre am Anfang des Briefes tritt hier also das freudige Bewusstsein, die helvetische Ehre nun bald auch aus eigenen Kräften mit den Waffen des Geistes gehen schmähende Stimmen verteidigen zu können. Das erinnert gedanklich durchaus an das zwei Jahre später (1519) erschienene Geleitgedicht des Joachim Vadian zur Helvetiae descriptio des Heinrich Glarean, in dem der Autor ebenfalls zunächst die Kriegstaten der Eidgenossen rühmt, um dann hervorzuheben, dass dank Glareans Werk und anderen gelehrten Männern nun auch in literarischer Hinsicht ein goldenes Zeitalter für die Schweiz angebrochen sei. Vadian steuerte dieses Gedicht zu der 1519 erscheinenden zweiten Ausgabe des erstmals 1514 publizierten Werkes bei, welche Oswald Myconius mit einem Kommentar versehen hatte, aus dem wir auf diesem Portal an anderer Stelle Ausschnitte präsentieren. Die gedanklichen Übereinstimmungen zwischen Myconius in dem vorliegenden Brief und Joachim Vadian sind nicht nur aufgrund dieses publizistischen Zusammenwirkens kein Zufall; sie zeigen, dass solche Überlegungen ideologisches Gemeingut innerhalb der schweizerischen Humanistenbewegung waren. Deutlich ist in beiden Fällen das Bewusstsein einer gewissen kulturellen Verspätung, die die Eidgenossenschaft in den Augen des Myconius wie des Vadian nun aber aufgeholt hat. Die Vorrede des Myconius zu der Rede des Johannes Faber fügt sich somit gedanklich auch zu der Tatsache, dass er einen Kommentar zur Helvetiae descriptio des Glarean schrieb; es erscheint nicht unwahrscheinlich, dass er sich schon im August 1518 damit beschäftigte, als er den vorliegenden Widmungsbrief zur Faberschen Leichenrede verfasste. Und schon aufgrund des hier erwähnten publizistischen Dienstes an der Helvetiae descriptio Glareans liegt es mehr als nahe, dass er in dem vorliegenden Brief zu den «guten Talenten» der Eidgenossenschaft, die bald «ans Licht treten werden», wohl nicht zuletzt auch sich selbst rechnet.

Ein besonderes historisches Interesse kommt der Rede des Johannes Faber auf Kaspar von Silenen und den Vorbemerkungen des Oswald Myconius dazu natürlich auch deshalb zu, weil sie in unmittelbarem Zusammenhang mit einer damals noch jungen Institution stehen, die bis heute fortbesteht und international mit der Eidgenossenschaft in Verbindung gebracht wird: der päpstlichen Schweizergarde, die als einzige der für die schweizerische Geschichte so bedeutsamen Söldnertruppen in ausländischen Diensten erhalten geblieben ist. Sie überlebte sowohl das Verbot neuer Kapitulationen (Verträge der Eidgenossen mit fremden Staaten zum Zwecke der Söldneranwerbung in der Schweiz) durch die Bundesverfassung von 1848 als auch das grundsätzliche Verbot der «Fremden Dienste» im Jahre 1859; ersteres, da die Werbung seit 1858 nur noch auf privater Ebene erfolgt, letzteres, da sie von den schweizerischen Behörden nicht als Armee, sondern als Polizeidienst betrachtet wird.

 

Bibliographie

Durrer, R., Die Schweizergarde in Rom und die Schweizer in päpstlichen Diensten, Luzern, Räber, 1927.

Henrich, R., Oswald Myconius, Briefwechsel 1515-1552. Regesten, bearbeitet von Rainer Henrich. Teilband 1. Briefe 1515-1541, Zürich, Theologischer Verlag Zürich, 2017, hier: Nr. 6, 113-114.

Krieg, P. M., Die Schweizergarde in Rom (1506-2006), Luzern, Räber, 1960.

Sieber-Lehmann C./Wilhelmi, T. (Hgg.), In Helvetios – Wider die Kuhschweizer. Fremd- und Feindbilder von Schweizern in antieidgenössischen Texten aus der Zeit von 1386 bis 1532, Bern/Stuttgart, Haupt, 1998.