Studieneinleitung (Studiorum ratio)
Heinrich Bullinger
Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 10.02.2023.
Entstehungszeit: 1527/28.
Handschriften (Kopien): Universitätsbibliothek Leipzig, Ms. 01352; Burgerbibliothek Bern, Cod. 557 (mit zahlreichen Abschreibfehlern).
Ausgaben: Ratio studiorum, sive de institutione eorum qui studia literarum sequuntur, libellus aureus, Zürich, J. Wolf, 1594, hier: fol. 18ro-20ro, 21vo-22ro; P. Stotz (Hg.), Heinrich Bullinger, Studiorum ratio – Studienanleitung, I. Teilband: Text und Übersetzung, Zürich, Theologischer Verlag Zürich, 1987, hier: 50-55; 58-59.
Als Heinrich Bullinger (1504-1571) um 1527/28 herum seine Studiorum ratio verfasste, war er erst zwischen dreiundzwanzig und vierundzwanzig Jahre alt. Zu seinen Lebzeiten ist der Text nicht im Druck erschienen; das besorgte erst Ulrich Zwingli (der Enkel des Reformators) im Jahre 1594. Die vier Jahre vor Abfassung dieses Textes (seit 1523) hatte Bullinger nach Abschluss seiner Kölner Studien an der dortigen Artistenfakultät mit dem Magistergrad (1519-1522) als Schulmeister in dem auf Zürcher Territorium liegenden Zisterzienserkloster Kappel verbracht; dabei hatte er sich Befreiung von den klösterlichen und kirchlichen Zeremonien ausbedungen. Bullinger hatte dort zum einen die Schüler der dem Kloster angeschlossenen Schule in den Disziplinen des Triviums unterrichtet (Grammatik, Dialektik, Rhetorik; das beinhaltete faktisch auch den lateinischen Sprachunterricht) und zum anderen Theologievorlesungen vor den Konventualen des Klosters gehalten. Auf Bullingers Einfluss ist es zurückzuführen, dass das Kloster 1525/26 die Reformation durchführte und sich somit als klösterliche Gemeinschaft im traditionellen Sinne selbst auflöste. Von Juni bis Dezember 1527 konnte Bullinger mit Genehmigung des Abtes einen Bildungsaufenthalt in Zürich absolvieren.
Bullinger widmete seine Schrift dem zwölf Jahre älteren Werner Steiner (1492-1542), dem Angehörigen einer vornehmen Familie aus Zug, der den geistlichen Stand gewählt hatte und in seiner Heimatstadt als wohlhabender Privatier lebte. Er war der Reformation wohl gewogen und freundete sich mit Bullinger an, während dieser im nahegelegenen Kappel unterrichtete. Steiner hatte Bullinger um eine solche Anleitung gebeten, um auf dieser Basis durch private Studien seine humanistischen Bildungslücken füllen zu können (sein eigenes Studium in Paris war noch strikt dem überkommenen scholastischen System gefolgt).
Die Schrift behandelt eine Fülle von Aspekten, sie berücksichtigt die verschiedenen wissenschaftlichen Sachgebiete und die unterschiedlichen Literaturgattungen und schenkt dem Bibelstudium grosse Aufmerksamkeit. Aller Wissenserwerb und auch die persönliche Aneignung der christlichen Religion gehen von der Textlektüre aus. Dabei parallelisiert Bullinger seiner Grundtendenz nach das Studium der Heiligen Schrift und das der weltlichen Schriftsteller und überträgt hermeneutische Ansätze, die man üblicherweise auf die weltliche Literatur anwandte, auf den biblischen Text.
In dem hier ausgewählten Kapitel 12 bietet Bullinger eine Art von Lektürekanon, in dem er die Autoren angibt, nach denen man in den verschiedenen Sachfeldern greifen soll. Drei Aspekte sind dabei auffällig:
- Bullinger zeigt eine auffällige Vorliebe für die Kompilationsliteratur, die das in anderen Autoren gesammelte Wissen in handlicher Weise zusammenfasste. Das gilt sowohl bei den genannten antiken Autoren wie hinsichtlich seiner eigenen Zeitgenossen.
- Besonders zu den griechischen Autoren fallen Bullingers Aussagen so vage und summarisch aus, dass sich Zweifel aufdrängen, wie gut er die genannten Autoren selbst wirklich gekannt hat.
- Bullinger fällt Verdammungsurteile über Autoren, die im traditionellen scholastischen Bildungsbetrieb hoch angesehen gewesen waren (Avicenna, Bartholus, Baldus) und verdeutlicht damit seinen eigenen humanistischen Standpunkt; darin liegt der einzige Zweck ihrer Nennung (denn zur Lektüre werden ja gerade sie nicht empfohlen).
Im Vordergrund steht für Bullinger bei der Autorenlektüre eindeutig der praktische Nutzen. Selbst Vergil und Horaz empfiehlt er nicht aufgrund ihrer Schönheit, sondern weil sie dem Leser Belehrung in bestimmten Sachgebieten schenken.
In Kapitel 14, das wir hier ebenfalls präsentieren, erläutert Bullinger, wie die humanistischen Wissenschaften zur Veredelung des Menschen beitragen; sein Lobpreis geht so weit, dass er formuliert, dass ohne Kenntnisse in diesen Wissenschaften wahres Menschentum nicht möglich ist. Man kann hier den Einfluss des erasmischen Denkens erkennen.
Bullingers Studiorum ratio ist eine ursprünglich wirklich primär für einen einzelnen, ganz bestimmten Empfänger gedachte Gelegenheitsschrift. Ihren Wert für uns erhält sie dadurch, dass wir hier einen exemplarischen Einblick in die reformiert-humanistische Bildungstheorie erhalten, die auf das Schulwesen der Epoche und der kommenden Jahrhunderte von grossem Einfluss gewesen ist.
Es erscheint abschliessend sinnvoll, hier eine kurze Übersicht über alle Kapitel der Schrift Studiorum ratio mit jeweils einer kurzen Inhaltsangabe zu geben. Je nach Inhalt und Umfang der Kapitel werden diese Angaben in ihrer Länge variieren. Die Übersicht kann deutlich machen, wie Bullinger sowohl theoretische als auch praktische Fragen behandelt, und welchen dominanten Platz das Studium der Heiligen Schrift in dem von ihm entworfenen Bildungssystem hat:
- De partitione temporis ad literarum studia (Über die Aufteilung der Zeit zu wissenschaftlicher Betätigung). Hier schlägt Bullinger folgenden Tagesablauf vor:
- Frühes Aufstehen (3-4 Uhr) und wichtige Studien (Philosophie und Theologie)
- Ab 8 Uhr: Ordnung der häuslichen Angelegenheiten; Spaziergang; Mittagessen und anschliessend eine Weile Ruhe (Studien während der Verdauung sind gesundheitsschädlich)
- Ab 1 Uhr: weitere Studien (Dichter oder Geschichtsschreiber), ggf. schriftstellerische Beschäftigung
- Ab 4 Uhr: häusliche Angelegenheiten; Abendessen; kurzer Spaziergang; danach weitere Studien (Redner, Dialektiker, andere Wissenschaften)
- 9 Uhr: Schlafenszeit (nächtliche Studien sind ungesund!)
- De victu, somno et remissione (Über Nahrung, Schlaf und Erholung): Hier plädiert Bullinger für Mässigkeit im Essen, Trinken, Geschlechtsverkehr und für einen geregelten, aber nicht zu langen Nachtschlaf (sieben Stunden) sowie gesunde Spaziergänge.
- De lectione (Über die Lektüre): Man soll gute Autoren lesen!
- Prophanis litteris esse operam dandam (Darüber, dass man sich den weltlichen Wissenschaften widmen soll): Bullinger weist mit Rekurs auf biblische Beispiele (Moses) und zahlreiche Exempel unter den Kirchenvätern nach, dass Christen sich mit weltlichen (das bedeutet auch: heidnischen) Wissenschaften beschäftigen dürfen.
- Quibus potissimum in prophanis opera danda (Welchen Dingen man sich im weltlichen Bereich widmen soll): Die Philosophie in ihren verschiedenen Ausprägungen (Philosophie der Redekunst, Natur- und Moralphilosophie) ist am wichtigsten.
- Disputationes philosophicae quomodo legendae (Wie philosophische Erörterungen zu lesen sind): Man muss die Hauptfrage eines Textes verstehen und die Argumentationsmittel nachvollziehen können. Dafür braucht man Kenntnisse in Dialektik.
- De lectione poetarum (Über die Lektüre der Dichter): Bullinger geht auf verschiedene Dichtungsgattungen ein. Er erinnert daran, dass Dichtungen tiefere Wahrheiten enthalten können. Sie eignen sich sogar sehr gut dafür, Belehrungen annehmbar zu machen. Er weist für verschiedene Gattungen (z. B. Satire und Tragödie) konkret auf, worin ihr Nutzen für den Leser besteht.
- De lectione oratorum (Über die Lektüre der Redner): Er weist auf, inwiefern die Beherrschung der Redekunst nützlich ist und gibt einige konkrete Lektüreempfehlungen (grosse Reden aus der antiken Literatur).
- De lectione historiae (Über die Lektüre der Geschichtsschreibung): Bullinger beschreibt die Merkmale der Historiographie und gibt Hinweise, worauf man bei der Lektüre am meisten achten soll (Realia, Reflexionen und Lebensbilder). Die Geschichtsschreibung ist die nützlichste Literaturgattung.
- Mathematicis operam esse collocandam (Dass man auf die Mathematik Mühe verwenden soll): Bullinger plädiert aus praktischen Erwägungen und aufgrund des Vorbilds grosser Männer des Altertums für eine massvolle Beschäftigung mit der Mathematik.
- Medicinam quoque et iurisprudentiam esse attingendam (Davon, dass man sich auch mit der Medizin und der Rechtskunde etwas befassen soll): Auch diese Wissenschaften können nützlich sein; man sollte sich daher «etwas» damit befassen.
- Qui authores potissimum in istis omnibus professionibus legendi (Welche Schriftsteller bei der Beschäftigung mit diesen Sachgebieten vorzugsweise zu lesen sind): Hier bietet Bullinger, wie oben bereits erläutert einen Lektürekanon; wir präsentieren dieses Kapitel auf unserem Portal.
- Epilogus de lectione ex Seneca et Cicerone, item nonnulla de exercitatione (Schlusswort über die Lektüre, aus Seneca und Cicero, weiter einiges über das beständige Sich-Üben): Man soll zielgerichtet lesen und auswendig lernen; man soll ausdauernd arbeiten.
- Quas ad res conferat studium prophanarum litterarum (Wozu das Studium der weltlichen Wissenschaften dienlich ist): Weltliche Studien helfen bei der Auslegung der Heiligen Schrift. Sie vermitteln gesunde Ratschläge, Charakterbildung, Ehrenhaftigkeit und Liebe zum Guten. Ohne sie ist der Mensch kein Mensch. Wir präsentieren auch dieses Kapitel auf unserem Portal.
- De lectione sacrarum litterarum (Über die Lektüre der Heiligen Schrift): Man muss die Bibel mit reinem Geist lesen und die Lektüre mit Gebeten begleiten. Man muss Ehrfurcht vor der Heiligen Schrift haben.
- Qui libri sacrae scripturae (Welches die Bücher der Heiligen Schrift sind): Bullinger zählt die kanonischen Bücher der Bibel (gemäss dem protestantischen Kanon) auf.
- De scripturis apocryphis (Über die apokryphen Schriften): Bullinger geht auf die Apokryphen und auf Streitfälle (ist eine Schrift echt oder apokryph?) ein.
- Quomodo tractanda sive legenda sacra (Auf welche Weise mit den Heiligen Schriften umzugehen ist, oder wie sie zu lesen sind): Um die Bibel richtig zu lesen, sind gewisse Voraussetzungen nötig. Dazu zählen Sprachenkenntnisse, Klarheit über den Zweck der Schrift und gewisse Behandlungsweisen.
- De linguis Hebraea et Graeca deque interpretibus (Von der hebräischen und der griechischen Sprache und von den Übersetzern): Bullinger geht auf den notwendigen Hebräisch- und Griechischunterricht ein. Er geht ausführlich auf mögliche Lernstrategien ein.
- De unico scripturae scopo, ad quem omnia bibliorum referantur (Von dem alleinigen Ziel der Schrift, auf das hin alle biblischen Bücher ausgerichtet sind): Bullinger skizziert die biblischen Verheissungen.
- Communes omnes scripturas tractandi rationes (Gemeinsame Behandlungsmethoden für alle biblischen Schriften): Bullinger plädiert dafür, bei der Bibellektüre den Textzusammenhang zu beachten. Er behandelt Fragen wie Analogie, unterschiedlichen Gebrauch desselben Wortes und den Tropus (Wortfiguren), dazu gehört auch die Allegorie. Ferner geht er auch auf den möglichen Vergleich verschiedener Schriftstellen ein.
- Quomodo legendi libri Mose prophetae (In welcher Weise der Schriftausleger die Bücher des Moses lesen soll): Er wendet die im 22. Kapitel aufgestellten Kategorien auf die Bücher Moses (die ersten fünf Bücher der Bibel) an.
- De allegoriis (Über die Allegorien): Bullinger erklärt die allegorische Auslegungsmethode, mahnt Anfänger jedoch zu einem vorsichtigen Gebrauch.
- De lectione historiarum (Über die Lektüre der geschichtlichen Bücher): Bullinger gibt Interpretationshinweise für die historischen Bücher des Alten Testament.
- De lectione prophetarum (Über die Lektüre der Propheten): Bullinger gibt Interpretationshinweise für die Lektüre der alttestamentlichen Propheten.
- De lectione Psalmorum, Proverbiorum et Iob (Über die Lektüre der Psalmen, der Sprüche und Hiobs): Bullinger gibt Interpretationshinweise für die Lektüre dieser Bücher.
- De lectione evangeliorum (Über die Lektüre der Evangelien): Bullinger gibt Interpretationshinweise für die Lektüre der Evangelien.
- De lectione epistularum (Über die Lektüre der Briefe): Bullinger gibt Interpretationshinweise für die Lektüre der neutestamentlichen Briefe.
- De exercitatione et utilitate lectionis sacrae (Von der beständigen Übung und vom Nutzen der Lektüre der Heiligen Schrift): Auch mit Verweis auf sein eigenes positives Beispiel fordert Bullinger fleissiges und unablässiges Studium.
- De commentariis (Über die Kommentare): Bibelkommentare soll man kritisch lesen, denn sie sind Menschenwerk. Bullinger nennt einige gelungene Kommentare.
- De locis parandis (Über die Erarbeitung von ordnenden Gesichtspunkten): Bullinger geht auf die locus- bzw. Toposlehre der Rhetorik ein (das heisst das Finden von ordnenden Gesichtspunkten) und gibt eine sehr umfangreiche Hilfestellung in tabellarischer Form.
- De loco et habitatione studiorum (Über den Ort und die Wohnung, die für Studien geeignet sind): Bullinger beschreibt die ideale Wohnumgebung für einen Gelehrten. Wichtig sind ihm dabei Ordnung sowie Schonung der Augen und des Kopfes. Der Schmuck des Raumes soll einfach und angemessen sein. Die Bibliothek soll eher aus ausgewählten denn aus zahlreichen Büchern bestehen.
- Peroratio (Schlusswort): Bullinger bittet Werner Steiner um gute Aufnahme seiner Schrift.
Bibliographie
Backus, I., «Bullinger and Humanism», in: E. Campi/P. Opitz (Hgg.), Heinrich Bullinger. Life - Thought – Influence, Bd. 2, Zürich, Theologischer Verlag Zürich, 2007, 637-659.
Engammare, M., «Tägliche Zeit und recapitulatio bei Heinrich Bullinger», in: E. Campi/P. Opitz (Hgg.), Heinrich Bullinger. Life - Thought – Influence, Bd. 1, Zürich, Theologischer Verlag Zürich, 2007, 57-68.
Moser, C., «Steiner, Werner», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 13.11.2012, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010858/2012-11-13/.
Stotz, P. (Hg.), Heinrich Bullinger, Studiorum ratio – Studienanleitung, II. Teilband: Einleitung, Kommentar, Register, Zürich, Theologischer Verlag, 1987.
Stotz, P., «Heinrich Bullinger (1504-1575) and the ancient languages», in: E. Campi u. a. (Hgg.), Scholarly Knowledge. Textbooks in early modern Europe, Genf, Droz, 2008, 113-138.