Wunderbuch

Conrad Lycosthenes

Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt). Version: 24.05.2023.


Entstehungszeitraum: vermutlich nach 1552 (Edition des Iulius Obsequens, vgl. unten); terminus ante quem ist der Erscheinungstermin 1557.

Ausgabe: Prodigiorum ac ostentorum chronicon quae praeter naturae ordinem, motum et operationem, et in superioribus et his inferioribus mundi regionibus, ab exordio mundi usque ad haec nostra tempora, acciderunt, Basel, Heinrich Petri, 1557; Nachdruck ohne Illustrationen: J. Gualterius [Gruter], J. (Hg.): Chronicon Chronicorum Politicum [...], Bd. 2, Frankfurt/M., Aubriana, 1614, 1-440; zu zeitgenössischen Bearbeitungen in Volkssprachen (deutsch und englisch) s. unten in der Einführung.

 

Conrad Lycosthenes (ursprünglich: Wolffhart) wurde am 8. August 1518 im elsässischen Rufach geboren. Ab 1529 wurde er in Zürich von seinem Onkel (mütterlicherseits) Konrad Pellikan unterrichtet; Pellikans Autobiographie war unter anderem auch für seinen Neffen Conrad Wolffhart bestimmt. Von 1535 an studierte Wolffhart in Heidelberg, wo er 1541 den Magistergrad erlangte. 1543 wurde er Professor für Grammatik und Dialektik an der Basler Artistenfakultät; 1545-1561 übte er ausserdem das kirchliche Amt eines Diakons an der Leonhardskirche aus. 1544 heiratete er die Witwe Christiane Zwinger (geborene Herbst), was ihn zum Schwager des Druckers Johannes Oporinus (1507-1569; ursprünglich: Herbst) und zum Stiefvater von Theodor Zwinger machte. Nach Johannes Gasts Tod im Jahr 1554 ersetzte er diesen als Korrespondenzpartner Heinrich Bullingers in Basel. Ein Schlaganfall wegen Überarbeitung lähmte Lycosthenes im gleichen Jahr rechtsseitig und zwang ihn dazu, sich die letzten sieben Jahre seines Lebens beim Schreiben der linken Hand zu bedienen. Er verstarb am 25. März 1561 in Basel. Lycosthenes edierte lateinische Texte und verfasste Kommentare; er bearbeitete die Apophthegmata und die Parabolae des Erasmus von Rotterdam, die in seiner Version (bald normalerweise in einem Band zusammengefasst) weite Verbreitung als Schulbücher fanden, wobei später sowohl im reformierten wie im katholischen Bereich überarbeitete Ausgaben davon erschienen, die Lycosthenes’ Namen nicht in jedem Fall nennen. 1551 gab er ohne das Wissen des Autors einen um zahlreiche Einträge ergänzten Auszug aus Conrad Gessners Bibliotheca Universalis unter dem Titel Elenchus scriptorum omnium heraus, der aufgrund seiner grösseren Benutzerfreundlichkeit mehr Verbreitung fand als das Original. Ein grosses Interesse brachte Lycosthenes Wunderzeichen und seltsamen Phänomenen entgegen. Bereits 1552 edierte er im Oktavformat den Liber de prodigiis des Iulius Obsequens, eine Prodigiensammlung aus dem 4. Jahrhundert n. Chr., die im 16. Jahrhundert (editio princeps: Venedig, Aldus Manutius, 1508) oft gedruckt und mit bemerkenswertem Interesse rezipiert wurde. Iulius Obsequens hatte in diesem Buch besonders auf Basis des Geschichtswerks des Titus Livius (59 v. Chr.-17 n. Chr.) historische Prodigien zusammengestellt, das heisst warnende, die normalen Grenzen der Natur überschreitende Vorzeichen (Missgeburten bei Mensch und Tier, seltene Himmelserscheinungen etc.), mit denen die Götter die Römer im Verlauf ihrer Geschichte zu Sühneleistungen für begangene Frevel aufgerufen hatten. Der einer solchen Kollektion zugrundeliegende Gedanke – eine höhere Instanz ruft die Menschen durch beunruhigende Zeichen zur Ordnung – liess sich trotz theologischer Bedenken in einen christlichen Kontext transferieren, wenn man sie mit Gottes Heilsplan in Verbindung brachte; einen solchen Ansatz konnte man zudem anhand vieler in der Bibel geschilderter Ereignisse rechtfertigen. Das Interesse an Prodigien hatte daher auch das Mittelalter überdauert und war so in die Frühe Neuzeit gelangt. Lycosthenes füllte in seiner Iulius Obsequens-Edition die chronologischen Lücken des nur fragmentarisch erhaltenen Textes und ermöglichte so einen Gesamtüberblick über die gesamte römische Prodigiengeschichte; ausserdem fügte er ergänzend die zeitgenössischen Prodigienwerke des Polydor Vergil (ca. 1470-1555) und des Joachim Camerarius (1500-1574) hinzu; dabei handelt es sich um zwei Dialoge, von denen der erstgenannte das Prodigienwesen scharf kritisiert, während der letztgenannte es rechtfertigt. Die grösste Leistung des Lycosthenes auf diesem literarischen Feld ist indessen das Prodigiorum ac ostentorum chronicon, das wir hier auf diesem Portal ausschnittsweise präsentieren; es erschien 1557 bei Heinrich Petri (1508-1579) in Basel, der zeitgleich eine von Johannes Basilius Herold (1514-1567) erstellte (eigenwillige) deutsche Bearbeitung auf den Markt brachte; es handelt sich in beiden Fällen um Folioformate. Wie schon die Iulius Obsequens-Edition, so zeichnen sich beide Ausgaben des Chronicon, die lateinische wie die deutsche, durch zahlreiche, der Illustration der geschilderten Wunder, Naturerscheinungen und Phänomene dienende Holzschnitte aus, die auf keiner Seite fehlen (wobei manche freilich mehrfach verwendet werden, um einander ähnliche Vorfälle ins Bild zu setzen). Einzelne Illustrationen wurden aus der Iulius Obsequens-Edition wiederverwertet. Erwähnenswert ist der Titelholzschnitt, der ,um eine Darstellung von Christus als Weltenrichter in Tondoform herum gruppiert, einerseits Momente der christlichen Heilsgeschichte (Kreuz, Auferstehung etc.), andererseits meteorologische Überschwemmung etc.) und teratologische (Missgeburten, Mischwesen etc.) Phänomene präsentiert.

1581 erschien in London eine englische Bearbeitung von Lycosthenes’ Werk ohne Illustrationen; 1614 wurde der lateinische Text des Lycosthenes in Frankfurt a. M. (ebenfalls, wohl aus Kostengründen, ohne die Holzschnitte) nachgedruckt. Obwohl das Buch also nicht oft nachgedruckt wurde (wozu sein enormer Umfang von mehr als 670 Seiten beigetragen haben dürfte), fand das darin enthaltene Material doch weite Verbreitung, da zahlreiche Verfasser von Prodigienbüchern es im 16. und 17. Jahrhundert übernahmen. Lycosthenes wurde derart zum «Wiederentdecker der antiken und […] Begründer einer frühneuzeitlichen Prodigienliteratur», einer Gattung, die zahlreiche Vertreter fand. Auch aufgrund seiner bürgerlichen Herkunft und universitären Bildung ist Lycosthenes ein typischer Autor auf diesem Feld. Das normale Lesepublikum konnte sich freilich gewaltige Foliobände wie das Chronicon des Lycosthenes nicht leisten und musste sich stattdessen mit den unzählbaren Einblattdrucken und den in ihrer Seitenzahl beschränkten Flugschriften oder (bei mehr als 16 Seiten Umfang) Heftchen begnügen, die seit dem späten 15. Jahrhundert auftauchen; diese dienten den Autoren der Wunderbücher im Übrigen nicht selten als Vorlage, wie umgekehrt die Verfasser von Flugschriften als Inspirationsquelle auf die grossen Sammelwerken zurückgriffen. Insgesamt erschienen in der Frühen Neuzeit vermutlich um die «tausend bis zweitausend Flugblätter, 200-600 Flugschriften und ungefähr 60-80 Bücher». Das enorme Interesse an solchen Berichten, Nachrichten und Sammelwerken belegt das Krisenbewusstsein dieser Epoche; ihr Erscheinen und ihre Verbreitung wäre in dieser Masse freilich auch nicht ohne die durch die Druckkunst geschaffenen neuen Möglichkeiten denkbar gewesen. Im protestantischen Bereich wurde das Interesse an den in solchen Publikationen präsentierten Phänomenen auch dadurch befeuert, dass man sich von den für das mittelalterliche Christentum charakteristischen Heiligenwundern abwendete und stattdessen stärker auf ungewöhnliche Himmelserscheinungen, Missgeburten etc. achtete, um anhand dieser Geschehnisse Gottes direkten Einfluss auf die Welt nachzuweisen.

Anders als ihm vorausgehende Autoren unterscheidet Lycosthenes nicht (jedenfalls nicht wahrnehmbar) zwischen den einzelnen Begriffen für die von ihm geschilderten ungewöhnlichen Phänomenen, wie ostentum, prodigium, miraculum etc., und scheint sie unterschiedslos zu benutzen; deshalb wirkt der Titel seines Buches (Prodigiorum ac ostentorum chronicon) wie eine Tautologie.

Wir bieten aus dem an mehrere Mitglieder der Basler politischen Elite adressierten Widmungsbrief Ausschnitte, in denen sich Lycosthenes einerseits zum Wirken Gottes in der Welt bekennt und somit sein Unterfangen auch theologisch rechtfertigt, andererseits den möglichen Nutzen seiner Arbeit für die Widmungsempfänger skizziert und kurz auf sein methodisches Vorgehen zu sprechen kommt. Auf die Widmungsepistel lässt Lycosthenes eine (hier nicht präsentierte) Übersicht über seine Quellenautoren folgen (fol. a4vo-b2ro), die einen Anspruch vollendeter Gelehrsamkeit untermauern helfen soll; anschliessend listet er einige gelehrte Zeitgenossen auf, die ihn mit Bildmaterial versorgt hatten (fol. bro). Zu ihnen gehörte zum Beispiel auch Heinrich Bullinger (vgl. fol. b2ro), mit dem Lycosthenes einen Briefwechsel unterhielt. Es ist im Übrigen für den Prodigiendiskurs der Frühen Neuzeit typisch, dass viele Gelehrte sich an ihm mittels ihrer Korrespondenzen beteiligten, wobei sie in der Regel aber – wie Bullinger – darauf verzichteten, selbst eigene Publikationen zu diesem Thema vorzulegen.

Nach derartigen Präliminarien beginnt Lycosthenes seine Prodigienpräsentation auf der ersten arabisch nummerierten Seite seines Werkes bei Adam und Eva, das heisst mit dem Sündenfall im Paradies, den er auf das Jahr 3959 v. Chr. ansetzt; hervorgehoben wird dabei (auch in der beigefügten Illustration) die Rolle des serpens callidissimus atque totius humanae salutis hostis («der überaus listigen Schlange, des Feindes des gesamten Menschengeschlechts», das heisst des Teufels). Ungeachtet dieses Beginns am Anfang der Menschheit bietet Lycosthenes relativ betrachtet mehr Material zu seiner eigenen Gegenwart als zu früheren Epochen. Ein guter Zehntteil seiner Sammlung entfällt auf Ereignisse in den sieben Jahre vor der Publikation des Buches (1550-1557). In der Logik des Weltbildes, das Lycosthenes mit den meisten seiner Zeitgenossen teilte, bedeutete diese Häufung, dass Gott der Menschheit dadurch das Herannahen gewaltiger Umwälzungen, das heisst wahrscheinlich das bevorstehende Weltende, signalisiert. Eine Rolle könnte freilich auch gespielt haben, dass Ereignisse der jüngsten Vergangenheit für ihn leichter in Erfahrung zu bringen und seriös zu beschreiben waren. Ausserdem präsentieren wir die Schlusssätze des Werkes, in denen Lycosthenes seinen Glauben daran bekräftigt, dass es sich bei den geschilderten Phänomenen um göttliche Warnzeichen handelt und noch einmal auf die didaktische Funktion der Sammlung hinweist; er endet mit einem Appell an seine Leser, Christus zu bitten, er möge den Zorn seines Vaters besänftigen.

Ungeachtet der theologischen Sinngebung, die Lycosthenes in der Widmungsepistel seiner Sammlung und in seiner Schlussbemerkung vornimmt, kann man sich als Leser des Eindrucks nicht erwehren, dass das theologische Anliegen im weiteren Verlauf des Buches doch mitunter hinter dem Unterhaltungswert der einzelnen Geschichten zurücktritt.

Auf eine weitergehende Besprechung der einzelnen Prodigien, die wir aus Lycosthenes Sammlung ausgewählt haben, können wir hier verzichten und verweisen stattdessen auf die Anmerkungen zu den einzelnen Wunderzeichen in der deutschen und französischen Übersetzung des lateinischen Texts. Bei der Auswahl wurde darauf geachtet, verschiedene Arten von Phänomenen (Naturkatastrophen, Missgeburten etc.) zu berücksichtigen. Zeitlich wurden nur Ereignisse berücksichtigt, die aus Lycosthenes’ eigener Gegenwart stammen und somit zumindest indirekt auch einen Einblick in die Lebensumstände dieser Epoche gestatten. Besonders hingewiesen sei hier nur auf den Bericht über die verhängnisvolle Begegnung eines St. Galler Knechts mit dem Teufel, die nachdrücklich vom Dämonenglauben der Epoche Zeugnisse ablegt, dem auch Gebildete wie Lycosthenes selbstverständlich anhangen (dieser Bericht könnte im Übrigen theoretisch auch im sogenannten Gespensterbuch Ludwig Lavaters stehen, das auf diesem Portal an anderer Stelle präsentiert wird).

Dass das Werk des Lycosthenes manche Leser zur Nachahmung anregte, beweist eine Handschrift der Bayerischen Staatsbibliothek, die sich ursprünglich in der Mannheimer Hofbibliothek befand. Sie zeigt, dass ein Unbekannter hundert Jahre nach dem Erscheinen des lycosthenischen Wunderwerkes 1677 eine handschriftliche Fortsetzung bis zum damaligen Zeitpunkt erstellt, die ebenfalls dem annalistischen Schema folgt; die Illustrationen sind hier einerseits andernorts ausgeschnittene Stiche, andererseits eigenhändige Zeichnungen von sehr mittelmässiger Qualität. 1696 wurde dazu ein eine Seite umfassender Eintrag in französischer Sprache hinzugefügt; insgesamt umfasst dieser Nachtrag, der als Beiband an ein Exemplar des lycosthenischen Werkes angefügt wurde, 48 Seiten.

 

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