Ein Artikel in der Bibliotheca universalis über den Autor selbst

Conrad Gessner

Einführung: Kevin Bovier (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 10.02.2023.


Entstehungszeitraum: 1544 (s. den Anfang des Artikels).

Ausgabe und Übersetzung: Bibliotheca universalis, Zürich, Froschauer, 1545, hier: fol. 179vo-180vo. Eine deutsche Übersetzung von Peter Stotz in: Conrad Gessner, 1516-1565, Universalgelehrter, Naturforscher, Arzt, hg. von Hans Fischer, Zürich, Orell Fuessli, 1967, 212-214.

 

Conrad Gessners Bibliotheca universalis brachte ihrem Autor den Beinamen «Vater der Bibliographie» ein. Dieses 1264 Folios umfassende Werk, das 1545 in Zürich erschien, erfasst 5031 Autoren, die in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt werden. Gessner berücksichtigt Werke in hebräischer, griechischer und lateinischer Sprache, die seit der Antike bis in seine Zeit hinein verfasst worden waren. Auch wenn dies nicht der erste Versuch einer biographischen Katalogisierung war, so erzielte Gessner doch bei weitem das beste Ergebnis; und der Zürcher Humanist liess es dabei nicht bewenden, denn 1548 und 1549 erschienen zwei weitere Bände: die Pandectarum libri (für weltliche Literatur) und die Partitiones theologicae (für theologische Werke). Das Sammeln dieser Masse von biographischen und bibliographischen Informationen stellte eine enorme Arbeit dar, bei der Gessner sich besonders auf schon existierende andere Kataloge stützen konnte, wie den Catalogus ecclesiasticorum scriptorum von Johannes Trithemius (1494), der auch in dem Auszug zitiert wird, den wir hier präsentieren. Der Zürcher besuchte, wie er in seinem Vorwort angibt, auch mehrere Bibliotheken in Rom, Bologna, Florenz und Venedig. Die Art und Weise, wie Gessner die Bücher erfasst, ist neuartig: Er bemüht sich systematisch den Autor, den Titel, den Druckort, den Drucker, das Jahr, das Format und den Umfang des Werkes anzugeben. Er bietet auch eine kurze Biographie des betreffenden Autors, stellt inhaltliche Beobachtungen zu den Werken an oder zitiert sie in Auszügen.

Gessner war erst 29 Jahre alt, als das Werk bei Froschauer herauskam. Ungeachtet seines jugendlichen Alters verfügte er schon über eine solide Ausbildung und legte eine beeindruckende Arbeitskraft an den Tag. Da er selbst schon Beiträge zu gelehrten Arbeiten geliefert und selbst publiziert hatte, nutzte er die Gelegenheit und widmete sich selbst einen Eintrag in seiner eigenen Bibliotheca universalis. Wie Peter Stotz bemerkt, handelt es sich dabei um den einzigen biographischen Abriss, den Gessner jemals verfasst hat: Es handelt sich dabei um ein bedeutsames Zeugnis aus der lebhaftesten Periode seines Lebens, denn in der Folge liess sich Gessner endgültig in Zürich nieder und unternahm nur noch kurze Forschungsreisen; seine Lebensgeschichte wird eins mit der Geschichte seiner Werke. Die biographische Notiz, die wir hier präsentieren, ist ausgesprochen umfangreich im Vergleich zu den manchmal nur einige Zeilen umfassenden Einträgen, die er anderen Autoren gewidmet hat. Auch die Vorstellung seiner Werke, die auf die autobiographische Notiz folgt, fällt sehr detailliert aus. Der Zürcher Humanist hatte unzweifelhaft den Wunsch, die Gunst seiner Kollegen zu gewinnen.

Auch wenn Gessners Eintrag die Ereignisse seines Lebens in chronologischer Rehenfolge aufzählt, lässt sich eine spezielle Struktur feststellen (wir verdeutlichen sie in unserer Edition, indem wir den Text in Paragraphen gliedern):

  1. Gessner rechtfertigt diese Notiz und nennt antike Vorbilder.
  2. Seine Jugend und Ausbildung; seine Studien und seine Privatlehrertätigkeit in Bourges.
  3. Seine Studien in Paris: Beschreibung seiner wenig geeigneten autobiographischen Lernbemühungen; Aufruf an die Studenten, ihren Professoren zu vertrauen.
  4. Seine Umzug nach Strassburg; unüberlegte Heirat und langweilige Unterrichtstätigkeit an einer Zürcher Schule; Umzug nach Basel und unterschätzte Mitarbeit an einem griechisch-lateinischen Wörterbuch.
  5. Dreijährige Tätigkeit als Griechischlehrer in Lausanne; seine medizinischen Interessen und ein kurzer Aufenthalt in Montpellier; Erlangung des Doktorats in Basel und Rückkehr nach Zürich, um dort Philosophie zu unterrichten.

Als Leitmotiv dieser Notiz stellt sich die Problematik einer zugleich moralischen und gelehrten auctoritas dar. Am Anfang stellt sich die Frage, ob Gessners Präsenz in seiner eigenen Bibliographie gerechtfertigt ist. Dann hebt er in der Passage über seine gelehrte Ausbildung die beträchtliche Autorität seiner ersten Lehrer hervor. Wenn er die Studenten ermutigt, nicht seinem Vorbild zu folgen und sich ihren Professoren anzuvertrauen, so schreibt er damit der Autorität der Letztgenannten eine hohe Geltung zu. Was ihn selbst betrifft, so hatte seine unüberlegte Heirat seine moralische Position in den Augen seiner Lehrer geschwächt. Wenn er seine Beiträge zu dem griechisch-lateinischen Wörterbuch erwähnt, hebt er sein Reputationsdefizit hervor, um die Tatsache zu erklären, dass seine Arbeit nicht ernst genommen wurde. Erst mit seiner Ernennung zum Professor in Lausanne durch die Berner Autoritäten wurde dieses Legitimitätsdefizit endgültig beseitigt. Sein Medizinstudium ermöglichte es ihm schliesslich, eine Kapazität auf einem anderen Wissensgebiet zu werden und dadurch auch seine Autorität als Humanist zu stärken.

Als Gessner starb, nutzte Josias Simler den Eintrag aus der Bibliotheca universalis als Quelle, um die Biographie seines Landsmannes zu schreiben. Simlers Bericht, der detaillierter ausfällt als Gessners Notiz, soll einer jungen Leserschaft ein moralisches Exempel liefern. Bei Gessner tritt dieser Aspekt nur zutage, wenn er seine Jugendirrtümer bekennt und den Studenten rät, sich auf ihre Professoren zu verlassen. Diese Episode wird übrigens auch von Simler seinen Zwecken nutzbar gemacht; er spielt bei dieser Gelegenheit vielleicht auf Gessners Autobiographie an: «Auch dies ist ein vortreffliches Beispiel für seine edle Geisteshaltung, dass er sich nicht geschämt hat, seine Jugendirrtümer sowohl im Gespräch mit seinen Freunden als auch besonders in schriftlichen Veröffentlichungen anzuerkennen und zu gestehen und anhand seines eigenen Beispiels Mahnworte an die jungen Leute zu richten, wie sie ihre Studien besser organisieren sollen.»

 

Bibliographie

Leu, U., «Bibliotheca universalis», in: U. Leu/M. Ruoss (Hgg.), Facetten eines Universums: Conrad Gessner 1516-2016, Zürich, Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2016, 53-60.

Leu, U., Conrad Gessner (1516-1565): Universalgelehrter und Naturforscher der Renaissance, Zürich, Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2016.