Gespensterbuch

Ludwig Lavater

Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 10.02.2023.


Entstehungszeitraum: die erste, deutschsprachige Ausgabe des Gespensterbuchs war 1569 in bei Christopher Froschauer in Zürich erschienen; die hier zu behandelnde erweiterte lateinische Version von 1570 muss Lavater also in den folgenden Monaten erarbeitet haben.

Ausgabe: Ludwig Lavater, De spectris, lemuribus et magnis insolitis fragoribus variisque praesagationibus quae plerunque obitum hominum, magnas clades mutationesque imperiorum praecedunt, liber unus, [Genf], Johannes Crispinus, [1570] https://www.e-rara.ch/gep_g/content/titleinfo/4926424.

Ludwig Lavater wurde 1527 in Kyburg im heutigen Kanton Zürich als Sohn des dortigen Landvogts geboren. Nach dem Schulbesuch in Kappel am Albis und in Zürich absolvierte er 1545-47 Studien in Strassburg, Paris und Lausanne und unternahm Reisen durch Graubünden und Oberitalien. 1550 wurde er in Zürich Archidiakon und heiratete im gleichen Jahr Margareta Bullinger, eine Tochter Heinrich Bullingers, der seit Zwinglis Tod an der Spitze der Zürcher reformierten Kirche stand; nach ihrem Tod ehelichte er 1565 Adelheid Strupler. 1585 wurde Lavater Pfarrer am Zürcher Grossmünster und damit zugleich als Nachfolger Rudolf Gwalthers, der auf Bullinger gefolgt war, Antistes der Kirche von Zürich. Er starb bereits ein Jahr später, 1586, nach kurzer Krankheit. Neben dem hier zu behandelnden «Gespensterbuch», seinem berühmtesten Werk, verfasste er Bibelkommentare, theologische Schriften (darunter wichtig eine Abhandlung über die Gebräuche der Zürcher Kirche sowie eine umfangreiche Schrift über den Abendmahlstreit zwischen Luther und Zwingli), Predigten (am bekanntesten sind seine Pestpredigten), aber auch einen Katalog über alle Kometenerscheinungen von der Herrschaftszeit des Augustus bis zum Jahr 1556. Das sich im Kometenbuch aussprechende, durchaus epochentypische Interesse Lavaters an echten oder vermeintlichen Wundererscheinungen (lateinisch: prodigia) kommt auch in dem hier zu behandelnden Werk zum Ausdruck.

1570 veröffentlichte Lavater in Genf die lateinische Ausgabe seines «Gespensterbuches» (De spectris, lemuribus etc.), die der Autor selbst gegenüber der bei Christopher Froschauer 1569 in Zürich erschienenen Erstausgabe von 1569 deutlich erweitert hatte. Diese lateinische Version wurde im Laufe der Zeit mehrfach nachgedruckt, verbreitete sich in ganz Europa und wurde in mehrere Volkssprachen – Französisch, Englisch, Niederländisch – übersetzt. Sie wurde im Jahr 1670 auch zur Grundlage einer neuen deutschen Version. Insgesamt erschienen in den verschiedenen Sprachen im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts 19 Ausgaben des «Gespensterbuches» (neun lateinische, vier deutsche, eine davon die erwähnte Rückübersetzung aus dem Lateinischen, zwei französische, zwei englische, zwei niederländische).

Die Schrift gliedert sich in drei Teile, denen ein Widmungsbrief an den Berner Patrizier Hans Steiger vorangestellt ist. Lavater zitiert im Laufe seines Buches mehr als 70 Quellenautoren; das zeitliche Spektrum reicht dabei von der paganen und der christlichen Antike über das Mittelalter bis in das Zeitalter des Humanismus und seine eigene Gegenwart; daneben beruft er sich gelegentlich auch auf eigene Erfahrungen und die Mitteilungen von Bekannten. Die Länge der Quellenzitate fällt sehr unterschiedlich aus; und auch hinsichtlich der Zitierweise (Zusammenfassung in eigenen Worten, Zitat in indirekter Rede oder ausführliches Zitat im Wortlaut) ist kein einheitliches Vorgehen Lavaters zu erkennen.

An den Anfang des ersten Teils stellt Lavater einen Katalog, in dem er einige Begriffe aufführt und erklärt, die mit dem Gespenster- und dem Vorzeichenthema in Verbindung stehen. Er beginnt sinnigerweise mit dem Wort spectrum («Gespenst»). Der Katalog ist im Übrigen nicht alphabetisch geordnet, sondern scheint eher (wenngleich vage) einer inhaltlichen Logik zu folgen, indem er von allgemein eher unkörperlich gedachten Erscheinungen (spectrum, visio, πνεῦμα etc.) zu solchen voranschreitet, mit denen man ein bestimmtes, physisch greifbares Erscheinungsbild verbindet (wie Harpyien, Hippokentauren, Tritonen etc.). Durchaus nicht alle in dieser Übersicht erläuterten Begriffe spielen im Rest des Werkes wirklich eine Rolle; es geht Lavater hier dabei erkennbar vor allem darum, seinen Lesern gleich zu Beginn von De spectris seine umfassende Gelehrsamkeit zu demonstrieren. Das eigentliche Thema des ersten Teils ist der Nachweis, dass es Gespenster (spectra) und Wunderzeichen (portenta) tatsächlich gibt. Lavater räumt jedoch ein, dass nicht alle vermeintlichen übernatürlichen Phänomene echt sind, und stellt mögliche psychopathologische und andere natürliche Erklärungsmuster vor (darunter befinden sich beispielshalber Geistesstörungen wie die Melancholie, die zu Wahnvorstellungen führen, Trunkenheit, aber etwa auch Echos und Lichtbrechungen im Wasser). Noch ausführlicher geht er darauf ein, dass auch betrügerische Machenschaften hinter solchen Phänomenen stecken können; er nennt etwa Leute, die unerlaubte Liebschaften pflegen und sich durch das Vorspielen von Geistererscheinungen ein Schäferstündchen ermöglichen wollen.

Noch mehr als solche und andere Betrüger aus dem Laienstand hat Lavater allerdings Priester im Blick. Seine Exempel nimmt er dabei sowohl aus dem heidnischen wie aus dem christlichen Bereich, wobei er derlei Machenschaften unter Christen für besonders verwerflich hält. Er nutzt die Gelegenheit für ausführliche Konfessionspolemik gegen katholische Priester im Allgemeinen und ganz besonders gegen das Mönchtum. Sein ausführlichstes Beispiel ist der Berner «Jetzerhandel», eine aufsehenerregende Affäre am Vorabend der Reformation, bei der Berner Dominikanern vorgeworfen wurde, sie hätten vor einem einfältigen Laienbruder in ihrem Kloster nächtliche Erscheinungen diversere Heiliger fingiert, um so das Ansehen ihres Klosters, ihres Ordens und bestimmter theologischer Lehrmeinungen zu verstärken (dass sie möglicherweise Opfer einer Intrige und unschuldig waren, sei hier nur am Rande angemerkt; für Lavater waren sie Schurken). Lavater geht aber auch in seine eigene Gegenwart und erzählt von einem deutschen Jesuiten, der sich 1569 sich als Teufel verkleidet habe, um einigen Gegner des Ordens Furcht einzuflössen, jedoch in dieser Verkleidung von einem mutigen Knecht erstochen worden sei.

Wenngleich Lavater also vor Leichtgläubigkeit warnt, besteht für ihn grundsätzlich kein Zweifel daran, dass es Gespenster wirklich gibt; denn diese Tatsache lehre die tägliche Erfahrung. Den Nachweis dafür führt er wiederum mit zahlreichen Geschichten und Berichten, die er primär der Literatur und historischen Quellen, aber auch den Mitteilungen von Bekannten entnimmt. Die Geschichte über einen Geist in einem Bergwerk bei Davos, die Lavater brieflich vom dortigen Landammann erfahren haben will, hat es über Umwege sogar in die Deutschen Sagen der Gebrüder Grimm geschafft.

Nachdem im ersten Teil grundsätzlich geklärt wurde, dass es Gespenster gibt, beschäftigt sich der zweite damit, zu erklären, worum es sich bei diesen Gespenstern genau handelt. Lavater wendet sich aus theologischen Gründen entschieden gegen die landläufige Vorstellung, dass es sich dabei um die Geister von Verstorbenen handelt. Damit verknüpft sich automatisch eine scharfe Polemik gegen die katholische Lehre vom Fegefeuer als einem temporären Zwischenort für jene Seelen Verstorbener, die zwar einerseits der ewigen Verdammnis und damit der Hölle entkommen sind, andererseits aber noch einer gewissen Reinigung bedürfen, bis sie in das Himmelreich eintreten dürfen. Wie Lavater weiss und ausführt, berichten viele fromme Geschichten, wie diese Geister das Fegefeuer temporär verliessen, Lebenden erschienen und diese um Hilfe baten; diese sollten durch gute Werke, aber etwa auch durch das Feiern von Messen dafür sorgen, dass sie, die Verstorbenen, das Fegefeuer rascher verlassen können. Das Konzept des Fegefeuers wird von Lavater wie von allen Reformatoren als unbiblisch verworfen; gemäss der reformierten Lehre geht die Seele nach dem Tod entweder direkt in die Hölle oder in den Himmel und kehrt nicht mehr auf die Erde zurück. Auch wenn Geisterscheinungen bestimmten Verstorbenen gleichen und sich als diese ausgeben, handelt es sich in Wahrheit um Engel (angeli); und zwar gelegentlich um gute Engel, die im Auftrag Gottes auf diese Weise erscheinen, um den Menschen Rat und Hilfe zu erteilen; meistens aber um böse, gefallene Engel bzw. Dämonen und Teufel (diaboli), die die Menschen auf diese Weise täuschen wollen. Lavaters Hauptangriffsziel ist somit auch im zweiten Teil des Buches der Katholizismus; daneben polemisiert er gelegentlich auch gegen die Epikureer, die ein Fortleben der Seele nach dem Tod bekanntlich ganz in Abrede gestellt hatten.

Der dritte Teil behandelt einerseits die Frage, warum Gott Gespenster- und Wundererscheinungen zulässt, andererseits die Frage, wie Menschen sich gegenüber solchen Erscheinungen verhalten sollen. Die Antwort auf die erste Frage entspricht vertrauten Theodizeemustern: Gott wolle die Gläubigen auf die Probe stellen und die Ungläubigen auf die Probe stellen. Was sodann den konkreten Umgang mit Geistern geht, dient das heidnische Altertum als Negativfolie. Um die Forderungen von Geistern zu erfüllen, hätten die Heiden zum Beispiel Feste wie die Feralia oder Parentalia eingeführt, und sich damit gegenüber den Dämonen als willfährig und ihnen hörig erwiesen. Den Juden seiner Zeit unterstellt er Aberglaube. Selbstverständlich lehnt Lavater auch alle traditionellen Bräuche der katholischen Kirche (auch in diesem Buchteil sein ausführlich attackierter Hauptgegner) mit Bezug auf solche Erscheinungen ab: Exorzismus, geweihtes Salz und Glockengeläut werden von ihm (ganz im Sinne der protestantischen sola fide-Lehre) verworfen. Doch so sehr Lavater einerseits hier und an anderen Stellen den traditionellen Klerus bekämpft, so führt er im dritten Teil doch seinerseits eine Personengruppe ein, die privilegierte geistliche Kenntnisse über den richtigen Umgang mit Spukerscheinungen besitzt: die protestantischen Diener des Gotteswortes, die ministri verbi – wie er übrigens ja selbst einer war. Zu seinen konkreten Ratschlägen für Christen, die mit Gespenstererscheinungen konfrontiert sind, gehören unter anderem eine tapfere Geisteshaltung, Beten, Fasten und ein gesundes Misstrauen gegenüber den Worten solcher Erscheinungen, die man gemäss der christlichen Offenbarung auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu prüfen habe. Im letzten (zwölften) Kapitel des dritten Teils wendet sich Lavater noch der Frage zu, wie man sich gegenüber möglichen Vorzeichen (wie unerwarteten Donnerschlägen) verhalten soll; er warnt auch diesbezüglich vor furchtsamer Leichtgläubigkeit, aber auch davor, solche Zeichen ganz zu ignorieren; damit bleibt er seiner Linie, die in seinem Buch enthaltenen Ratschläge als goldenen Mittelweg zu präsentieren, treu. Das Buch endet mit einem Aufruf zu (christlich-reformierter) Glaubenstreue. Dass das Werk in seiner Gesamtheit noch mehr theologische Fragen anschneidet, als hier berücksichtigt werden konnten, sei hier zumindest noch angemerkt. Auch die Fülle von Exempeln aus der antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur, die Lavater anführt, konnte hier nur ganz oberflächlich angedeutet werden. Angemerkt sei hier noch, dass auch das für die frühe Neuzeit in Mittel- und Nordeuropa so wichtige Thema der Hexerei in Lavaters Buch gelegentlich aufscheint; es spielt jedoch nur eine Nebenrolle.

Unsere Textauswahl berücksichtigt den Widmungsbrief und den ersten Teil des Buches. Dem Widmungsbrief entnehmen wir Lavaters einleitende Bemerkungen, in denen er sein Unterfangen besonders mit den zu diesem Thema verbreiteten irrigen Ansichten (gänzliche Leugnung, übertriebene Angst, die Lehre von der Armen Seelen aus dem Fegefeuer) bzw. der Unwissenheit begründet, die selbst geistig hervorragende Männer gegenüber diesem Sujet verspüren. Ausserdem präsentieren wir Lavaters kurzen Hinweis, dass er das Werk selbst aus dem Deutschen übersetzt und dabei erweitert hat. Aus dem ersten Teil bieten wir zwei Textbeispiele, in denen Lavaters Bemühen zum Ausdruck kommt, einerseits vor Leichtgläubigkeit zu warnen, andererseits aber die Existenz von Gespenstern und vergleichbaren Erscheinungen als unumstössliche Tatsache hinzustellen. Der erste Text nennt einige Beispiele für Menschen, die Gespenstererscheinungen bewusst inszenieren, um andere zu erschrecken und einzuschüchtern. Das zweite Textbeispiel illustriert Lavaters Bestreben, die Existenz von Gespenstern anhand der allgemeinen Alltagserfahrung zu beweisen; dazu gehört auch der bereits erwähnte briefliche Bericht des Landammans von Davos. Wir denken, dass die hier ausgewählten Passagen (gerade wo sie sich auf Alltagserfahrungen berufen) auch kulturhistorisches Interesse beanspruchen dürfen. Aus den mitunter durchaus umfangeichen und komplexen theologischen Argumentationsgängen des zweiten und dritten Buchteils einzelne Passagen aus ihrem Kontext herauszuschneiden, erschien uns dagegen nicht sinnvoll.

 

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