Lateinische und griechische Konversationsformeln
Alban Thorer
Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 10.02.2023.
Entstehungszeitraum: vor dem 30. August 1541 (Datum des Widmungsbriefs).
Ausgabe: Familiarium colloquiorum formulae Graece et Latine, etc., Basel, s.n., 1541, hier: fol. a6ro-a7ro, A1ro-A3ro.
Alban Thorer wurde 1490 in Winterthur geboren und verstarb am 23. Februar 1550 in Basel. 1541, als der vorliegende Text erschien, wirkte er dort als Professor an der medizinischen Fakultät. Thorer, der die Heilkunde in Basel und Montpellier studiert hatte, trat aber nicht nur als Mediziner, sondern auch als Philologe hervor. Ab 1524 war er eine Zeitlang Dozent für Latein und Rhetorik an der Basler Artistenfakultät und übernahm 1532, nach der reformationsbedingten Neuorganisation der Universität, für einige Jahre ebendort eine Professur für diese Fächer. Er betätigte sich zudem als Herausgeber und auch Übersetzer (vom Griechischen ins Lateinische) antiker medizinischer Texte und übersetzte das wichtige zeitgenössische anatomische Standwerk De humani corporis fabrica («Über den Aufbau des menschlichen Körpers») des Andreas Vesalius (1514-1564) ins Deutsche. 1541 gab er das antike Kochbuch des Apicius heraus. Seine Interessen erstreckten sich – in unserem Kontext vielleicht nicht uninteressant – auch auf die Grammatik und deren didaktische Vermittlung: 1528 veröffentlichte er eine lateinische Zusammenfassung der griechischen Grammatik des Manuel Chrysoloras.
Die nebeneinander in Latein und Griechisch abgedruckten Familiarium colloquiorum formulae Graece et Latine – zweisprachig wiedergegebene Redewendungen und Ausdrücken aus dem täglichen Alltagsgebrauch – sollen Schülern einen Grundstock an griechischer Eloquenz für den aktiven Sprachgebrauch vermitteln (siehe den von uns präsentierten Widmungsbrief Thorers an Claudius Cantiuncula und den Beispieltext aus den formulae). Dass das Funktionieren dieses didaktischen Verfahrens voraussetzt, dass die Schüler im Lateinischen bereits ein gewisses Niveau erreicht haben, sei nur am Rande kurz angemerkt. Der Text dieser Redewendungen, den Thorer bietet, entstammt den sogenannten Hermeneumata Pseudodositheana, einem Lernhandbuch aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. Ursprünglich dürfte es eher dafür gedacht gewesen sein, griechischsprachigen Schülern beim Erlernen des Lateinischen zu helfen. Je nach Manuskript gehören zu diesem Textkorpus vor allem auch noch ein alphabetisches sowie ein thematisch geordnetes Glossarium. Manche der Texte des Corpus zielen deutlich auf Schüler im Kindesalter an, andere kommen eher den Interessen von Erwachsenen entgegen. Die colloquiorum formulae, die Thorer aus den Hermeneumata Pseudodositheana übernimmt, zeichnen sich, wie das von uns gewählte Beispiel gut zeigt, durch einen höchst einfachen Satzbau und eine simple Grammatik aus und zielen deutlich primär auf ein Publikum im Knabenalter ab. Ein interessanter Aspekt ist dabei, dass diese Texte die Schüler, für die sie laut Thorer gedacht waren, zugleich in eine ihnen fremde Lebenswelt führten: die der kaiserzeitlichen Antike. Der von uns gewählte Ausschnitt aus den colloquiorum formulae macht das sehr schön deutlich. In ihm wurde der frühneuzeitliche Schüler ganz nebenbei auch mit antiken Kleidersitten (z. B. Albe und Pänula) sowie dem Haus- und Schulalltag eines kaiserzeitlichen Knaben vertraut gemacht (z. B. durch Erwähnung der Amme und des Pädagoge, eines Sklaven, der ihn in die Schule begleitet). Von der didaktischen Vorgehensweise moderner Lateinlehrbücher für die gymnasiale Unterstufe ist dieser Ausschnitt in dieser Hinsicht gar nicht weit entfernt. Aus heutiger Sicht ungewohnt ist freilich die von Thorer in seinem Geleitbrief ausgesprochene Absicht, die Schüler zu einem aktiven Sprachgebrauch des Altgriechischen anzuregen Diese Absicht entspricht freilich den didaktischen Gepflogenheiten der Zeit. Wie der insgesamt bei weitem dominierende Lateinunterricht, so war auch der Unterricht im Griechischen darauf ausgerichtet, «Eloquenz» zu vermitteln, das bedeutet: die Fähigkeit, das Griechische mündlich und schriftlich geläufig zu beherrschen. Manche Humanisten (wie der Deutsche Joachim Camerarius und der Franzose Guillaume Budé) brachten es darin sehr weit, einige, wie zum Beispiel Conrad Gessner, verfassten sogar Gedichte in dieser Sprache.
Der Text, den Thorer hier veröffentlichte, konnte dem Publikum seiner Zeit gleichsam als historischer Vorläufer einer Gattung erscheinen, die sich im 16. Jahrhundert grosser Beliebtheit erfreute: des lateinischen «Schülerdialogs», in dem sich fiktive Kinder und Jugendliche in gutem Latein untereinander austauschen – vorzugsweise über Gegenstände ihres alltäglichen Lebens (das unterscheidet sie natürlich vom historisch weit entfernten Setting der colloquiorum formulae). Die realen Schüler, die mit solchen Werken unterrichtet wurden, konnten sich auf diese Weise die entsprechenden Floskeln einprägen und so ihre aktiven Lateinkenntnisse schulen (ein Ziel, das Thorer auf das Altgriechische überträgt). Bekannte Werke dieser Art stammten etwa von Petrus Mosellanus (1517: Paedologia), Erasmus von Rotterdam (seine berühmten, zwischen 1518 und 1522 entstandenen Colloquia, die trotz ihrer enormen Verbreitung und Bedeutung für den Schulbetrieb das Genus des Schulbuchs deutlich transzendieren), Juan Luis Vivès (1539: Linguae Latinae exercitatio), Mathurin Cordier (1564: Colloquia) oder Jacobus Pontanus (1590: Progymnasmata latinitatis). Gelegentlich wurden auch Übersetzungen in den Landessprachen hinzugefügt (dies war bei Cordier und Vives der Fall), was dann dem zweisprachigen didaktischen Verfahren der antiken colloquiorum formulae recht nahe kommt. Das Ziel eines solchen Unterrichts bestand darin, dass die Schüler im Alter von durchschnittlich 16 bis 18 Jahren das Lateinische aktiv mit einiger Leichtigkeit handhaben konnten, was Voraussetzung für den erfolgreichen Universitätsbesuch war. Dass dies trotz der oben aufgeführten und anderer Hilfsmittel von Lehrern wie Schülern oft als mühsame Aufgabe empfunden wurde und nicht immer von grossem Erfolg gekrönt war, sollte man gerechterweise festhalten, um eine Idealisierung zu vermeiden. Hinsichtlich des Griechischunterrichts ist zudem zu bedenken, dass er im praktischen Schulbetrieb deutlich im Schatten der lateinischen Sprache stand und deshalb trotz identischer Unterrichtsmethoden in der Regel weniger greifbare Erfolge erzielte.
Neben diesem gut zwanzig Seiten umfassenden Textkorpus enthält das Buch auch noch mehrere andere Texte, die sich für den Schulunterricht der Zeit gut eigneten: die philosophische Allegorie Tabula Cebetis («Die Tafel des Kebes»; griechisch mit lateinischer Übersetzung); den Katzenmäusekrieg (griechisch mit lateinischer Übersetzung); den Froschmäusekrieg[ (griechisch mit lateinischer Übersetzung) und die dazugehörigen Scholien des Philipp Melanchthon; den (lateinischen) drei Bücher umfassenden Froschmäusekrieg des Elisius Calentius Amphratensis (Elisio Calenzio); und das Grammaticale Bellum des Andreas Guarna («Über den Krieg zwischen Königen der Grammatik»). Welche didaktischen Absichten Thorer mit diesen Texten verfolgte, machen in dem gewählten Ausschnitt aus dem Widmungsbrief exemplarisch seine Bemerkungen zur «Tafel des Kebes» deutlich.
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