Diverse Prosagattungen

Autor(en): Clemens Schlip (traduction française: Kevin Bovier). Version: 14.05.2025.

Auf Humanistica Helvetica gibt es einige Texte, die sich in einem engeren oder weiteren Sinne als narrative Prosa bezeichnen lassen, ohne dass man sie den an anderer Stelle behandelten Bereichen der Geschichtsschreibung oder der Autobiographie/Biographie zuordnen könnte oder möchte. Diese Texte lassen sich in keiner Weise über einen Kamm scheren. Sie repräsentieren jeder für sich jeweils ein bestimmtes Gattungsfeld frühneuzeitlichen Prosaschrifttums. Wir führen im Folgenden diese Gattungsfelder kurz auf und nennen jeweils den Text, der sie auf diesem Portal vertritt.

Die Gattung der Reiseliteratur bzw. Reiseberichte (und zwar solcher, die eine tatsächlich unternommene Reise behandeln, und keine fiktive) repräsentiert auf diesem Portal der Luzerner Patrizier Jost von Meggen mit seiner Peregrinatio Hierosolymitana (1580) über seine Pilgerfahrt ins Heilige Land und nach Ägypten zwischen Frühjahr 1542 und Frühjahr 1543. Diese Art von Heiligland-Pilgerberichten bildete in Mittelalter und Früher Neuzeit eine Subgattung mit klar abgrenzbarem Eigenprofil.

Prodigienliteratur (auch Wunderbücher etc. genannt) beschäftigt sich mit sonderbaren, auffälligen, schwer oder gar nicht erklärlichen Naturerscheinungen (Missbildungen, Missgeburten, Naturkatastrophen etc.). Das Interesse an derartigen prodigia, die man als warnende, von einer höheren Macht gesandte Vorzeichen interpretierte, bestand bereits in der Antike. Berühmt ist etwa der der Liber de prodigiis des Iulius Obsequens aus dem 4. Jahrhundert, eine Kompilation historischer Prodigien aus dem Geschichtswerk des Titus Livius. Der einer solchen Kollektion zugrundeliegende Gedanke – eine höhere Instanz ruft die Menschen durch beunruhigende Zeichen zur Ordnung – lässt sich trotz theologischer Bedenken in einen christlichen Kontext transferieren, wenn man ihn mit Gottes Heilsplan in Verbindung bringt. Das Interesse an Prodigien hat daher auch das Mittelalter überdauert und ist so in die Frühe Neuzeit gelangt. Der Basler Professor und Diakon Conrad Lycosthenes edierte nicht nur den Iulius Obsequens, sondern legte mit seinem Prodigiorum ac ostentorum chronicon (1557) in einem Folioband ein umfassendes und in der Erstausgabe reich illustriertes Kompendien derartiger bemerkenswerter Erscheinungen von Adam und Eva bis in seine eigene Gegenwart vor, wobei letztere im Vergleich zu anderen Epochen überdurchschnittlich stark berücksichtigt wird.

In der neulateinischen Literatur der Schweiz gibt es keinen Roman. Dafür findet man in den der Unterhaltung und moralischen Belehrung dienenden Werken De virginitatis custodia (1544) und Conviviales sermones (1541-1551) des aus dem heutigen Deutschland stammenden Wahlbaslers Johannes Gast narrative Kleinformen, wobei er meist Geschichten von anderen Autoren übernimmt und gegebenenfalls bearbeitet, sich aber auch mit eigenen Beiträgen zu Wort meldet. Gerade die Convivales sermones, sein Hauptwerk, lassen sich als Anekdoten- und Fazetiensammlung bezeichnen (Fazetien sind zugespitzte kurze Prosaerzählungen). Bei dieser gattungsmässigen Zuordnung ist freilich zu bedenken, dass die Grenzen zwischen den diversen Prosa-Kleinformen (Apophthegma, das heisst die Wiedergabe eines in einer bestimmten Situation getanen Ausspruches, Anekdote, Fazetie etc.) oft fliessend sind. Unverkennbar ist jedenfalls die Stossrichtung des Werks. Schon der Titel Convivales Sermones («Gastmahlgespräche») macht den für die einzelne Geschichten erhobenen Anspruch deutlich, bei geselligen Zusammenkünften die Grundlage und den Ausgangspunkt für Unterhaltungen bilden zu können. Die Sammlung schliesst damit an die zeitgenössische «Gesprächskultur gelehrter Kreise» an, die auch in anderen Literaturwerken ihre Spuren hinterlassen hat (ein prominentes Beispiel: die Colloquia familiaria des Erasmus von Rotterdam).