Elegie über Wilhelm Tell
Übersetzung (Deutsch)
Übersetzung: Clemens Schlip (französischer Originaltext der Anmerkungen von David Amherdt)
Johannes Fabricius grüsst den erlauchtesten Herrn Konrad Pellikan. Als Du in den vergangenen Jahren, erlauchtester Mann, Dich Deiner Gesundheit zuliebe für einige Zeit auf eine Bäderreise begeben hattest und unsere Mitbürger darin wetteiferten, Dir mit kleinen Geschenken ihren Dank auszusprechen (einerseits, weil diese Freigiebigkeit unserem Volke angeboren ist, andererseits aber besonders deswegen, weil alle Dich in Ehren halten und dabei eine Aufmerksamkeit an den Tag legen, die einzig dasteht), gedachte auch ich, durch dieses mein Gedicht über Wilhelm Tell (wie durch ein kleines Geschenk) mir die Gunst Deiner Leutseligkeit zu gewinnen. Als ich aber neulich das von mir Geschriebene noch einmal las, schämte ich mich einigermassen für meine Ehrenbezeigung. Ich erkannte nämlich, dass es Dir, einem in Ehren stehenden und um mich in ausgezeichneter Weise verdienten Mann, nicht möglich gewesen sein kann, bei der Lektüre eines Gedichtes von so geringen Qualitäten Befriedigung zu finden. Weil aber Geschenke nicht immer nach ihrer Grösse und Kostspieligkeit, sondern mitunter auch nach dem guten Willen, der hinter ihnen steht, geschätzt werden müssen, habe ich auch diese Elegie mitsamt meinen übrigen Gedichten in den Druck gegeben. Man muss die kecke Forderung nach Freiheit für die Schweiz bewundern, aber es ist eine sehr verbreitete Geschichte und wird in allen Geschichten, die man in unserer Heimat erzählt, sehr gut belegt. Der Leser möge also mehr auf den Sachverhalt als auf die Worte blicken. Ich habe einen grossen Teil der Handlung nur angedeutet. Ich habe aber begabten jungen Männern einen Ansporn geben wollen, sei es meinen Schwägern, den Collinen, sei meinen anderen Schülern, die über alles überreichlich verfügen: ihr Lebensalter, freie Zeit und Lehrer. Als ich ein Knabe war, blieb mir vieles versagt. Dennoch habe ich im schon zweiten Jahr, als ich begonnen hatte, einen Teil meiner Zeit derartigen Studien zuzuwenden, unter anderem auch diese Elegie über Wilhelm Tell verfasst, obwohl ich noch im Schweiss und Staub des Schuldienstes mein Dasein fristete. Es ist also gar nicht verwunderlich, wenn ich damit weder mich noch andere zufriedenstelle. Das Gedicht war aber nun einmal so beschaffen, und ich habe es nicht verändern wollen. Damals war ich nämlich den leichteren Rhythmen zugetan und fand nur an der Gewandtheit Gefallen; auch wen ich in der Zwischenzeit von dieser Gewohnheit abgerückt bin, hätte ich das Gedicht entweder ganz neu gestalten müssen oder ich musste es ganz so lassen, wie es war. Wenn aber in der Fülle von Talenten, die es bei uns gibt, in der grossen Menge von gelehrten jungen Männern einige sich auch darum kümmerten und sich der Aufgabe unterzögen, über die Strapazen der Schweiz, besonders aber ihrer Heimat, zu schreiben, würde auch dieses Volk seine Fabier, Curier, Fabricier, Scaevoler, Cocliten und Scipionen haben. Wenn Du, ehrwürdiger Vater, nun meiner Bemühung mit Deiner Gunst behilflich bist, wirst Du dadurch den Mut vieler ausserordentlich befeuern und meine Versuche sehr befördern. Lebewohl, erlauchtester Mann, und liebe mich weiterhin, wie Du es bisher schon tust. Zürich, in meiner Schule, an den Kalenden des Märzes im Jahre nach Christi Geburt 1556 [= 1. März 1556].
| |
Rudolf, der durch seine Frömmigkeit berühmte Zögling der Schweiz, | |
Trug seinen Fürstennamen von Schloss Habsburg her, | |
Dessen alte Steine, die auf einem abschüssigen Steilhang liegen, | |
Auf Deine Ufer hinunterblicken, nahegelegene Aare. | |
Nachdem er aber als Kaiser sich der Zügel der Herrschaft bemächtigt hatte, | 5 |
Und es als Mann von bescheidener Herkunft sich verdient hatte, das Zepter in Händen zu halten, | |
Schämte er sich nicht, vor einem nachweisbaren Zeugen zu bekennen, | |
Dass er dies deinen Verdiensten verdanke, Stadt Zürich, | |
Mit deren strafendem Beistand er so oft Feinde aus seinem Gebiet vertrieben hatte, | |
Denen er selbst militärisch nicht gewachsen gewesen wäre; | 10 |
Und das er unter deinen Auspizien und mit deiner finanzieller Unterstützung seine Truppen geführt hatte, | |
Als er das ihm anvertraute Zepter seiner neuen Herrschaft in Besitz nahm. | |
Daher machte er dich reich, liess dir umfangreiche Ehrungen zuteilwerden | |
Und verlieh dir herrliche Feldzeichen. | |
Darüber hinaus schloss er mit den anderen Schweizern ein Bündnis, | 15 |
Weil er wusste, dass sie kriegseifrige Männer waren. | |
Er lobte oft ihre Treue und ihre unter schwierigen Umständen vollbrachten Taten, | |
Wenn eine schwere Angelegenheit mit dem Schwert erledigt werden musste. | |
Nachdem aber der Kaiser sich aus dieser Welt in das Himmelreich begeben hatte, | |
Verloren die Schweizern die Gunst, die sie früher genossen hatten, | 20 |
Und das Schweizervolk, das lange frei gewesen war, ertrug, ohne einen Rächer zu haben | |
Und durch Betrug unterworfen, ungerechte Männer. | |
Ihnen zahlte es Tribute und Abgaben | |
Und zollte ihnen Reichtümer ohne Ende. | |
Ja sogar ihre Leiber wurden den tyrannischen Herren hörig | 25 |
Und unterlagen der Last der Knechtschaft. | |
Und schon starb ein Bauer, der sein Feld mit dem gewohnten Ochsen pflügte | |
Und tränkte den Boden mit seinem eigenen Blut. | |
Oft starben Bürger mitten auf der Strasse als Opfer | |
Von Raubzügen und eine List des ungerechten Statthalters. | 30 |
Die bäuerliche Menge beklagte, dass man ihm das Vieh aus den Ställen trieb, | |
Ihre Häuser anzündete und ihm seine Laren raubte. | |
Ganz schweigen möchte ich von den durch Morde verunreinigten Penaten der Eheleute | |
Und dem hässlichen Verbrechen des Ehebruchs. | |
Wie oft wurde Mädchen gegen ihren Willen Gewalt angetan | 35 |
Und wie oft rief eine Jungfrau vergebens nach ihrer Mutter um Hilfe? | |
So war die Lage in der Schweiz: Diejenigen, denen diese Umstände harsch | |
Erschienen, denen Recht und Frömmigkeit am Herzen lagen, | |
Werden mit dem Tode oder mit Kerkerhaft bestraft; | |
Manche wurden verbannt. | 40 |
Aber wenn die menschliche Kraft, von Übeln gedrückt, schwach wird, | |
Dann pflegt Gottes Hilfe zur Stelle zu sein. | |
Aber wer wüsste nicht von den Freveltaten Grislers | |
(Denn er war der Vogt des Schweizerlandes)? | |
Er liess am Laub eines Baumes einen Hut aufhängen | 45 |
Und wollte, dass er vom vorübergehenden Volk verehrt würde. | |
Es geht die Rede, dass das Volk aus Furcht vor Strafe | |
An ihm schon oft mit einem Kniefall vorübergangen war. | |
Tell aber sagte: «Nur Gott gebührt Ehre; | |
Der Hut wird dazu gut sein, Regen abzuhalten.» | 50 |
Dem Vogt schwoll der Kamm, und er schwelgte ganz in der Vorstellung der Bestrafung: | |
«Der Preis für deine Treulosigkeit wird dein Sohn sein.» | |
Er hatte gesprochen. Bald führen die Knechte die Befehle des Tyrannen aus. | |
Welches Verbrechen: sie fürchteten sich nicht vor dem wahnwitzigen Verbrechen. | |
Der Sohn wird herbeigeführt, die zarten Arme hinter den Rücken | 55 |
Gebunden und dem Vater vor die Füsse gestellt. | |
Der Vogt sagt: «Du hast dir neulich in der ganzen Welt | |
Durch deine Bogenkunst einen denkwürdigen Namen gemacht, | |
Wie ich meine, trägst du Pfeile mit dir, die alles treffen | |
Und bohrst sie durch deine Kunst (wie auch immer sie beschaffen ist), in jedes Ziel. | 60 |
Ob das, was man allgemein verkündet, wahr ist | |
Und du das vermagst: Auf, nun kann man es erfahren. | |
Man wird deinen Sohn an den Stamm stellen, der dir gegenübersteht, | |
(Nicht weit weg stand ein Stamm auf der weichen Wiese), | |
Und man wird auf seinen Kopf einen Apfel legen, | 65 |
Den du mit deinem Pfeil geschickt treffen wirst.» | |
Tell stutzte über diesen Befehl nicht anders, | |
Als ob er sich selbst Gliedmassen abreissen müsste. | |
Und das war kein Wunder: Seinen Geist nahm der Gedanke an dieses Verbrechen in Beschlag, | |
Und seine väterliche Sorge wandte er seinem Sohn zu. | 70 |
Was sollte er tun? Er versucht, den gestrengen Tyrannen milde zu stimmen | |
Und bringt wenige Bittworte für seinen Sohn vor. | |
Der Vogt sprach dagegen: «So wirst Du Nichtsnutz bestraft werden, | |
Die übrige Menge wird von Deinem Beispiel lernen.» | |
Es gab keinen Aufschub, der Zielpunkt wird mit einer belaubten Zielmarke markiert, | 75 |
Und jedem der beiden wurde befohlen die Stätte zu betreten. | |
Er war im Begriff wegzugehen, davor aber gibt der Vater seinem kleinen | |
Sohn noch Küsse, und ihre Wangen wurden feucht von Tränen. | |
In einem Kreis, wie im Theater, drängen sich die Zuschauer: | |
Jeder Anwesende ist ihnen günstig gesonnen (wenn auch nur schweigend). | 80 |
Der Knabe steht da und nässt sein Gesicht mit ausgiebigem Weinen, | |
Die hart anliegenden Fesseln behindern seine zarten Hände | |
Doch der Vater holt, weil er dem Befehl gehorchen musste, | |
Aus seinem Köcher zwei Pfeile hervor. | |
Den einen versteckt er hinter seinem Rücken, in dessen Mitte; | 85 |
Er soll Dir, wilder Tyrann, den Tod bringen. | |
Den anderen richtet er schon auf sein Ziel, nachdem er die Sehne festgemacht hat: | |
Schon gab es für den Knaben keine Hoffnung mehr auf Rettung. | |
Es gab keinen Aufschub, der geflügelte Pfeil sucht seinen Weg | |
Mitten durch den Apfel: der Knabe aber erleidet keine Verletzung. | 90 |
Das Publikum zeigt sich ihm gewogen, von der Neuartigkeit dieser Sache bewegt, doch der Vogt | |
Legte die Blitze seines Zorns nicht beiseite. | |
«Ich werde herausfinden», sagte er, «was dieses zweite Geschoss | |
(Er hatte den Pfeil gesehen, der am Rücken befestigt war) zu bedeuten hat.» | |
«Wenn ich meinen Sohn getötet hätte », sagte Tell, | 95 |
«Wäre er für Deine Tötung bestimmt gewesen.» | |
Er hatte gesprochen, und was er gesagt hat, bleibt nicht ungestraft. | |
Er fühlt, wie man seine Hände in feste Bande legt. | |
Man bringt ihn auf ein Schiff, er soll in einem Kerker zugrundegehen; | |
Man musste über den bei Luzern gelegenen See fahren. | 100 |
Während man im Wechsel der Ruderschläge immer weiter vorankam, | |
Hatte das Schiff schon ungefähr die Mitte des reissenden Wassers erreicht. | |
Plötzlich erheben sich Winde und führen Regen herbei, | |
Und er reisst das Boot über die in Dunkelheit gehüllten Untiefen mit sich hinweg. | |
Und schon lässt der Seemann in seiner gewohnten Arbeit nach, | 105 |
Denn unter beiden Schultern sind ihre Arme erlahmt. | |
Der Vogt ist unschlüssig, was er befehlen oder fordern soll, | |
Denn auch er befand sich auf dem sich abmühenden Schiff. | |
«Wenn jemand da ist, der es vermag», ruft er, «soll er die Steuerung des Schiffs übernehmen.» | |
Aber Tell war der einzige, der dazu in der Lage war. | 110 |
«Man soll dir die Fesseln abnehmen», sagt er; «entreisse uns dem Tod, | |
Wenn es dir nicht gleichgültig ist, zusammen mit uns zu sterben.» | |
Nachdem man ihn wieder zum Herrn seiner selbst gemacht hat, geht er ans Steuerruder. Am nächsten Morgen | |
Begann der Himmel wieder ein anderes Gesicht zu zeigen. | |
Es gibt einen Felsen, die Wogen schlagen gegen seine Flanke: Der grösste Teil | 115 |
Von ihm ragt aus den Wassern. Dorthin bereitet Tell vor, zu gegen. | |
Sobald er dort angekommen war, sprang er; das Schiff selbst | |
Wird hin und her geworfen und über die ungeheure Wasserfläche getragen. | |
Es dauerte nicht lange, und der tapferste Held der Erde | |
Bleibt stehen, und was er nun tun soll, das lehren ihn Sachlage und Ort. | 120 |
Er ruft die zusammen, die es wagen wollen, dem Vaterland zu helfen, und deren | |
Gesinnung er zuvor als unzweifelhaft treu kennengelernt hatte. | |
Sie kommen zusammen, und machen zum Vertragsabschluss einen Handschlag mit der Rechten, | |
Sie gewähren und empfangen wechselseitig die Treue. | |
Später wurde auch der Vogt vom Hafen und seinem Haus in Empfang genommen, | 125 |
Und endlich starb er den Tod, den er zu sterben verdiente. | |
So hat Gott als Rächer am Ungerechten, so hat er als billiger Schiedsrichter | |
Die Schweizer Erde mit einer verdienten Tötung gesühnt. | |
So kehrte mit sanftem Gesicht die gute Eintracht zurück, | |
So wurden den einheimischen Männern ihre Zepter zurückgegeben, | 130 |
Die nun einmütig die Zügel der Angelegenheiten lenken | |
Und ihre Name ist allgemein bekannt, weil sie den Feind bezwungen haben. |
Das Collegium minus des Fraumünsters, an dem Montanus 1551 zum paedagogus ernannt worden war.
Zu den durchaus nicht immer exzellenten Beziehungen Rudolfs zu Zürich s. K. Dändliker, Geschichte der Stadt und des Kantons Zürich, Bd. 1, Vorgeschichte der Stadt und der Landschaft bis 1400, Zürich, Schulthess, 1908, 86-90. Montanus beharrt als guter Patriot auf den positiven Aspekten.
Zur ambivalenten Rolle Rudolfs in den Schweizer Gründungsmythen (vgl. V. 4-18) s. besonders P. Niederhäuser, «Rudolf I. (Heiliges Römisches Reich)», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 05.01.2012, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/029461/2012-01-05/.